Peter Finkelgruen wird 80.
Von Roland Kaufhold
„Der Gedanke, es nicht zu tun, überfällt mich immer wieder. Mich nicht darauf einzulassen. Mir zu sagen, damit hast du nichts zu tun. Mich zu verkriechen. Mein Wissen zu verbannen. Das Stück herauszuschneiden, in dem der Film – wie ein Mensch in auf einem alten Mann herumtrampelt – immer wieder abläuft. (…) Dachte er an seine Kinder? An Dora, die mit der zionistischen Jugend nach Palästina gegangen war?“ (Finkelgruen 1993, S. 44-47)
Peter Finkelgruen über seinen 1942 von Malloth ermordeten Großvater Martin Finkelgruen.
Die Beiträge sind auch als Buchveröffentlichung erhältlich.
Roland Kaufhold: „Mich erfüllte ein Gefühl von Stolz. Ich hatte es geschafft.“ Peter Finkelgruen: Ein halbes Jahrhundert Leben als Jude in Deutschland, BoD 2022, 244 S., Euro 12,99, Bestellen?
Am 9.3. wird der jüdische Schriftsteller und Journalist Peter Finkelgruen 80 Jahre alt. Vor zehn Jahren hatten wir schon einmal einen Themenschwerpunkt zu Finkelgruen erstellt (Kaufhold 2012a). Hierin findet sich auch eine umfangreiche biografische Studie über Finkelgruens verwirrende, nur schwer nachvollziehbare Familiengeschichte (Kaufhold (2012b).
In diesem neuen Themenschwerpunkt zu Peter Finkelgruen, anlässlich seines 80. Geburtstages, gehe ich mit einzelnen Lebens-Studien noch einmal weit zurück in die Geschichte: In die deutsche Geschichte wie auch in die Geschichte eines in Shanghai geborenen Juden: Peter Finkelgruen wuchs in Shanghai, Prag und Israel auf. Dann wurde er, familiär betrachtet, zum „Rückkehrer“: Mit 17 Jahren, 1959, war er mit seiner Großmutter Anna nach Deutschland „zurück“ gekehrt. Damit war Finkelgruen eine absolute Ausnahme.
Und ein Rückkehrer war Finkelgruen natürlich nicht: Er wurde am 9.3.1942 in Shanghai geboren. Deutschland war ihm ein absolut fremdes, angsteinflößendes, nazistisches Land. Es war ein Land, das seine in Bamberg aufgewachsene jüdische Familie ausgestoßen, zum Teil ermordet hatte. Deutschland war die Todesdrohung.
Finkelgruens am 25.5.1908 in Bamberg geborene Vater Hans Leo, ein Jurist und hoch gebildeter Sprachkünstler, hatte auf höchst abenteuerlichen Wegen in dem einzigen Ort der Welt Zuflucht gefunden, in den Juden Ende der 1930er Jahre noch fliehen konnten: In Shanghai. Kurz danach holte er seine Frau Esti nach.
Die Fluchtstationen der Familie Finkelgruen
„Jeder floh in eine andere Richtung. Jeder floh zu dem Zeitpunkt, den er für richtig hielt. Die Flucht meines Vaters hatte sehr früh begonnen“.
Peter Finkelgruen (1992) in Haus Deutschland.
Peter Finkelgruens am 5. Mai 1876 in Berlin geborener Großvater Martin Finkelgrün betrieb bis 1935 in Bamberg das Textilwarengeschäft „S. Levy & Co.“ Nach der Zwangsversteigerung seines Geschäfts zog der Kaufmann von Bamberg nach Berlin. Sein am 25. Mai 1908 in Bamberg geborener Sohn Hans Leo lebte im September 1937 in Bamberg, am 3. Oktober 1937 in Berlin, am 14. August 1938 in Piešťany (Slowakei) und ab dem 22. September 1938 in Prag. Im Juni 1938 hatte sich Hans „illegal“ in Paris aufgehalten, in seinem Pass finden sich keine Einreisestempel. Er suchte verzweifelt nach Fluchtmöglichkeiten. Dabei wurde er von einem Nazi-Spitzel denunziert: Am 11. Juni 1938 wurde in der Konsularabteilung der deutschen Botschaft in Paris ein Bericht über den jüdischen Flüchtling Hans Finkelgrün verfasst: Dieser habe in Paris „Emigranten- und deutschfeindliche Zeitungen“ gelesen und Deutschland bereits verlassen. Er wolle eine Arierin aus Bamberg heiraten.
Im September 1938 war Hans jüngere, am 20. August 1913 geborene Schwester Dora Fanny Finkelgrün nach Abschluss ihrer Hachschara auf der Löhnberger Hütte (Hessen) mit ihrem späteren Ehemann Gerhard Schaal nach Palästina emigriert.[1] Doras Vater Martin sah diesen Entschluss anfangs mit Skepsis.
Ab September 1938 leben Hans und Esti in Prag. Ihr gemeinsamer jüdischer Jugendfreund Herbert Ashe flüchtet im selben Jahr von Bamberg nach New York. Über ein Jahrzehnt lang war Ashe der nahezu einzige Briefkontakt von Hans und Esti in die Welt, insbesondere während ihres Überlebenskampfes in Shanghai. Ashe unterstützte Hans und Esti regelmäßig moralisch durch Briefe, aber auch mit Medikamenten, Geld und Lebensmitteln. Sein Versuch, mit ihrem winzigen Laden in Shanghai von den USA aus in eine Geschäftsbeziehung zu treten, misslang.
Am 3. Oktober 1938 verkündete Hitler, dass die Tschechoslowakei nicht mehr als eigenständiger Staat existiere. Ende 1938 oder Anfang 1939 flohen Martin Finkelgrün und Anna Bartl von Karlsbad nach Prag.
Am 27. Februar 1939 heiratete der Jurist Hans Esti in Prag. Die Chancen einer gemeinsamen Ausreise wurden hierdurch erhöht. Auf der vom Berliner Standesamt beglaubigten Heiratsurkunde prangte ein mit Hakenkreuz verzierter Stempel. Nach dem „Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre“ war der „Arierin“ Esti – Ernestine Marie Bartl (geb. 1. Juli 1913 in Karwin) –, die eine tschechoslowakische Staatsangehörigkeit besaß, eigentlich die Heirat mit einem Juden untersagt. Der Jurist Hans Finkelgrün erkannte die Gesetzeslücke: Wegen Estis Passes galt das Nazi-Ariergesetz für sie nicht.
Am 15. März 1939 marschierten die Deutschen in Prag ein.
Nach der Besetzung Prags im März 1939 suchten auch Hans und Esti verzweifelt nach Fluchtwegen aus Prag. Hans entwickelte immer neue Fluchtpläne. Als alle Fluchtpläne in Richtung Westen scheiterten, hörte er von einem Zufluchtsort im Osten: Shanghai. Die letzte Chance, der Ermordung zu entgehen. Hans beschloss, sich von Prag aus über Moskau und Tokyo nach Shanghai durchzuschlagen. Den gefährlichen Fluchtweg wollte er allein unternehmen. Nach seiner Ankunft in Shanghai wollte er Esti nachholen.
Am 18. Februar 1940 verließ Hans Prag, am 6. März war er in Moskau, am 24. April in Tokyo, am 21. Mai 1940 erreichte er Shanghai. Ein halbes Jahr später, am 27. November 1940, gelang auch Esti die Flucht nach Shanghai. Die Hoffnung auf eine Zukunft in Shanghai ist in den Briefen von Esti und Hans Finkelgrün anfangs noch deutlich zu spüren: Sie wollten, wie bereits im Prager Exil, erneut einen kleinen Laden mit Textilwaren aufbauen. Eine Hoffnung, die sich gründlich zerschlug: Der Sohn Peter wurde am 9. März 1942 geboren – im Shanghaier Ghetto. Entsprechend düster klingen Hans Finkelgrüns Briefe in seinen letzten Lebensmonaten. Es war ihm nicht mehr möglich, sich angesichts der neuen Situation nochmals zu behaupten: Hans wurde krank. Am 29. Juli 1943, verstarb Hans Leo Finkelgrün nach einer Magen-Operation in Shanghai.
Prag: Drei Jahre lang hatte die am 5. September 1891 in Rosenau bei Kronstadt geborene Nicht-Jüdin Anna Bartl ihren jüdischen Lebensgefährten Martin nach der Besetzung Prags vor den Deutschen versteckt, bis beide denunziert und im Dezember 1942 festgenommen wurden. Martin Finkelgrün wurde am 10. Dezember 1942 in der Kleinen Festung Theresienstadt von Anton Malloth totgetreten. Anna überlebte drei Konzentrationslager und einen Todesmarsch. Sie kehrte 1945 nach Prag zurück. Mit einem Brief vom 25. Mai 1946 gelang es ihr, Kontakt zu ihrer Tochter Esti in Shanghai herzustellen.[2] Hätte dieser Brief Esti nicht erreicht, wäre die Familie nicht wieder zusammen gekommen. Esti wäre mit ihrem vierjährigen Sohn Peter zu Herbert Brahm – den sie am 21. September 1946 in Shanghai geheiratet hatte – nach Peru gereist.
1946: Prag, Israel und Deutschland
Ende 1946 kehrte die schwer kranke Esti mit dem vierjährigen Peter in das nun kommunistische Prag zurück, um wieder mit der durch die KZ-Haft schwer geschädigten Anna zusammenzuleben. Peter sprach chinesisch und deutsch, wohl auch schon etwas englisch. Bei seiner Ankunft in Prag lernte der Vierjährige sehr rasch die wichtigste Überlebensregel: „Du darfst hier nicht deutsch sprechen. Nur zu Hause, bei Großmutter in der Wohnung, wenn wir alleine sind. Dann ja. Draußen, vor anderen Leuten, darfst du nie zeigen, daß du Deutsch kannst. Denk daran.“ (Finkelgruen 1992, S. 106)
Am 1. Juni 1950 verstarb Esti nach langer Krankheit in Prag. Peter Finkelgruen hatte seine Mutter zuletzt nur noch in Spitälern besuchen können.
1959, nach einigen schwierigen Jahren in Israel und dem Abitur in Haifa, hatte Peter Finkelgruen nur einen Wunsch: Er wollte studieren. In Israel war ihm dies finanziell nicht möglich, doch er wusste, dass er von Deutschland Anspruch auf „Wiedergutmachung“ hatte. Am liebsten hätte er in England studiert, doch seine betagte Großmutter Anna war seine einzige Bezugsperson, konnte in Israel kaum Fuß fassen und sprach kein Englisch.
So landete Peter Finkelgruen, vor allem aus Rücksichtnahme auf die KZ-Überlebenden Anna, wieder an einem fremden Ort: in dem ihm völlig unbekannten Deutschland. Im Herbst 1959 stiegen die beiden am Freiburger Bahnhof aus und suchten sich ein Zimmer.
Zu den Studien dieses Finkelgruen-Schwerpunktes
Der Beitrag „Peter Finkelgruens Neuanfang in Freiburg (1959): Mussolinis „alles beherrschende Kraft““ handelt von Finkelgruens ersten zwei Jahren in Deutschland: Eine ältere Frau bot ihm und seiner Großmutter Anna in Freiburg ein Zimmer zur Untermiete an. Louise Diel stellte sich als die engste deutsche Vertraute des italienischen Faschisten Mussolini heraus. Sie hatte auf deutsch zahlreiche hymnische Schriften auf den italienischen Diktator verfasst und wurde von diesem privat empfangen. Der Beitrag wirft auch ein Licht auf die fragwürdige „Liebe“ vieler Deutscher zu Juden, auf die tödliche Ambivalenz, auf Philosemitismus und Antisemitismus bei den Deutschen.
Ein weiterer Beitrag – „Versuchte Gefangenenbefreiung und Unterstützung einer kriminellen Vereinigung“. Irmtrud und Peter Finkelgruen, die RAF, Prof. Ulrich Klug und FDP-Partei“freunde“ (1971 – 1974) geht zurück in die Zeit des in den 1970er Jahren noch in der FDP angesiedelten Linksliberalismus. Finkelgruen war gemeinsam mit seiner damaligen Ehefrau Irmtrud Finkelgruen – eine spätere Richterin – 1968 in die Kölner FDP eingetreten, wie zahlreiche weitere, von der Apo-Atmosphäre inspirierte Linksliberale. Die kleine, insbesondere in NRW von „ehemaligen“ Nationalsozialisten „unterwanderte“ und geprägte Partei (Ernst Achenbach, Erich Mende, der „Naumann-Kreis mit Naumann, Werner Best, Franz Alfred Six), von denen viele unmittelbar an NS-Massenmorden beteiligt waren, verstand sich zuvörderst als Interessenvertreter für von der Justiz bedrohten NS-Täter.
In Köln waren Finkelgruens Freunde Gerhart Baum, Ulrich Klug und Michael Kleff – der wenige Jahre später zu den Mitbegründern des Liberalen Zentrums Köln (LZ) gehörte – die prominentesten Vertreter des Linksliberalen Flügels der FDP. Finkelgruen gehörte von 1968 – 1976 der FDP an, kandidierte 1970 sogar einmal in Köln für den Landtag
Irmtrud Finkelgruen war Kölner Vorsitzende der Deutschen Jungdemokraten (DJD) und mit Finkelgruen Mitglied der Kölner FDP. Der renommierte linksliberale Jura-Hochschullehrer und Staatssekretär Ulrich Klug gehörte zu ihrem Kölner Freundeskreis. 1971 kam er zu einer selbst heute noch ungeheuerlich anmutenden Intrige und Rufmordkampagne des „rechten“ Flügels der FDP, gemeinsam mit der konservativen, katholischen Tageszeitung „Rheinische Post“ die Jurastudentin Irmtrud Finkelgruen öffentlich als Unterstützerin der RAF zu diffamieren. Ihr eigentliches politisches Angriffsziel war vor allem der Linksliberale Prof. Ulrich Klug. Diesen wollten sie vernichten, über einen Angriff gegen die linksliberale Studentin und junge Mutter Finkelgruen. Offenkundig wurde sogar versucht, einen Staatsschutzspitzel in das direkte Umfeld der Finkelgruens einzuschmuggeln.
1976: Siebengebirgsallee, RAF-Sympathisanten:
Diesem Thema zugehörig ist eine erzählende Studie, die sich sieben Jahre später, 1978, ereignete, in der Hochzeit des linken deutschen Terrorismus: Finkelgruens damalige Wohnung in der idyllischen, wohlhabend-bürgerlichen Köln-Klettenberger Siebengebirgsallee 77, wo er seit Mitte der 1970er Jahre mit Gertrud Seehaus-Finkelgruen und deren jugendlichen Tochter lebte, wurde von einem Spezialkommando der Polizei mit Maschinengewehren durchsucht.
Es war die Zeit der Schleyer-Entführung, im Nachhinein als „bleierne Zeit“ (Margarete von Trotta) erinnert. Im September 1977 war Hans-Martin Schleyer in Köln entführten worden, am 18.10.1977 wurde Schleyer von RAF-Terroristen ermordeten. Juristisch ist der Mord bis heute nicht eindeutig geklärt.
Zugleich war Hans-Martin Schleyer als ranghoher Industrieller und SS-Hauptstammführer im von den deutschen Nationalsozialisten besetzten Prag tätig und maßgeblich an der „Arisierung“ der Juden in der Tschechoslowakei beteiligt. Für Finkelgruen war er so erinnernd unmittelbar mit seiner eigenen Prager Familien-Verfolgungsgeschichte verbunden. Der Jude Peter Finkelgruen wurde Mitte der 1970er Jahre offenkundig verdächtigt, einer RAF-Terroristin Unterschlupf zu bieten – bzw. er wurde von einem lieben Köln-Klettenberger Nachbarn gezielt denunziert. Dies wird in dem Beitrag Terrorfahndung: Köln, Herbst 1977. Der verdächtige Jude und die junge blonde Frau. Eine persönliche Erinnerung an den „Deutschen Herbst“ nacherzählt – ein spannendes Stück deutscher Zeitgeschichte.
Ralph Giordanos „Ochsenfrosch“
Ein weiterer Beitrag handelt von Finkelgruens enger Freundschaft mit seinem 19 Jahre älteren Kölner Weggefährten und Exil-Pen-Kollegen Ralph Giordano, (Finkelgruen, 2013). Der streitbare jüdische Publizist Giordano war häufig sehr solidarische. Seine Prominenz und seinen Ruf als Aufklärer des Nationalsozialismus (Kaufhold 2013b) setzte er auch dafür ein, seinen Kölner Freund sehr konkret zu unterstützen. Finkelgruens verzweifelter, ihn weit über die Grenzen der seelische Belastungsfähigkeit bringendes juristisches und schreibendes Bemühen, den NS-Täter Malloth zur juristisch zur Verantwortung zu ziehen, empörten Giordano angesichts der erkennbaren Passivität und Einfühlungsverweigerung der zuständigen Dortmunder Justiz. Giordano rezensierte 1993 Finkelgruens erstes, von dem Malloth-Prozess geprägtes autobiografische Buch – Haus Deutschland – in der Frankfurter Rundschau. Giordano schmähte den für NS-Prozesse zuständigen Dortmunder Oberstaatsanwalt gezielt mit der Titulierung „emotionsloser Ochsenfrosch“. Diese aufschlussreiche Geschichte wird in dem Beitrag „Der emotionslose Ochsenfrosch, dem die Untat ins Gesicht geschrieben steht“ (Ralph Giordano) erinnert. Grundlage hierfür ist sowohl die damalige Tagespresse als auch Finkelgruens Privatarchiv.[4] Komplettiert wird dieser Themenkomplex zu den NS-Prozessen – an dem Gertrud Seehaus und Finkelgruen bereits 1979/80 beim „Lischka-Prozess“ beteiligt waren (Kaufhold 2013a) – durch einen weiteren einführenden Beitrag von Kaufhold sowie durch zwei Texten von Gertrud Seehaus (2013): Neun mutig gelebte Jahrzehnte sowie von Peter Finkelgruen: Der Ochsenfrosch. Diese hatten sie Giordano 2013 zu dessen 90. Geburtstag gewidmet (Finkelgruen 2013).
Nazi-Tochter Burwitz: Himmlers Erbin
Ob Finkelgruen es wollte oder nicht: Immer wieder kam er, direkt oder indirekt, in Kontakt mit „berühmten“ Nazis. Eine davon war die 1929 geborene, 2018 verstorbene Gudrun Burwitz, geborene Himmler (Kaufhold 2018). Diese unverbesserliche Himmler-Tochter war über Jahrzehnte das Aushängeschild der Nazigruppierung „Stille Hilfe“. Diese unterstützte mit einer großen Anzahl sehr rechter Rechtsanwälte zahlreiche von der Justiz verfolgte oder wegen einschlägiger NS-Delikte in Haft sitzende Rechtsradikale – darunter auch Malloth, den Mörder von Finkelgruens Großvater. Dies wird in dem Beitrag Himmlers Tochter oder: Die „Stille Hilfe“ für den Mörder in der Pullacher Seniorenresidenz entfaltet.
Zwölf Jahre Malloth-Prozess
Es folgt eine sehr umfangreiche Studie, in der Finkelgruens Prozess gegen Malloth im Detail rekonstruiert wird – anhand von Pressebeiträgen sowie anhand von Finkelgruens Privatmaterialien: „Der Mörder, der offenbar einen Schutzengel hat“
Briefkorrespondenzen
Abgeschlossen wird der Themenschwerpunkt durch einen umfangreichen Beitrag über die Korrespondenz von Finkelgruens Familie während ihres Exils in Prag, Shanghai, Prag und Israel. Hierin eingeflochten ist der Briefwechsel der einzigen noch verbliebenen drei Bezugspartner, die Finkelgruens Eltern bei ihrer jahrelangen Flucht vor den Nationalsozialisten noch blieben.
Späte Ehrungen
Nachzutragen bleibt dass Finkelgruen nun doch, in den letzten Jahren, mehrfach geehrt wurde: In Deutschland erhielt er 2020 vom LVR den Rheinlandtaler, dieser wurde ihm von Jürgen Wilhelm überreicht, verbunden mit einer Laudatio von Elfi Scho-Antwerpes.
Wilhelm hob in seiner Laudatio hervor: „Sie waren der erste Journalist, der von Köln aus ab Ende der 1970er Jahre über die Biografien mehrerer Edelweißpiraten publizierte, unter anderem in der Frankfurter Rundschau und in der Zeitschrift „Freie jüdische Stimme“, die Sie gemeinsam mit Henryk Broder herausgaben (Kaufhold 2019). Sie waren einer der Ersten, der mit ehemaligen Edelweißpiraten sprach und sie zum Sprechen ermutigte. Und diese Ermutigung war nötig, denn dieser jugendliche Widerstand in der NS-Zeit wurde von Behörden und politischen Parteien noch bis in die siebziger Jahre kriminalisiert.“ In seiner Rede hob Finkelgruen, auf die Einweihung eines Gedenkbaumes und Gedenksteines unweit seiner Wohnung in Köln-Sülz Bezug nehmend hervor: „Als der Gedenkbaum für meinen Großvater gepflanzt wurde hatte ich das Bewusstsein, dass ich mich in einer Stadt befinde, in der ich sicher bin“, benannte er Gründe für seinen Optimismus. „In Sülz-Klettenberg, wo ich wohne, habe ich immer noch ein sicheres Gefühl.“
Und im Mai 2021 wurde ihm von der Kölner Oberbürgermeisterin Henriette Reker das Bundesverdienstkreuz verliehen – was er mit Ambivalenzen, aber dennoch mit Freude annahm. Hierdurch sollten vor allem seine Lebensleistung zur Aufklärung von Naziverbrechen gewürdigt werden.
In Israel wurde er vom sehr traditionsreichen JNF-KKL durch die Einweihung eines „Martin und Peter Finkelgruen Wanderweges“ geehrt. Dieser Wanderweg befindet sich in Nordisrael, in der Nähe des Wohnortes, in der er seine Jugend verbrachte – die prägendsten Jahre seines Lebens.
Hinweis
Peter Finkelgruens Privatarchiv ist archiviert bei der Stiftung Rheinisch-Westfälisches Wirtschaftsarchiv zu Köln (RWWA), Vorlass Peter Finkelgruen, Köln, RWWA 570-16-1.
–> Peter Finkelgruens Neuanfang in Freiburg (1959): Mussolinis „alles beherrschende Kraft“
–> „Versuchte Gefangenenbefreiung und Unterstützung einer kriminellen Vereinigung“. Irmtrud und Peter Finkelgruen, die RAF, Prof. Ulrich Klug und FDP-Partei“freunde“ (1971 – 1974)
–> Terrorfahndung: Köln, Herbst 1977. Der verdächtige Jude und die junge blonde Frau
–> „Der emotionslose Ochsenfrosch, dem die Untat ins Gesicht geschrieben steht“
–> Himmlers Tochter oder: Die „Stille Hilfe“ für den Mörder in der Pullacher Seniorenresidenz
–> „Der Mörder, der offenbar einen Schutzengel hat“
–> Die Korrespondenz von Familie Finkelgruen
–> Der Ochsenfrosch – Für Ralph Giordano
–> Getrud Seehaus: Neun mutig gelebte Jahrzehnte
Die Beiträge sind auch als Buchveröffentlichung erhältlich.
Roland Kaufhold: „Mich erfüllte ein Gefühl von Stolz. Ich hatte es geschafft.“ Peter Finkelgruen: Ein halbes Jahrhundert Leben als Jude in Deutschland, BoD 2022, 244 S., Euro 12,99, Bestellen?
Literatur
Finkelgruen, P. (1982): Haus Deutschland. Die Geschichte eines ungesühnten Mordes. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt.
Finkelgruen, P. (1989): Erlkönigs Reich. Die Geschichte einer Täuschung. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt.
Finkelgruen, P. & G. Seehaus (2007): Opa und Oma hatten kein Fahrrad. Books on Demand, Norderstedt 2007.
Finkelgruen, P. (Hg.) (2013): Jubeljung begeisterungsfähig. Zum 90. Geburtstag von Ralph Giordano, Books on Demand, Norderstedt. http://buecher.hagalil.com/2013/04/giordano/
Finkelgruen, P. (2020): „Soweit er Jude war…“ Moritat von der Bewältigung des Widerstandes. Die Edelweißpiraten als Vierte Front in Köln. Herausgeber: Roland Kaufhold, Andrea Livnat und Nadine Engelhart. Books on Demand. Norderstedt 2020. https://www.bod.de/buchshop/soweit-er-jude-war-peter-finkelgruen-9783751907415
Kaufhold, R. (2012a): Shanghai, Prag, Israel und Köln. Seit 50 Jahren lebt der deutsch-jüdische Journalist und Schriftsteller Peter Finkelgruen in Köln – am 9. März feiert er seinen 70. Geburtstag, haGalil: https://www.hagalil.com/2012/03/finkelgruen-11/
Kaufhold, R. (2012b): Keine Heimat. Nirgends. Von Shanghai über Prag und Israel nach Köln – Peter Finkelgruen wird 70, haGalil: https://www.hagalil.com/2012/03/finkelgruen-7/
Kaufhold, R. (2013a): Im KZ-Drillich vor Gericht. Ein Sammelband beschreibt, wie Serge und Beate Klarsfeld Schoa-Täter aufspürten und der Gerechtigkeit zuführten, in: Jüdische Allgemeine, 1.7.2013.
Kaufhold, R. (2013b): Unermüdlich streitbar: Filmemacher, Romancier, Essayist und Mahner: Ralph Giordano wird 90, Jüdische Allgemeine, 20.3.2013 https://www.juedische-allgemeine.de/politik/unermuedlich-streitbar/
Kaufhold, R. (2018): Nazi-Ikone aus familiärer Tradition: Himmler-Tochter Gudrun stirbt mit 88, Belltower, 3.7.2018: https://www.belltower.news/nazi-ikone-aus-familiaerer-tradition-himmler-tochter-gudrun-stirbt-mit-88-48478/
Kaufhold, R. (2019): Eine jüdische Apo. Vor 40 Jahren gründeten Henryk M. Broder und Peter Finkelgruen in Köln die »Freie Jüdische Stimme«, Jüdische Allgemeine, 4.7.2019: https://www.juedische-allgemeine.de/kultur/eine-juedische-apo/
Kaufhold, R. (2020a): Die „Kölner Kontroverse“? Bücher über die Edelweißpiraten. Eine Chronologie. In Finkelgruen (2020), S. 217-342.
Kaufhold, R. (2020b): Beinahe wäre er Peruaner geworden. Der Weltbürger Peter Finkelgruen und ein Hain zu seinen Ehren, JNF-KKL-Magazin Herbst 2020, Nr. 45, S. 14f. https://www.jnf-kkl.de/wp-content/uploads/NEULAND-46-JNF-KKL-Magazin-Herbst-2020.pdf
Schubert, D. (1997): Unterwegs als sicherer Ort. Dokumentarfilm, Deutschland, 1997.
Filmportraits über Finkelgruen
https://www.youtube.com/watch?v=WlJxI08mpgw
https://www.youtube.com/watch?v=I0ogI0PplOI
https://www.youtube.com/watch?v=yulCewO1CmE
[1] Über dieses Fluchtkapitel und die Löhnberger Hütte werden Markus Streb und Kaufhold demnächst eine eigenständige Einzelfallstudie veröffentlichen. Siehe auch: Markus Streb: Ein Kibbuz im Lahntal – Die Hachschara-Stätte „Löhnberger Hütte“ 1936-1938. GCJZ Limburg Rundbrief 2/2020, S. 25-30: http://cjz-limburg.de/PDF/Rundbrief_2_2020.pdf
[2] Siehe im Detail im haGalil-Themenschwerpunkt Finkelgruen: Roland Kaufhold (2022): Überlebensversuche in Prag und Shanghai. Zu der Briefkorrespondenz von Hans und Esti Finkelgruen mit Dora Finkelgruen/Schaal, Anna Bartl, Herbert Ashe (USA), Tilly Cohn (Zürich), Kurt Brahm (Shanghai), einer Berliner Jüdin (Shanghai) und Herbert Eschwege (USA).
[3] Anna Bartl, das sie hier nur angedeutet aber nicht weiter dargestellt, hatte noch einen Sohn, was sie Peter Finkelgruen bis kurz vor ihrem Tode 1968 in Lugano verheimlichte. (vgl. Finkelgruen 1999, S. 137-176)
[4] Peter Finkelgruens Privatarchiv ist archiviert bei der Stiftung Rheinisch-Westfälisches Wirtschaftsarchiv zu Köln (RWWA), Vorlass Peter Finkelgruen, Köln, RWWA 570-16-1.
Sehr bewegend.
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