Geschichtenerzählen – ein Schatz zum Entdecken und Teilen
Von Moira Thiele
You may have tangible wealth untold
Caskets of jewels and coffers of gold
Richer than I you can never be
I have someone who told stories to me.
Du magst vielleicht ein Krösus sein
nennst Gold und Edelsteine dein –
keiner ist reicher als ich auf der Welt,
denn mir hat jemand Geschichten erzählt!
Jeder, der schon einmal eine spannende, berührende, kluge Geschichte gehört oder selber erzählt hat, kann es bestätigen: Geschichtenerzählen kann wie Schätze entdecken sein.
Nun kann man auf Schätzen hocken bleiben wie der Drache aus den Volksmärchen, der Jungfrauen und Goldschätze hortet, obwohl er, wenn wir ehrlich sind, mit keinem davon wirklich etwas anfangen kann. Deshalb kommt wohl immer ein strahlender Held und erleichtert den Drachen von beidem, um den Schatz unter die Leute zu bringen und etwas davon zu haben.
Storytelling Live und in Farbe
Wo findet man Geschichten? In Büchern und im Leben vor allem, und in unserer Zeit in allen Medien: Film, Fernsehen, Videospiele – überall wird in vielen Variationen die gute alte Heldenreise erzählt.
Doch im Anfang war das Wort, wie es die Bibel so schlicht und machtvoll sagt. Immer wurden Geschichten von Mund zu Mund überliefert, bevor sie schließlich nach der Erfindung der Schrift festgehalten wurden. Warum aber bei diesem reichen Spielfeld zeitgemäßer Medien auf das traditionelle mündliche Erzählen zurückkommen? Der preisgekrönte kanadisch-jüdische Erzähler Dan Yashinsky bringt es wunderbar auf den Punkt:
Der Unterschied
In Afrika lebte ein Stamm in der abgelegenen Savanne noch wie zur Zeit ihrer Vorfahren. Alle Arbeit wurde ganz ohne Strom nur von Hand erledigt, und abends kam das ganze Dorf zusammen und lauschte dem Geschichtenerzähler. Ein Anthropologe erfuhr davon und machte sich auf die Reise zu dem fernen Dorf, um die altertümliche Lebensweise zu studieren. Doch kurz darauf beschloss die Regierung des Landes, das Dorf zu elektrifizieren, um allen das Leben zu erleichtern. Der Anthropologe war Zeuge, wie der erste Fernseher ankam. Wochenlang schauten die Dorfbewohner non-stop TV.
Doch dann kam einer nach dem andern zu dem alten Geschichtenerzähler am Lagerfeuer zurück. Vor dem Fernseher saß keiner mehr, außer dem Anthropologen. Irritiert erinnerte er sie daran, dass das Fernsehen doch so viel mehr Geschichten zu erzählen hatte als der alte Mann. „Das stimmt schon“, erwiderte einer, „das TV-Ding kennt mehr Geschichten – aber der Geschichtenerzähler kennt mich.“
Wer es erlebt hat, weiß es: das freie mündliche Erzählen ist die lebendigste und persönlichste Art, eine Geschichte mit andern zu teilen, und dabei sind die Zuhörer genauso wichtig wie der Erzähler, denn nur mit ihnen zusammen entstehen die Bilder und Gefühle, die uns das Geschehen wirklich erleben lassen: Gefahr und Rettung, Schwache, die zu Helden werden, ärmliche Hütten und Paläste inmitten von Gärten; Wüsten, Meere und Wälder, all dies taucht vor dem inneren Auge auf und beginnt ein eigenes Leben.
Wunder zum Weitergeben
Aber haben die alten, überlieferten Geschichten denn noch Bedeutung für uns? Auf diese Frage antwortet man am besten – mit einer Geschichte! Sie berichtet vom Baal Shem tov, dem großen, weisen, Wunder wirkenden Rabbi der Chassidim.
Wenn dem jüdischen Volk Unheil drohte, ging der Baal Shem an einen bestimmten Ort im Wald, um mit Gott allein zu sein. Dort entzündete er mit eigens gesammelten, duftenden Holz ein heiliges Feuer und sprach ein ganz besonderes Gebet. Und das Wunder geschah: das Unheil wurde abgewendet.
Später, als sein Schüler, der berühmte Maggid von Mesritsch, seinen Leuten in der Not helfen wollte, ging er zu derselben Waldlichtung; er wusste zwar nicht, wie er das heilige Feuer entzünden sollte, aber er kannte das besondere Gebet.
Und das Wunder geschah aufs Neue: das Unheil ging am Volk vorbei.
Viele Jahre später wollte ein Schüler des Maggid die Juden vor der drohenden Gefahr schützen, als sie erneut verfolgt wurden. Auch er ging an den Ort im Wald und sagte:
„Herr, ich weiß nicht, wie das Feuer angezündet wird, und das besondere Gebet kenne ich auch nicht. Aber ich erinnere mich noch an diese Stelle, und das muss genügen!“
Und es genügte. Sie wurden gerettet.
Viele Jahrzehnte später wollte der Urenkel des großen Maggid Unglück von seinem Volk abwenden. Doch der Rabbi war alt, seine Beine gelähmt; er saß in seinem Haus, breitete die Arme aus und sprach zu Gott: „Herr, ich kann das Feuer nicht anzünden und das Gebet kenne ich nicht; ich kann nicht einmal den Ort im Wald finden. Ich kann nur die Geschichte davon erzählen, und das muss genügen.“
Und es genügte.
Warum genügte es? Weil nichts wirklich verlorenging: der verborgene Ort liegt in unseren Gedanken, das magische Feuer wird in unseren Herzen gehütet, und wenn wir die Geschichte erzählen, wird die Flamme weitergereicht, und die Botschaft wird gehört.
Geschichten bewahren das Wesentliche, wie sehr sich auch mit den Zeiten das Wissen und die Wahrnehmung ändern. Martin Buber sagt über die Erzählung: „Die Essenz lebt in ihr fort, das Wunder wird von Neuem mächtig.“
Oder wie es im Sprichwort heißt:
„Der kürzeste Weg von der Wahrheit zum Herzen eines Menschen ist eine Geschichte.“
Jüdische Erzähltradition
Was unterscheidet die jüdischen Geschichten von den andern? Denn die Motive und Handlungsmuster aller traditionellen Geschichten der Welt ähneln einander, sie sind ja unser gemeinsames Erbe – das Besondere im Judentum ist vor allem in der starken Kontinuität zu finden, da jüdische Märchen und Legenden meist eng den Themen und Werten von Tanach, Midrasch und Talmud verbunden sind und diese variieren, erweitern und volkstümlich machen.
So gibt die mündliche Tradition von Geschichten und Märchen die jüdische Historie, Tradition, Religion und Ethik über Jahrtausende hinweg von Generation zu Generation weiter.
„Das sagt viel aus übers Judentum“, bemerkt die Grand Old Lady der jüdischen Erzählkunst, Peninnah Schram, „Geschichtenerzählen ist Teil der jüdischen DNA.“
In der ostjüdischen Welt der vergangenen Jahrhunderte ist der „Maggid“ nicht nur ein Wanderprediger, sondern auch ein Geschichtenerzähler, dessen Erzählkunst die Weisheit der Tora in das phantasievolle Gewand der Gleichnisse, Fabeln und Märchen kleidet.
„Agadah“ ist das Wort für Märchen und Erzählung, und viel wäre zu schreiben von ihren Ursprüngen und Quellen, den Unterschieden zwischen sephardisch-orientalischer und europäisch-ashkenasischer Tradition – eine weites Feld, das viele Bände füllt; hier sollen nur ein paar der wichtigsten Namen von Sammlungen und Autoren genannt sein.
Die Spanne ihrer Themen reichen von uralten Schöpfungsmärchen über die zahlreichen Legenden aus Jahrtausenden jüdischer Geschichte bis in die Gegenwart des Staates Israel.
Die Stoffe der mündlichen Erzählkunst fließen schließlich auch in die reiche jüdische Literatur ein, vom Maasse-Buch (Märchen/Geschichtenbuch) von 1602 über die von Chaim Nachman Bialik gesammelten Sagen des Talmuds und der Midraschim bis hin zum jiddischsprachigen Literaturnobelpreisträger Isaac Bashevis Singer, der oft auf traditionelle Motive und Geschichten aus dem Shtetl zurückgreift wie die der Narren von Chelm, die sich für die Weisesten halten.
Im 19. und 20. Jahrhundert waren also aus den frommen und lehrhaften Geschichten der Prediger und den mystischen Erzählungen der Chassidim bereits kleine literarische Kunstwerke geworden. Gleichzeitig war aber auch das Bewusstsein für das Erbe der Volkskunst erwacht, wie bei Immanuel Olswanger, der uns mit dem immer wieder neu aufgelegten Buch „Rosinkess mit Mandlen“ ein Füllhorn von geistreichen und witzigen Geschichten auf Jiddisch hinterlassen hat, eine „unvergleichliche, jiddisch transkribierte Anekdotensammlung“ (Friedrich Torberg).
Jüdische Geschichtenerzähler aus aller Welt und ihre Lieblingsgeschichten
Meist werden die Anthologien nach Gattungen oder Themen gegliedert – bei unserer kleinen Sammlung wollen wir ein wenig anders vorgehen. Auch sie enthält einen Geschichtenschatz, doch sie stellt ihn aus der Sicht der Schatzsucher vor: jüdische Erzähler aus aller Welt teilen ihre Lieblingsstücke mit Ihnen, werden im Kurzporträt vorgestellt und erzählen von sich und davon, was das Geschichtenerzählen in ihrem Leben bedeutet, wo und wie sie ihre Kunst unter die Leute bringen, und wie aktuell und lebendig sie in unserer globalisierten Welt wieder ist.
Geschichten sind nämlich Global Players, sie sind geradezu geschaffen, zu verbinden und zu vernetzen, und sie haben sich dabei noch nie um Grenzen geschert. Für jüdische Geschichten gilt das vielleicht in besonderem Maße: sie schöpfen aus alten Quellen, sind weit gewandert, dabei überall befruchtend und auch erntend, beschienen vom nährenden Licht einer Heimat, die oft im Außen sehr unsicher war und nur im Innern wärmend strahlte. „Und es genügte.“
Und mehr als das! Aber werden Sie doch selbst fündig in unserer Geschichtenerzähler-Auslese!
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Wunder, Witz und weise Worte
Geschichten, gesammelt von Moira Thiele, München -
Treasures from Jewish Storytellers
Jüdische Geschichtenerzähler aus aller Welt und ihre Lieblingsgeschichten