„Versuchte Gefangenenbefreiung und Unterstützung einer kriminellen Vereinigung“

Irmtrud und Peter Finkelgruen, die RAF, Prof. Ulrich Klug und FDP-Partei“freunde“ (1971 – 1974)

Die Beiträge sind auch als Buchveröffentlichung erhältlich.

Roland Kaufhold: „Mich erfüllte ein Gefühl von Stolz. Ich hatte es geschafft.“ Peter Finkelgruen: Ein halbes Jahrhundert Leben als Jude in Deutschland, BoD 2022, 244 S., Euro 12,99, Bestellen?


Dieser Beitrag über Irmtrud und Peter Finkelgruen geht ein halbes Jahrhundert zurück. Er handelt von der Zeit, in der die RAF entstand. Und er handelt von der, inzwischen untergegangenen, linksliberalen Szene innerhalb der – Kölner – FDP; diese versammelte sich Jahre später vor allem im Liberalen Zentrum Kölns (Kaufhold 2019a, b). Er handelt von den harten Auseinandersetzungen zwischen dem – so macht es bei der Lektüre zumindest den Eindruck – noch vom Nationalsozialismus geprägten rechten Flügel der FDP einerseits und Linksliberalen wie Irmtrud und Peter Finkelgruen sowie Prof. Ulrich Klug andererseits, die 1968 bewusst in die FDP eintraten, um gegen das nationalsozialistische Fortwirken zu kämpfen. Es ist ein spannendes Stück Zeitgeschichte.

Hessen-FDP, Bundestagswahl 1949

Die Jahre 1971 bis 1974, daran sei erinnert, waren noch vor der Jahrzehnte langen Kontroverse um die Edelweißpiraten, also dem Versuch, das gesellschaftliche Schweigen über die Nazizeit, symbolisiert über die wenigen Kölner Jugendlichen, die sich dem Nationalsozialismus bewusst entzogen, die „nicht mitgemacht“ hatten. Es war ein Zeitalter, so erinnert sich Finkelgruen in zahlreichen Gesprächen, in denen ein antisemitisches Vokabular, antisemitische „Witze“ noch völlig angstfrei im Alltag verwendet wurden. Kurz zuvor, ab 1967, im Kontext des Sechstagekrieges, war der anfängliche verbale „Philosemitismus“ der Apo – also der bekundeten „Solidarität mit Israel“ – binnen weniger Monate in einen militanten, vulgären Antisemitismus großer Teile der studentischen Linken umgeschlagen. Es kam zu der vielfach beschriebenen „antizionistischen Wende des SDS„. Und am 9.6.1969 wurde in Frankfurt am Main ausgerechnet der erste israelische Botschafter Israels in Deutschland, Asher Ben-Nathan (12921-2014), Kind Wiener Überlebender, im überfüllten Hörsaal der Frankfurter Universität von wütenden Studenten immer wieder unterbrochen. Ihre „antizionistischen“, propalästinensischen und „israelkritischen“ Parolen waren der von Wolfgang Kraushaar beschriebene Anfang einer radikal antizionistischen Atmosphäre und Grundhaltung großer Teile der Linken.

Der selbsternannte „Politrebell“ Dieter Kunzelmann mit seinem selbstentlastenden Diktum des „Judenknaxes“ kann als Symbol dieser sprachlichen und emotionalen Enthemmung gelten (Kaufhold 2018). Ben-Nathan, der 1938 aus Deutschland nach Palästina geflohen war, erinnerten diese „linken“ deutschen Studenten an die Nazis; sie handelten „wie die Nazis“, wie er sich in seiner Autobiografie „Stationen meines Lebens“ schrieb.

Dieser scheinbar isolierte „Tabubruch“ innerhalb der SDS-Szene ab 1969 einerseits und der harte Kampf innerhalb der FDP-NRW Anfang der 1970er Jahre andererseits, das ist der Spannungsbogen, der dieser Studie zugrunde liegt…

Von Roland Kaufhold

Ein schwarzer Klappkarton, auf einer Seite klebt immer noch ein handschriftlich beschriebener kleiner Zettel mit einer Beschriftung: Rheinische Post. Eine Ecke ist abgeblättert, dort spürt man immer noch den gut 40 Jahre alten Kleber. Peter Finkelgruen und Rheinische Post (RP)? Irgendwie will dies nicht zusammen passen: Die im März 1946 gegründete Tageszeitung „Rheinische Post“ ist eine konservative Regionalzeitung mit dem Untertitel: „Zeitung für Politik und christliche Kultur“. „Sie steht in der christ­li­chen Tra­di­tion ihrer Grün­der“ heißt es in einer Selbstbezeichnung. Ich habe nie jemanden gekannt, der sie abonniert hatte. Aber sie hat ihre Leser: 289.000 Exemplare werden laut Selbstauskunft heute noch von ihr verkauft.

„Hier hast Du es, das ist wichtig“ meint Peter Finkelgruen bei einem Treffen. Es gehe um seine ehemalige Ehefrau Irmtrud, fügt er bei einem anschließenden Gespräch nur knapp hinzu. Um die „Affäre Irmtrud“ bzw. die „Affäre Ulrich Klug“. Das sei eine ganz schlimme, ganz bösartige Geschichte. Man spürt, dass der Inhalt des Kartons ihm bis heute bedeutsam ist. Und dass er ihn immer noch belastet. Seine ehemalige Ehefrau lebt nicht mehr. Die Juristin Irmtrud Finkelgruen verstarb Ende 2014.

Der Inhalt des Kartons geht bis in das Jahr 1971 zurück. Seinerzeit war Finkelgruen 29 Jahre alt und ein junger Journalist bei der Deutschen Welle; seine seinerzeitige Ehefrau Irmtrud – ihr friedliches Scheidungsverfahren stand vor seinem auch formellen Abschluss – war 31. Beide waren seit einigen Jahren in der FDP engagiert, Finkelgruen war dieser 1968 beigetreten. Irmtrud Finkelgruen war zusätzlich zeitweise Kreisvorsitzende der Kölner Jungdemokraten (DJD), der damaligen Jugendorganisation der FDP (Kaufhold 2019b).

Im Karton liegen weit über 200 Seiten Originaldokumente, juristischen Schreiben und Zeitungskopien, denen man ihr Alter ansieht: 45 Jahre, die Materialien stammen aus den Jahren 1971 bis 1974, einige Kopien sind nur noch schwer zu entziffern. Die Materialien haben schon viele Umzüge, viele Kellerräume hinter sich. Ein leicht morbider Geruch hat sich eingenistet. Und doch hat Peter Finkelgruen sie all die Jahre aufbewahrt. Ihr Inhalt ist, man vermag es nicht anders zu formulieren, zutiefst verstörend.

Herbst 1971: Vorboten der Deutschen Herbstes

Die Jahre 1971 und 1972: Ich bin gerade in die 5. Klasse eines nordrhein-westfälischen Gymnasiums einer Industriestadt gewechselt. Es sind die Zeiten des beginnenden RAF-Terrorismus, von dem wir 10-, 11Jährigen nahezu nichts verstehen können, von dem wir aber dennoch via Fernsehen – seinerzeit vermutlich noch in schwarz-weiß – etwas mitbekommen haben. Mein Klassenlehrer, Hans Joachim Berlin, der für mich in seiner scheinbar eher direkten, aber dennoch feinfühligen Art ein Glücksfall war, spricht im Unterricht über den RAF-Terrorismus. Er, der nach meiner Erinnerung eher burschikos auftrat und ein überzeugter Liberaler war, muss wohl über unsere Antworten zum deutschen Terrorismus etwas erschreckt gewesen sein. Ich erinnere mein Unverständnis über „ewig lange“ Strafprozesse und die Diskussion über eine mehrfach lebenslängliche Todesstrafe. Solche juristischen Feinheiten waren mir und uns wohl nicht nachvollziehbar. Was machte es für einen Unterschied, ob jemand einfach oder mehrfach zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt wird?,  fragte sich der 11-Jährige. Ich spüre noch heute sein innerliches Erschrecken darüber, dass wir den brutalen, barbarischen Charakter des Terrorismus aus seiner Sicht nicht angemessen zu erfassen vermochten.

In jenem Herbst 1971, genauer gesagt am 19.10.1971, hatte Irmtrud Finkelgruen ihren ersten Arbeitstag in der Kölner Justizvollzugsanstalt Ossendorf.[1] Das in Köln unter dem Namen Klingelpütz weithin bekannte, sieben Kilometer nordwestlich des Doms gelegene Gefängnis war erst zwei Jahre zuvor errichtet worden. Es verfügte auch über einen „toten Trakt“, der anfangs für RAF-Gefangene gebaut wurde und in dem später auch islamistische, kurdische und irische Terrorgruppen inhaftiert waren. In der Hochphase des deutschen Terrorismus wurde er teils scharf als inhuman und die Persönlichkeit des Gefangenen zerstörend kritisiert. Aus dieser Kritik erwuchs ein Kreislauf zwischen „Soligruppen“ für inhaftierte „politische Gefangene““ und den noch in Freiheit befindlichen RAF-Terroristen einerseits und dem durch die RAF-Attentate aufgeschreckten Justizwesen andererseits. Es entwickelte sich eine wechselseitige Verhärtung, die immer wieder neu junge Menschen ins Lager der RAF trieb. Der seinerzeitige Kölner Kreisvorsitzende der FDP (1968 – 1979) und spätere Bundesinnenminister Gerhart Rudolf Baum (1978 – 1982) war der erste und wohl prominenteste liberale Politiker, der diesen Kreislauf der eskalierenden Gewalt durch Gespräche mit dialogbereiten Terroristen zu durchbrechen versuchte. Wenige Jahre später gehörte Baum zusammen mit Prof. Ulrich Klug und Peter Finkelgruen, zu den wirkmächtigsten Unterstützern einer Rehabilitierung der Kölner Edelweißpiraten (Baum 2019, Finkelgruen 2019, Kaufhold 2019a,b).

Der 1947 geborene Klaus Jünschke, Vertreter der ersten Generation der RAF, kann als ein Beleg für den Erfolg von Gerhart Baums – sowie Antje Volmers – mutigen Bemühungen gelten, linke ehemalige Terroristen wieder in den demokratischen Diskurs zurück zu führen. Als RAF-Terrorist saß er viele Jahre im Kölner Gefängnis „Klingelpütz“ ein. Mitte der 1980er Jahre wandte er sich öffentlich vom Terrorismus ab, 1988 wurde er von Ministerpräsident Bernhard Vogel nach 16 Jahre Haft begradigt, er hatte sich glaubwürdig vom Terrorismus „distanziert“. Damit war er zugleich der erste RAF-Terrorist, der begnadigt wurde. Heute verbindet die beiden eine lockere Freundschaft; Jünschke trat seinerzeit mehrfach mit Baum öffentlich auf, der damals Bundesinnenminister war, so am 16.11.1987 – Jünschke war da noch Häftling –  bei einer Diskussion des Liberalen Zentrums Köln (Kaufhold 2019d). Seit 1997 gehört Jünschke dem Beirat der Justizvollzugsanstalt Ossendorf an, in der er früher selbst einsaß.

Das ehemals im Zentrum Kölns gelegene Gefängnis Klingelpütz blickte auf eine 140 alte Geschichte zurück; er wurde nach der Fertigstellung der neuen, modernen Haftanstalt jedoch abgerissen. Heute ist dort ein kleiner Park mit Spielmöglichkeiten für eine migrantisch geprägte Bevölkerung.

Die am 2.3.1940 geborene Jurastudentin Irmtrud  –  sie befand sich in Köln im 10. Semester ihres Studiums, welches sie abzuschließen versuchte – war mit Peter Finkelgruen verheiratet. Sie waren in einer Trennungsphase, die sie beide wohl gut gestalteten. Beide waren sie im linken Flügel der Kölner FDP, Irmtrud war zusätzlich bei den Jungdemokraten und im Republikanischen Club engagiert. Irmtrud Finkelgruens Leben war nicht bruchlos verlaufen: Zahlreiche Jobs, ein abgebrochenes Studium der Theaterwissenschaften und der Soziologie, nebenberuflich journalistische Arbeiten u.a. für den WDR. Bei ihrem Bürojob bei einer Organisation für Naziopfer entdeckte sie ihr Interesse an der Juristerei. Das trockene Zivilrecht erschien ihr auf einmal – wie es in einem Portrait über sie heißt (Lintz 2005) – „aufregend wie ein Krimi“. Irmtrud Finkelgruen hatte eine achtjährige Tochter und benötigte als nun Alleinerziehende Geld.

Der liberale Jurist Prof. Ulrich Klug

Anfang September 1971 war Irmtrud gemeinsam mit Peter und einigen weiteren Freunden aus dem Umfeld der linken FDP im in Merten (Bornheim) gelegenen Haus und Garten ihres ehemaligen Hochschullehrers Ulrich Klug beim Pflaumenpflücken und Pflaumenkuchenverspeisen. Es war eine angenehme, aufgeräumte Stimmung, erinnert sich Peter Finkelgruen. Gemeinsam fühlte man sich wohl – wobei Finkelgruen, den damaligen Zeitumständen, aber auch einer gewissen Bürgerlichkeit geschuldet, gegenüber Prof. Klug zeitlebens das „Sie“ verwendete. Seit März 1971 wirkte der renommierte, stets akkurat gekleidete Linksliberale, der schon 1962 bei der „Spiegel-Affäre“ zu den Spiegel-Anwälten gehört und sich 1968 auf Bitten von Finkelgruen der FDP angeschlossen hatte, als nordrhein-westfälischer Staatssekretär im Justizministerium. Der überzeugte radikale Demokrat und Kölner Jura-Hochschullehrer hatte zahlreiche Feinde, insbesondere aus dem „rechten“ Kreis seiner eigenen Partei. Diese, insbesondere der „nationalliberale“ Flügel um Achenbach, der von einigen Publizisten und Historikern als die stärkste institutionelle parlamentarische Nachfolgeorganisation ehemaliger Nationalsozialisten betrachtet wird, waren über den Zustrom zahlreicher junger Studenten aus dem Umfeld der APO keineswegs erfreut. Und dies ist noch harmlos formuliert: Sie, die unter Liberalismus vor allem die Verteidigung ihrer wirtschaftlichen Privilegien verstanden, fühlten sich bedroht. Im Kölner Kreisverband hatten die „Linken“ seinerzeit sogar die Mehrheit gewonnen, auf Landesebene regierten hingegen weiterhin „die Rechten“. Diese Konstellation war entscheidend für das mehr als groteske Szenario, in das die spätere renommierte Richterin Irmtrud Finkelgruen (die einen „jüdischen“ Namen trug) wie auch Ulrich Klug verwickelt wurden – in der erkennbaren Absicht, ihre politische wie auch ihre private Existenz zu vernichten. Es waren Vorgänge, die auch Peter Finkelgruen an die Lebensgeschichte seiner Eltern erinnerten…

Er genoß vollstes Mißtrauen“

Aus diesen parteipolitischen Hintergründen entstand ein klandestines Drehbuch, von dem weder die junge Irmtrud noch Peter Finkelgruen etwas ahnten. Es lag schlicht außerhalb ihres Vorstellungsvermögens. Und auch der prinzipientreue Ulrich Klug ahnte wohl nichts hiervon. Um den Ereignissen der folgenden Monate vorzugreifen: Den linken Staatssekretär Prof. Klug zu stürzen hatte für seine „rechten“ Parteifreunde allerhöchste Priorität. Ihn wollten sie loswerden, mit allen Mitteln. Die Lebensgefährtin des Juden Finkelgruen war hierbei ein Hilfsmittel, der Hauptfeind war Prof. Ulrich Klug. Alle drei symbolisierten das Verdrängte.

Wie die bösartige Intrige begann: „Er genoß vollstes Mißtrauen“

Am 22.11.71 titelt der Spiegel in einem wohlinformierten Hintergrundbeitrag: „Affären: Etwas bleibt hängen“. Er eröffnet seinen Beitrag mit dem Hinweis „Hilfe für die Baader-Meinhof-Gruppe wurde dem Düsseldorfer Justiz-Staatssekretär Klug (FDP) angelastet.“ Und fügt, die Eigendynamik solcher Politikprozesse beleuchtend, hinzu: „Doch statt Klug geriet dessen Dienstherr Neuberger[2] (SPD) ins Zwielicht.“ Über die Intrigen, die Klugs Tätigkeit als Staatssekretär im März 1971 voraus gingen, bemerkt der Spiegel am 22.11.71 lakonisch:

„Er genoß vollstes Mißtrauen. Und Kluges Minister setzte überdies viel darein, dem Wissenschaftler politisch „das Rückgrat etwas zu erweichen“. Davor hatte bereits ein 1906 geborene Staatssekretär versucht, ausgerechnet dem während der Nazizeit mit einer Jüdin verheirateten Ulrich Klug eine geistige Nähe zu den Nationalsozialisten anzudichten.

Der stets sehr vornehm gekleidete Klug war, dies sei hier erwähnt, bereits Anfang der 1970er Jahre ein vehementer Gegner des Radikalenerlasses und des Abtreibungsparagraphen 218. Resozialisierung propagierte er als einzig angemessenen Strafgrund, die lebenslange Freiheitsstrafe lehnte er als „verfassungswidrig“ ab (Der Spiegel 1977). Kurzum: Vielen Konservativen erschien er Anfang der 1970er Jahre als die Verkörperung eines linksradikalen Verfassungsfeindes und Terroristenunterstützers. Es war eine Atmosphäre der Verdächtigung, in der ein Heinrich Böll zeitgleich, 1972, zu einem der „Ziehvätern  des Terrorismus“ gemacht wurde, einschließlich einer Durchsuchung seines Langenbroicher Hauses im Rahmen der Antiterrorfahndung. Kennzeichnend für diese Atmosphäre war auch, dass FDP-Innenminister Baum wenig später von Franz-Josef Strauß als Terroristenunterstützer denunziert wurde. Es waren Vorgänge, die Peter Finkelgruen sechs Jahre später gleichfalls erleben sollte.[3]

Bruch eines Dienstgeheimnisses: „Staatssekretär Klug unter schwerem Verdacht“

Die 31-jährige Irmtrud Finkelgruen wollte gegen Ende ihres Studiums Praxiserfahrungen im Bereich des Strafrechts machen. Weiterhin benötigte die Alleinerziehende – die Scheidung der Finkelgruens stand unmittelbar bevor – Geld. Klug empfahl seiner ehemaligen Studentin beim gemeinsamen Pflaumenkuchenessen, sich um eine zeitlich befristete Stelle im Justizsystem zu bewerben. Er machte ihr einige Vorschläge. Einige Tage später kam ihm die Idee, sie solle es beim Strafvollzug zu versuchen. Er hatte gehört, dass dort zwei Stellen als Aushilfskraft frei seien. Er riet ihr, sich schriftlich zu bewerben, dabei beließ er es. Danach vergnügte man sich weiter am köstlichen, von Ulrich Klugs Ehefrau eigenhändig gebackenen Pflaumenkuchen und an der ländlichen Umgebung seines Hauses. Über seine Empfehlung an seine frühere, engagierte Studentin und Parteifreundin dachte der Urliberale nicht weiter nach. Es gab auch keinen Grund hierfür. Dass in Ossendorf auch seit einigen Monaten Terroristen inhaftiert waren, dies sei angemerkt, war Klug nicht bekannt.
Irmtrud Finkelgruen bekam nach kurzem Hin und Her eine befristete Stelle in der Strafanstalt für 540 Euro brutto im Monat, bei 21 Wochenstunden. Sie verstand sich als überzeugte Linke, woraus sie kein Geheimnis machte. Auch in ihrem Auftreten verkörperte sie mit ihren Jeans, Turnschuhen und Pullover wohl nicht zwingend den Typus einer Gefängniswärterin Anfang der 1970er Jahre. Es waren die nach-68er Jahre mit dem hiermit einhergehenden legeren – und hierbei doch, mit Abstand betrachtet, uniform erscheinenden – Kleidungsstil.

Praxiserfahrung einer angehenden Richterin: Der „Vorgang“

Am 19.10.1971 beginnt Irmtrud Finkelgruen ihren Dienst. Nach nur knapp drei Wochen, am 8.11., findet ihre Tätigkeit zu ihrem ungläubigen Erstaunen ein jähes Ende: Sie wird vom Gefängnisleiter Brücker zu einem offiziellen Gespräch zitiert, in dem er ihr eine Unterstützung der in Köln-Ossendorf einsitzenden RAF-Terroristin Astrid Proll vorwirft, ihr eine linksradikale Gesinnung nachsagt und sie mit sofortiger Wirkung kündigt. Irmtrud Finkelgruen hat über ihre Tätigkeit eine mit „Chronologie“ überschriebene Übersicht angefertigt (Privatarchiv Peter Finkelgruen), die eine Rekonstruktion der dramatischen Ereignisse erleichtert. Er waren auf Vernichtung ausgerichtete Intrigen einer noch vom Nationalsozialismus geprägten, in ihm aufgewachsenen Generation:

Am 19.10. also beginnt Irmtrud ihre Tätigkeit in Ossendorf, auf einen psychologischen Test wird von Seiten der Gefängnisverwaltung verzichtet. Sie wird, gemäß Irmtrud Finkelgruens mir vorliegender „Chronologie“, vom 19.10 bis 1.11. in die Tätigkeit im Gefängnis eingewiesen. Vom 2. bis 5.11. hat sie drei Nachtschichten; bei der dritten Nachtwache (4.11.) betritt sie erstmals die Zelle der als RAF-Terroristen angeklagten Astrid Proll. Die 1947 geborene Proll hatte sich in Frankfurt an der „Heimkampagne“ beteiligt und sich anschließend mit ihrem ältesten Bruder Thorwald der RAF angeschlossen. Zusammen mit einer 20-köpfigen linken Gruppe reiste sie nach Jordanien in ein militärisches Ausbildungslager der palästinensischen Terrororganisation al-Fatah.[4] Am 14.5.1970 beteiligt sie sich in Berlin, gemeinsam mit Ulrike Meinhof, Gudrun Ensslin, Irene Goergens, Ingrid Schubert und einer weiteren, unbekannten Person an der Gefangenenbefreiung von Andreas Baader. Diese gilt als die Geburtsstunde der RAF. Proll wurde ein Jahr später, im Mai 1971, inhaftiert und in die JVA Köln verbracht (vgl. Goettle in taz, 23.11.2008).

Im Rahmen ihrer Nachtschicht löscht Irmtrud Finkelgruen am 4.11.71 um 22 Uhr das Licht einer Gefängniszelle. Die Gefangene, es handelte sich um Astrid Proll, beschwert sich hierüber mit den Worten „Was soll das?“. Sie kommen in ein kurzes Gespräch und Proll fragt, ob Finkelgruen einen Anwalt kenne, der nicht in der DKP sei. Sie nennt ihr einen, den sie kannte – und das kurze Gespräch ist beendet. Später spricht die mit dem Justizalltag Unerfahrene, um sich abzusichern und um den Vorgang „öffentlich“ zu machen, mit einer erfahrenen Gefängnis-Kollegin über die Szene. Diese bestätigt ihr ausdrücklich, dass sie sich völlig korrekt verhalten habe.

Am darauffolgenden Tag, dem 5.11. – also wenige Stunden nach Ende ihrer Nachtschicht – , erhält sie nachmittags per Bote die Nachricht von einer Dienstplanänderung. Sie erfährt bald darauf – hier greife ich den Ereignissen im Interesse einer leichteren Verständlichkeit der Chronologie voraus (private Aufzeichnungen von I. Finkelgruen: „Chronologie“) – , dass der Kölner Polizeipräsident Hosse bei Staatssekretär Staakemaier und dieser bei Ministerpräsident Kühn eine diesbezügliche Nachricht über I. Finkelgruen hinterlassen habe. Staatssekretär Kluge wurde hierüber nicht informiert, sie ahnte nichts von den Vorgängen. Am 7.11. kommt es bei der Innenministerkonferenz in Frankfurt zu einem Gespräch über die „Affäre Irmtrud Finkelgruen“ – beziehungsweise über einen völlig normalen, korrekt verlaufenen dienstlichen Vorgang, der von FDP-„Parteifreunden“ zu einer hochpolitischen „Affäre“ stilisiert wurde, um hierdurch Prof. Klug zu stürzen. Und ganz nebenbei die junge Jurastudentin, deren Ehemann innerhalb der FDP als „Linker“ und als Jude gilt, beruflich und privat zu „vernichten“.

Am 8.11. wird Irmtrud Finkelgruen um 7:30 Uhr vom Anstaltsleiter Georg Bücker zum Gespräch einbestellt, im dem ihr vorgeworfen wird, wegen „linker Einstellungen“ und wegen ihrer Gespräche mit Frau Proll ein „Sicherheitsrisiko“ zu sein. Weiterhin wird ihr, die erst drei Wochen zuvor vom gleichen Gefängnisleiter eingestellt worden war, wörtlich eine „scharf linke Einstellung“ sowie eine Verteilung „roter Flugblätter“ vorgeworfen. Spätestens jetzt war überdeutlich, dass es sich um eine gezielte, gegen sie (sowie gegen U. Klug) gerichtete Intrige handelte. Parallel hierzu wird, hier greife ich den Ereignissen voraus, eine Journalistin der Rheinischen Post bis ins Detail über die dienstinternen Vorgänge und die Beschuldigungen in Kenntnis gesetzt. In deren großformatigen Zeitungsbeitrag in der Rheinischen Post, der fünf Tage später, am 13.11.1971 erscheint, wird Irmtrud Finkelgruen sogar in den direkten Zusammenhang mit einer versuchten Gefangenenbefreiung einer als RAF-Mitglied Inhaftierten gesetzt, was politisch und atmosphärisch einer mehr oder weniger direkten Beteiligung an der terroristischen RAF entsprach. Für eine angehende Richterin eine mehr als desaströse Beschuldigung.

Besuch von „Daphne Neumann“

Zeitlich parallel zu ihrer dreiwöchigen Tätigkeit im Gefängnis bekommt I. Finkelgruen dreimal hintereinander einen sie irritierenden und beunruhigenden Besuch: Eine ihr Unbekannte, die sich als Pädagogikstudentin ausgibt und sich unter dem Namen Daphne Neumann vorstellt, sucht sie in ihrer Privatwohnung auf. Finkelgruen verhält sich absolut distanziert, spürt jedoch eine diffuse Bedrohung. In dem Abschlussgespräch mit dem Gefängnisleiter Bücker erzählte sie auch von diesen sie sehr befremdenden Besuchen, was den Gefängnisleiter jedoch zur ihrer Überraschung nicht zu interessieren scheint. Dies verwundert Finkelgruen sehr, hatte Bücker sie doch in diesem Gespräch wörtlich als ein Sicherheitsrisiko und als eine gefährliche Linksradikale bezeichnet. Irmtrud Finkelgruen vermutet in dieser Frau eine Mitarbeiterin des Verfassungsschutzes.[5] Diesen Verdacht äußert sie mehrfach. Ihr Misstrauen wächst.

Anfangs erklärt sich I. Finkelgruen mit der Vertragsauflösung einverstanden. Nachdem sie sich juristisch hatte beraten lassen widerruft sie aus juristischen Gründen dieser Vertragsauflösung. Die Kündigung blieb bestehen.

Erst am 9.11. wird Staatssekretär Ulrich Klug – die Ereignissse bzw. gezielten Intrigen gegen ihn und I. Finkelgruen waren intern weiter getragen worden und hatten in den zurückliegenden vier Tagen bereits zahlreiche einflussreiche Politiker, den Kölner Polizeipräsidenten sowie die Rheinische Post erreicht – von Ministerpräsident Heinz Kühn (SPD) erstmals bzgl. eines Antrages der CDU zur „Affäre Margrit Schiller“ (vgl. der Spiegel 1971) angesprochen. In diesem Gespräch gab es wohl Andeutungen über eine „Affäre I. Finkelgruen“.

Am 12.11 wird anlässlich eine Geburtstages eines Richters aus Erkelenz in Anwesenheit mehrerer CDU- und SPD-Abgeordneter detailliert über den „Fall Klug-Finkelgruen“ gesprochen.

Am 13.11. macht die Rheinische Post auf S. 1 und 2 mit besagtem, äußert reißerischem, dreispaltigem Beitrag auf, in dem alle dienstinternen Vorgänge dargeboten werden, ohne hierbei mit Klug und I. Finkelgruen auch nur Rücksprache genommen zu haben. Der Beitrag wird danach von zahlreichen Medien aufgegriffen, in teils zustimmender (FAZ) und in teils kritischer Weise (u.a. Spiegel, Zeit und Neue Rhein Zeitung) (s.u.).

Bereits am gleichen Tag gab es um 13 Uhr eine Gegendarstellung von I. Finkelgruen sowie diverse juristische Schreiben (Privatarchiv Peter Finkelgruen). Sowohl die Rheinische Post (RP) als auch die FAZ mussten Gegendarstellungen veröffentlichen, die RP unterzeichnete auch eine Unterlassungserklärung. Jahre später erhielt Irmtrud Finkelgruen von der RP eine gerichtlich erstrittene Entschädigung für die Rufschädigung.

Am 14.11. gibt es eine Presseerklärung von Irmtrud Finkelgruen – sie muss als Beschuldigte und Lokalpolitikerin öffentlich reagieren – , sowie Gegendarstellungen von UIrich Klug sowie eine scharfe Erklärung des Kölner Kreisverbandes der FDP. In der FDP-Erklärung wird die politische bzw. innerparteiliche Instrumentalisierung der Thematik in sehr deutlicher Weise benannt. Später folgen Auseinandersetzungen zwischen dem Kölner Kreisverband und dem NRW-Landesvorstand der FDP (s.u.). Es wurde auch versucht, den (linksliberalen) Kölner Kreisvorsitzenden (und Freund von U. Klug sowie von Peter Finkelgruen) Rudolf Baum in die Auseinandersetzungen hinein zu ziehen, um ihn auf diesem Wege politisch zu entmachten. Baum, daran sei erinnert, wurde ein Jahr später, 1972, parlamentarischer Staatssekretär unter den Innenministern Genscher und Maihofer (bis 1978); von 1978 bis 1982 war Baum dann Bundesinnenminister unter Helmut Schmidt.

Am 15.11. schreibt I. Finkelgruen in ihrer knappen, die sich überschlagenden Ereignisse rekonstruierenden „Chronologie“: „Pressekonferenz Kühn – Es liefen Ermittlungen gegen die „möglicherweise unzuverlässige Dame“. „Express“ teilt mit, I. Finkelgruens Papiere (ihr als verloren gemeldeter Personalausweis, RK) seien am Mittag auf dem Friedhof Melaten gefunden auf Anregung eines Anrufers.“ Dann folgt ein handschriftlicher Zusatz: „13.00 Unterwerfungserklärung der Rheinischen Post.“ Und auf einem kleineren, lose beigelegten Zettel findet sich noch ein weiterer, handschriftlich verfasster Zusatz: „Wegen Gespräch mit Sch…[6], 23.12.71: RP Artikel beinahe identisch mit der dienstlichen Meldung die ans Ministerium ging.“

Am 16.11. eröffnet der Generalstaatsanwalt in Köln ein Ermittlungsverfahren gegen Irmtrud Finkelgruen. Am 18. und 19.11. haben bei vereinbarten Terminen weder das Kölner K 14 (Kommissariat, RK) noch der bearbeitende Staatsanwalt Zeit für eine erwünschte Vernehmung.

Das Presseecho: „Staatssekretär Klug unter schwerem Verdacht“

Allein das gewaltige Presseecho der folgenden Wochen umfänglich zu dokumentieren würde den Rahmen dieses Beitrages überschreiten. Deshalb nachfolgend nur einige Auszüge hieraus, soweit sie für die politische Dimension dieses Vorganges von Relevanz sind.

Am 13.11.1971, fünf Tage nach ihrer Kündigung, finden sich Irmtrud Finkelgruen und Staatssekretär Ulrich Klug unerwartet auf den Titelseiten der konservativen Regionalzeitung Rheinische Post wieder: Der gleich dreispaltig aufgemachte, reißerische Beitrag trägt den Titel: „Staatssekretär Klug unter schwerem Verdacht“. Bei der bezahlten, zeitlich befristeten Hilfstätigkeit der späteren Richterin Finkelgruen handelte es sich offenkundig um eine Staatsaffäre. Die Zeitung wusste erstaunlich viele dienstinterne Details, die sie mit sehr umfassenden Verdächtigungen und Unterstellungen verknüpfte.

Spätestens hiermit dürfte allen Beteiligten klar geworden sein: Die dienstinternen, harmlosen, alltäglichen und dennoch der Geheimhaltung unterliegenden Vorgänge – eine Studentin macht ein Praktikum in einer Justizvollzugsanstalt, in der, so waren die Zeiten, auch zwei Beschuldigte aus dem Umfeld der RAF inhaftiert waren – waren, unter Bruch des Dienstgeheimnisses, an die regionale Zeitung weitergeleitet worden. Und diese brachte eine reißerische Story, die in keinster Weise einem journalistischen Mindeststandard entsprach. Die Journalistin der Rheinischen Post (RP) hatte weder bei Klug noch bei Irmtrud Finkelgruen nachgefragt.

Am 15.11.1971 – die RP hatte zu diesem Zeitpunkt bereits eine Unterlassungserklärung unterschreiben müssen – legt die RP mit einem weiteren großformatigen, reißerischen Beitrag im Stile der Bild-Zeitung noch einmal nach: „Erklärungen, Beschuldigungen, Gegendarstellungen: Im Fall Klug laufen die Ermittlungen. CDU: Der Staatssekretär muß aus dem Amt“ lautet der Titel. Die politische Zielsetzung und die Vorverurteilung ist mehr als deutlich. Am Anfang des Beitrages wird in Fettdruck hinzu gefügt: „NRW-Ministerpräsident Kühn bestätigte, daß in der Angelegenheit der 31jährigen Kölner Jurastudentin Irmtrud Finkelgruen polizeiliche Ermittlungen im Gange sind.“ Spätestens jetzt hätte die Karriere der späteren, in Trier renommierten Richterin eigentlich vorbei sein müssen. Mehrfach wird sie im Beitrag im Kontext einer RAF-Unterstützung genannt. Ihr wird auch vorgeworfen, „sie habe sich für die Sicherheitsmaßnahmen, speziell die Bewaffnung der Beamten und die Stärke der Zellentür interessiert“. Nachfolgend werden von der RP die Gegendarstellungen von Klug und Finkelgruen veröffentlicht. Klug konstatiert hierin:

„Es ist unrichtig, dass ich eine junge Juristin in fahrlässiger Weise unterstützt habe, die sich als Anhängerin der Baader-Meinhof-Gruppe in das Kölner Untersuchungsgefängnis eingeschlichen hat. Richtig ist vielmehr, daß ich einer meiner Studentinnen, die als Werkstudentin ihr Studium bei gleichzeitiger Betreuung ihres achtjährigen Kindes selbst finanzieren muß, und die deshalb auf eine Nebentätigkeit als Journalistin und studentische Hilfskraft angewiesen ist, empfohlen habe, sich bei der Justizvollzugsanstalt Köln-Ossendorf um eine Anstellung zu bewerben.“

Am nächsten Tag, 16.11.71, legt die RP in einem eigenen Kommentar noch einmal nach: Überschrieben ist er unmissverständlich mit „Der Verdacht“, in den Zeiten der RAF-Hysterie. Und aus dem banalen, belegten Sachverhalt des gemeinsamen Kirschkuchenessens und einer Empfehlung zu einem zeitlich befristeten Hilfsjob wird in gewundener, sich selbst als Opfer andeutender Sprache über dienstinterne Vorgänge fabuliert: „Es muss auch gefragt werden, ob wirklich nicht von Protektion zu sprechen ist, wenn Klug dem zuständigen Ministerialdirigenten zu verstehen gibt, er möchte eine junge Frau im Strafvollzug unterbringen, und wenn dieses Interesse des Staatssekretärs an die in Frage kommende Dienststelle weitersignalisiert wird. Der Ministerpräsident meinte, das sei keine „besondere Begünstigung“ gewesen. Darüber werden die Meinungen wohl auseinandergehen.“ Es folgt noch ein persönlich gehaltener Tiefschlag gegen Ulrich Klug, der vom „linken Flügel der FDP (…) als Heros gefeiert“ werde, um dann einen FDP-Vertreter des rechten Flügels zu zitieren: „`Es gibt Staatssekretäre, die weniger Schlagzeilen gemacht haben.´ In der Tat.“ Klug habe „meist auf besondere Weise  auf sich aufmerksam gemacht“ und er habe die Regierung „in Verlegenheit gebracht.“ Weiter wird Klug – der sich stets durch seine Überkorrektheit auszeichnete – , eine Beurlaubung wegen „des gegen ihn entstandenen Verdachts“ angeraten. Klug sei „ja nicht durch die Veröffentlichung der Rheinischen Post“ in Verdacht geraten: „Der Verdacht bestand vorher.“ Die Rheinische Post sollte den Namen des (bzw. der) – wovon auszugehen ist – FDP-internen Denunzianten übrigens niemals nennen.

„„An der Dicke der Zellentür interessiert.“ Irmtrud Finkelgrün wurde (…) entlassen“

Die von der RP gezielt in die Welt gesetzte Denunziation wurde von zahlreichen lokalen und überregionalen Medien sogleich aufgegriffen, unter Verweis auf die RP als Quelle. Die politische Wertung war hierbei vom politischen Standpunkt der Zeitung abhängig. Die christdemokratischen Ruhr Nachrichten schrieben von „Harte(n) Vorwürfen“. Die Westdeutsche Allgemeine brachte am 15.11.71 zwar einen relativ nüchternen Beitrag, überschrieb diesen jedoch mit „An der Dicke der Zellentür interessiert. Irmtrud Finkelgrün wurde nach drei Wochen aus dem Klingelpütz entlassen“. Allein diese Überschrift hatte für die Jurastudentin mit dem Berufsziel Richterin eine schwere Rufschädigung zur Folge. Es verwundert nicht, dass sowohl sie als auch Peter Finkelgruen in den Monaten danach bei der Suche nach einer neuen Wohnung erfolglos waren, wie mir Finkelgruen beim Verfassen dieser Studie erzählt hat.

Die von der RP initiierte konservative Kampagne ging weiter. Die seinerzeit sehr konservative FAZ schrieb am 15.11.1971: „Schwere Vorwürfe gegen Professor Klug. Versuchte Befreiung von Astrid Proll begünstigt? Kühn läßt prüfen“ und beschuldigte I. Finkelgruen, unter Verweis auf die RP, „sich als Anhängerin der Baader-Meinhof-Gruppe in das Gefängnis Köln Ossendorf (…) einzuschleichen. Dort habe die Studentin die Sicherheitsmaßnahmen ausspionieren und möglicherweise die beiden hier einsitzenden Mitglieder der Gruppe, Astrid Poll (Schreibweise im Original, d. Verf.) und Dorothea Ritter, befreien wollen. Die 31-jährige Studentin (zehn Semester Rechtsstudium) habe sich als Journalistin ausgegeben.“ Die Politische Abteilung der Kölner Kriminalpolizei soll später, fügte die FAZ hinzu, „die Studentin als Kontaktperson der Gruppe erkannt haben“. Und die FAZ setzt einen Feststellung hinterher, die eine scheinbar nüchterne Bestätigung der Unterstellungen mehr als nahelegen soll: „Frau Finkelgruen wurde tatsächlich danach von der Anstaltsleitung entlassen.“ Ergänzt wird diese einer Vorverurteilung mehr als nahekommende Darstellung durch einen mit „Der Fall Ulrich Klug“ überschriebenen Kurzkommentar, in dem es heißt, der Kölner Strafrechtler Klug habe „die schweren gegen ihn erhobenen Vorwürfe nicht gänzlich ausräumen können.“ Natürlich werde niemand Klug „in die Nähe krimineller Anarchisten wie der Baader-Meinhof-Gruppe“ rücken: „Aber es bleibt, dass Klug eine Studentin für den Strafvollzug empfohlen hat, die von der Polizei als linksradikal eingestuft wird.“ Der „Verdacht einer geplanten Gefangenenbefreiung“ sei dann „schnell zur Hand.“ Voller herabsetzender, scheinbarer Ironie wird vom „progressiven Wissenschaftler“ gesprochen, dem man „etwas mehr distanzierende Rationalität im Umgang mit seinen Schülern und Studenten zumuten“ könne, um den NRW- Staatssekretär abschließend als nicht seriös gegenüber seinen juristischen Kollegen und Institutionen zu desavourieren: „Die Frage bleibt, wieviel Vertrauen die Staatsanwaltschaften und der Strafvollzug künftig in ihn setzen. Nicht jeder angesehene Rechtsprofessor ist auch zum Staatssekretär der Justiz geboren.“

Wie bereits erwähnt gab es jedoch auch sehr anderslautende Pressereaktionen. Die Neue Rhein Zeitung brachte bereits am 15.11.1971 einen mit „FDP: Rufmord an Professor Klug. Staatssekretär nennt Vorwürfe „totale Verdrehung““ überschriebenen Beitrag sowie einen deutlich gehaltenen Kommentar. Und die Kölnische Rundschau brachte am 16/17.11. gleichfalls zwei deutlich formulierende Beiträge: „Kühn stellt sich vor Professor Klug“ sowie „Professor Klug kämpft stets mit offenem Visier. Gegner schossen bisher meist aus versteckten Gräben“. Hierin portraitierte die Kölner Zeitung Ulrich Klug aus einer aus jahrelangen Begegnungen erwachsenen Perspektive: „… schmächtig, sensibel, ein Mann mit pointierten Meinungen und verbindlichen Formen. (…) Er wollte vom Elfenbeinturm nichts wissen. Die Abende, an denen er im Zigarettendunst mit aggressiven Zuhörern diskutierte, seine Gedanken erläuterte, sind nicht zu zählen.“

„Irmtrud Finkelgrün denkt nach. Wie wird ihre Rehabilitation aussehen?“

Zwei Wochen später, am 30.11.1971, folgte in der FAZ ein weiterer dreispaltiger, von der Redakteurin Vilma Sturm verfasster Hintergrundbeitrag. Vorangegangen war ein von Peter Finkelgruen als sehr angenehm erinnerter gemeinsamer Besuch von Irmtrud und ihm bei der Redakteurin. Von der politischen Zielsetzung deutete sich eine vorsichtig formulierte Wende an. Jedoch: Erneut prangt der Name Finkelgruen (auf S. 8) auf den Zeitungsseiten: „Irmtrud Finkelgrün denkt nach. Wie wird ihre Rehabilitation aussehen? Viele Fragen sind noch offen“ lautet die Überschrift. Nun spricht die FAZ auf einmal von den „ebenso ungeheuerlichen wie haltlosen Vorwürfen“ gegen Staatssekretär Klug. Seine „politischen Gegner“ hätten ihm „möglicherweise diese Suppe eingebrockt.“ Sowohl Ministerpräsident Kühn als auch der Justizminister stellten sich hinter Klug. Bemerkenswert ist jedoch, dass erstmals auch I. Finkelgruen direkt und wortwörtlich als Opfer einer bösartigen Intrige benannt wird, die gegen sie gesponnen wurde: „Nicht nur angefochten, sondern in ihrer Existenz getroffen ist hingegen die Jurastudentin Irmtrud Finkelgruen.“ Und mit spürbarem Erstaunen werden die weiteren Details und Beschuldigungen benannt, die die Rheinische Post – weit über die bereits beschriebenen Beschuldigungen hinaus gehend – bereits in ihrem ersten großen Beitrag ausgebreitet hatte: Es waren dienstliche Vorgänge sowie auch sehr private Unterstellungen, die ausschließlich von einem „Insider“ stammen konnten, der Frau Finkelgruen nicht nur aus dem Strafvollzug „kannte“.

Im Folgenden wird Irmtrud Finkelgruen in der FAZ einfühlend beschrieben: „…stilles, ernstes Gesicht, schwarz gekleidet.“ Ihr soeben geschiedener Ehemann stehe ihr „solidarisch und kameradschaftlich“ zur Seite. Es folgt ein sehr differenzierter Hintergrundbeitrag, in dem mögliche Hintergründe des Rufmordes und der hieraus entstandene immense Schaden herausgearbeitet wird: „Beiden ist eine gewisse Ratlosigkeit ins Gesicht geschrieben, desgleichen Bekümmerung darüber, daß es so lange Zeit braucht, bis die über sie hereingebrochene Diffamierung und Diskriminierung von ihnen genommen wird – und daß sie selbst daran so gut wie nichts tun können.“ Und es wird der „Makel“ benannt, der an ihr, selbst bei einer vollständigen und restlosen Rehabilitierung, hängen bleiben dürfte. Für ihre angestrebte Beamtenlaufplan als Richterin stellten diese monatelangen Presseberichte eine außerordentlich große Gefahr dar.

„Affären: Etwas bleibt hängen“

Im gleichen Tenor, aber noch deutlicher die parteipolitischen Hintergründe und die Intrigen benennend, fällt der bereits erwähnte, zwei Tage später (22.11.71) erschienene Spiegel-Beitrag aus: „Affären: Etwas bleibt hängen“. Dort wird vom „bislang letzte(n) Tiefschlag gegen einen progressiven Freidemokraten“ gesprochen, den Heinz Kühns eigener Ressortchef, SPD-Minister Josef Neuberger, „als erster suspekt gemacht hatte.“

Sehr anschaulich rekonstruiert der Spiegel die Stationen dieser vom im NRW-Justizministerium angesiedelten sehr rechten FDP-Flügels gezielt verbreiteten Intrige – die sowohl der Rheinischen Post als auch der oppositionellen CDU zugespielt wurde, um „den Linken“ Ulrich Klug zu stürzen:

„Das Kölner Polizeipräsidium war offenbar zuerst im Bilde und informierte bereits am Tage nach dem nächtlichen Proll-Plausch[7] das Düsseldorfer Innenministerium. Von dort aus unterrichtete Staatssekretär Heinrich Starkemeier noch am Abend Ministerpräsident Kühn. Und von Kühn erst erfuhr Neuberger telephonisch gegen elf Uhr abends, was vorgefallen war.

Die Gründe für dieses Verfahren sind dem Ministerpräsidenten „nicht bekannt“, und der Justizminister hütet sie wie ein Staatsgeheimnis — ein Gebaren, das zwangsläufig sein gesamtes Verhalten auch bei der jüngsten Klug-Kampagne ins Zwielicht rückt.

Als Landes- wie Bundesverfassungsschutz, die Kölner politische Polizei und die Bonner Sicherungsgruppe längst informiert waren, als Starkemeier von dem Vorgang schon auf einer Innenministerkonferenz erzählt hatte, war Klug noch immer unwissend. Erst am vierten Tag nach ihrem Telephongespräch hielten es Neuberger und Kühn für angezeigt, endlich auch den betroffenen Staatssekretär zu unterrichten.

Zur Aufhellung des Sachverhalts aber sah die Regierung dann noch immer keinen Anlaß. Sie wartete mit der Rehabilitierung, bis der unbequeme Rechtsprofessor öffentlich attackiert und damit wieder mal verdächtigt wurde.“ (Der Spiegel, 22.11.1971)

Unmittelbar danach wurde der „Fall Finkelgruen“ sogar Gegenstand eines Fernsehmagazins: Das politische Fernsehmagazin Monitor unter der Leitung von Claus-Hinrich Casdorff brachte einen sorgfältig recherchierten Beitrag zum – wörtlich – „Fall der Düsseldorfer Studentin Irmtrud Finkelgrün“. Hierin wurde sogar über die Verdächtigung berichtet, dass Finkelgruen ein Duplikat des Gefängnisschlüssels habe herstellen lassen, offenkundig um diesen der Terroristen Proll zukommen zu lassen; und sie habe einen – zuvor als verloren gemeldeten – Personalausweis auf einem Kölner Friedhof deponiert, um dieser die Flucht zu erleichtern.

Krieg in der FDP – „Rufmord an Prof. Klug“

Weitere neun Wochen später, am 27.1.1972, berichtete die FAZ erneut über das Thema. Sie wiederholte die Vorwürfe einer Unterstützung der RAF, wenn auch in etwas zurückhaltenderer Weise, und beschrieb die internen Auseinandersetzungen, die nun offen zwischen dem „linken“ Kölner Stadtverband und dem „rechten“ NRW-Landesverband der FDP ausgebrochen waren. Die Kölner FDP hatte in einer Presseerklärung von einer gezielten, innerparteilich initiierten Verleumdung von Finkelgruen und Klug gesprochen, indem man Finkelgruen „in die Nähe krimineller Handlungen“ bringe. Hierdurch sollten die „progressiven Kräfte in der Landespartei geschwächt“ werden. Die Kölner FDP benannte ihren früheren Kreisvorsitzenden, den Rechtsanwalt und Stadtratsabgeordneten Fritz Feller, als „Initiator der Verdächtigungen“ (Privatarchiv P. Finkelgruen).

Es folgten parteiinterne Briefe von Peter Finkelgruen an den Landesvorsitzenden, Strafanzeigen von Feller gegen Finkelgruen wegen übler Nachrede (28.1.72) und Einstellung dieses Verfahrens durch die Staatsanwaltschaft Köln (10.1.73).

September 1972: „Der Fall Finkelgruen ist abgeschlossen“

Am 30.9.1972 titelt die FAZ auf S. 6, in Korrektur ihrer früheren Beiträge, in einem langen, zweispaltigen Text: „Der Fall Finkelgruen ist abgeschlossen. Jura-Studentin erwägt Schadensersatzklage“. Sie spricht nun von einem „sensationell aufgemachten Bericht in der „Rheinischen Post“ und konstatiert: „Damit war der Fall Irmtrud Finkelgruen in die Welt gesetzt, der nun kein Fall mehr ist. Für die Staatsanwaltschaft ist er abgeschlossen, das Aktenstück von etwa 600 Seiten wird abgelegt werden.“ Der offenkundige Zusammenhang mit den FDP-internen Auseinandersetzungen wird erwähnt und hinzu gefügt: „Aber getroffen wurde sie, daran kann kein Zweifel sein. Spaltenlange Sensationsberichte in der Presse (…) und für die Einstellung des Verfahrens eine Nachricht.“ Zur politischen Intrige aus den Reihen der FDP heißt es abschließend: „In den „mit der Sache befaßten Landesbehörden“ konnte die Person, die die „Rheinische Post“ informierte, nicht festgestellt werden (…) Der Verlagsdirektor der Zeitung gibt, wozu er auch nicht gezwungen werden kann, den Namen des Informanten nicht preis.“

Das Handelsblatt bringt am 2.10.72 einen Kurzbeitrag, in dem festgestellt wird: „Die Anschuldigungen gegen Klug waren damals sofort entkräftet worden; das Ermittlungsverfahren gegen Irmtrud Finkelgruen wurde vor einigen Tagen wegen mangelnder Verdachtsmomente eingestellt.“

Eine Woche zuvor, am 22.9.72, brachte die Zeit mit „Kein Fall. Ermittlungsverfahren gegen Irmtrud Finkelgruen eingestellt“ einen dichten Rückblick wie auch eine überzeugende Rehabilitation zur – so lautete die Anklage – „versuchten Gefangenenbefreiung und der Unterstützung einer kriminellen Vereinigung“:

„Landeschef Heinz Kühn nannte sie eine „möglicherweise unzuverlässige Dame“. Regierungsdirektor Georg Bücker, Leiter der Justizvollzugsanstalt Köln-Ossendorf („neuer Klingelpütz“), schenkte ihr redlich den Wein seiner Erkenntnis ein: „Ich halte Sie für ein Sicherheitsrisiko.“ Der Kölner Staatsanwalt Klempt versuchte, sich seine Meinung durch das Anhören einer halben Hundertschaft Zeuginnen und Zeugen und Lesen eines schließlich auf 600 Blatt angewachsenen Aktenstücks zu bilden.

Das Resultat der Recherchen Klempts vermeldete unter dem Datum des 11. September 1972 und unter der Geschäftsnummer 24 Js 440/72 dessen Chef, der Leitende Oberstaatsanwalt Schwellenbach: „Betr.: Ermittlungsverfahren gegen Frau Irmtrud Finkelgruen. Ich habe das Verfahren gemäß § 170, Abs. 2 Strafprozeßordnung eingestellt.“ (Privatarchiv Peter Finkelgruen)

In den Medien galt der „Fall Finkelgruen“ als abgeschlossen. Die die Finkelgruens belastenden juristischen Prozesse, die alle für die Finkelgruens ausliefen, dauerten noch bis zum Oktober 1974. In einem Brief vom 31.1.1974 an „Herrn Chefredakteur Gross“ – Johannes Gross, Chefredakteur der Deutschen Welle, für die Peter Finkelgruen ja selbst arbeitete – zeigte sich Peter Finkelgruen erleichtert:

„… daß die publicityträchtige Affäre von vor zwei Jahren in Zusammenhang mit Vorwürfen betr. angeblicher Unterstützung der Bader-Meinhof-Gruppe nunmehr abgeschlossen ist. Das Amtsgericht verurteilte die Rheinische Post wegen Verletzung der journalistischen Sorgfaltspflicht zu einer beträchtlichen Schmerzensgeldzahlung an meine geschiedene Frau, welche damals das Hauptangriffsobjekt war. Ich glaube, daß dieser Ausgang der Angelegenheit mein damaliges Engagement nachhaltig in mehrfacher Hinsicht verständlich macht.“

Ein Epilog

Irmtrud Finkelgruen hat die politische Intrige ihrer „Parteifreunde“ gut überstanden. Juristisch hatte sie alle Prozesse gewonnen, ihre Unterlassungserklärungen mussten gedruckt werden. Selbst das Presseecho war, im Rückblick betrachtet, zumindest in den liberalen und eher linken Medien nicht nachteilig für sie.

Anfangs machte sie und Peter Finkelgruen die Erfahrung, dass sie bei der Wohnungssuche fortgesetzt Absagen erhielten. Der Name Finkelgruen war nun öffentlich „verbrannt“. Eine freundliche, im gleichen in Köln-Zollstocker Hochhaus lebende Nachbarin machte sich die Mühe, zwei Stockwerke zu ihrer Wohnung hinauf zu steigen, bei ihr zu klingeln und sie auszufragen, was es mit „ihren Kontakten zur RAF“ auf sich habe. Ein „Parteifreund“ schickte ihr, wie mir Peter Finkelgruen im Rückblick beschrieben hat, „die Polizei ins Haus“, weil er der Auffassung war, das rekonstruierte Fahndungsphoto einer unbekannten Bombenlegerin „entspreche der Finkelgruen-Physiognomie“. (Die Zeit, 22.11.72)

Als Peter Finkelgruen zehn Jahre später mit seiner Ehefrau Gertrud Seehaus als Korrespondent nach Israel geht (vgl. Kaufhold 2019c, d) besucht Irmtrud die beiden regelmäßig. Ihr Interesse am jüdisch-demokratischen Staat war ausgeprägt. Dennoch waren diese bösartigen, auf Vernichtung ausgerichteten Angriffe für sie traumatisch: Auch zehn, sogar zwanzig Jahre später verweigerte sie alle vorsichtigen Versuche von Peter Finkelgruen, sich noch einmal gemeinsam an diese albtraumartigen Ereignisse Anfang der 1970er Jahre zu erinnern. Peter Finkelgruen erinnert sich auch an einen sehr angenehm verlaufenden Besuch in der Wohnung der damaligen FAZ-Redakteurin Wilma Sturm, als der verleumderische und politisch motivierte Charakter dieser Intrigen offenkundig war, die aus rechten FDP-Kreisen aus dem NRW-Justizministerium stammten. Dort dominierte der von Achenbach und Mende dominierte Flügel, die getrost als Interessenvertreter ehemaliger und von strafrechtlicher Verfolgung bedrohter Nazis und Kriegsverbrecher betrachtet werden dürfen. Ernst Achenbach war während der deutschen Besatzung Frankreichs ab 1936 Attaché in der Deutschen Botschaft in Paris und war in der Funktion als Leiter der politischen Abteilung der Botschaft unmittelbar an der Verfolgung, Deportation und Ermordung von ca. 73.000 französischer Juden involviert. Im Gegensatz zu Lischka, Hagen und Heinrichsohn, die 1980 in Köln als einzige deutsche Verantwortliche überhaupt zu acht, zehn und zwölf Jahren Haft wegen der Ermordung von 73.000 französischen Juden verurteilt wurden (vgl. Kaufhold 2013a, b, Klarsfeld 1977) – von denen sie nur einen Teil „absitzen“ mussten – , hatte der FDP-Bundestagsabgeordnete Achenbach auch nach dem Krieg höchste Funktionen inne, die er über Jahrzehnte nachdrücklich und durchsetzungsfähig zum Schutz von NS-Tätern einsetzte. Serge und Beate Klarsfeld haben Dokumente veröffentlicht, die Achenbachs Involvierung in den mehr als 70.000fachen Judenmord in Frankreich eindeutig belegen (Klarsfeld 1977)[8].

Späte Jahre

Nach dem Abschluss ihres Studiums ging Irmtrud Finkelgruen nach Trier und wurde dort Richterin. Später wurde sie hoch angesehene Vorsitzende eines Trierer Schwurgerichts. Ein bereits erwähntes, anlässlich ihrer Pensionierung verfasste lesenswerte Portrait über sie („Der Charme des Gesetzes“: Lintz, 2005) beginnt so:

„Dass Richter gemeinhin von Berufs wegen nicht mit der angenehmsten Klientel zu tun haben, liegt auf der Hand. Aber wer jahrelang einer Schwurgerichtskammer vorgestanden hat, watet mehr als jeder andere durch die Untiefen menschlicher Existenz. Mafiöse Auftragskiller, zerstückelte Leichen, Psychopathen, Eifersuchtsmörder: Die Abgründe, mit denen sich Irmtrud Finkelgruen in den letzten Berufsjahren vor der Pensionierung auseinander zu setzen hatte, wären geeignet, den stärksten Mann in Depressionen verfallen zu lassen. Aber sie ist kein Mann. Und depressiv schon gar nicht. Im Gegenteil. Von der „faszinierenden Materie“ spricht sie, vom Sich-Vortasten in den „Grenzbereichen des Menschlichen. (…) Als vor Jahren ein Trierer Staatsanwalt mit Freunden in der Kneipe Nazi-Lieder sang, war es Irmtrud Finkelgruen, die nicht tatenlos zusah. Kein Fall für ein Helden-Epos, aber doch ein mutiger Schritt in einem Umfeld, wo Justitia gemeinhin in eigener Sache die Reihen und die Binde vor den Augen fest geschlossen hält. Aber auch das hat mit der Lebensgeschichte zu tun. Mit der Sozialisation in der 68er-Studienzeit und dem Engagement für die FDP, als sie noch die wellige Partei eines Karl-Hermann Flach war und nicht die flache Partei eines Guido Westerwelle. Und vor allem mit der jüdischen Familie ihres früheren Ehemanns, die der Nazi-Verfolgung tödlichen Tribut zollen musste. Wenn sie davon spricht, setzt sie sich auf, wird ernst, blättert im Kopf die Familiengeschichte durch.“

Die Sache mit dem „offenkundig rechtsradikalen Staatsanwalt“ – wie der Spiegel (14.12.1987) schrieb – wurde vom Spiegel in seinem Kurzbeitrag so beschrieben: „Obwohl er bei diversen Feiern in Anwesenheit von Richtern und Verteidigern mehrfach verbotene Nazi-Lieder sang und auch schon mal die Hand zum Hitlergruß hob“, blieb der für politischer Straftaten Zuständige „von der Justiz bislang unbehelligt. Dies könnte sich bald ändern. Irmtrud Finkelgruen, Richterin am Landgericht Trier und eines der Opfer von Leisens Attacken, hat jetzt als erste das „Kartell des Schweigens“ (ein Gerichtsinsider) durchbrochen. Leisen machte sich nicht nur über ihren jüdischen Namen lustig. Irmtrud Finkelgruen zum SPIEGEL: „Er sang in meiner Anwesenheit mehrfach das Horst-Wessel-Lied.“ 

Nach einem bundesweit Aufsehen erregenden Strafprozess gegen den Montenegriner Muhamed Agovic wegen Mordes und zahlreicher Drogengeschäfte im Jahr 2000[9] – der Verurteilte floh dreieinhalb Monate nach Urteilsspruch, am 30.12.2000, gemeinsam mit einem Landsmann mit Unterstützung einer Gefängnisaufseherin aus dem Trierer Gefängnis; für die Flucht benötigte der Vollprofi weniger als fünf Minuten – stand Irmtrud Finkelgruen für ein knappes halbes Jahr wegen Morddrohungen unter Personenschutz. Bei ihrer altersbedingten Pensionierung wenige Jahre später kamen ihre seinerzeitigen Personenschützer samt Familie nahezu geschlossen zur Verabschiedung. Das Projekt eines Kriminalromanes, den Irmtrud Finkelgruen nach ihrer Pensionierung noch verfassen wollte, vermochte sie nicht mehr zu realisieren.

Irmtrud Finkelgruen verstarb am 31.12.2014.

[„Mich erfüllte ein Gefühl von Stolz. Ich hatte es geschafft“ – Peter Finkelgruen wird 80]

Literatur

Privatarchiv Peter Finkelgruen über „den Fall“ Irmtrud Finkelgruen & Ulrich Klug (ca. 200 Seiten private Korrespondenz, juristische Schreiben, Pressebeiträge, Beschlüsse der Kölner FDP). Die zitierten Materialien sind archiviert bei der Stiftung Rheinisch-Westfälisches Wirtschaftsarchiv zu Köln (RWWA), Vorlass Peter Finkelgruen, Köln, RWWA 570-16-1.

Baum, G. (2019): Die Erinnerung an die Edelweißpiraten lebt! Neues Vorwort zu: Peter Finkelgruen (1981): Soweit er Jude war, haGalil 2019: http://www.hagalil.com/2019/10/gerhart-baum/

Der Spiegel (1971): Affären. Etwas bleibt hängen, 22.11.1971. Internet: http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-43144602.html

Finkelgruen, I. (1971): „Chronologie“: Maschinengeschriebenes, mit handschriftliche Zusätzen versehenes, zwei Seiten: Privatbesitz Peter Finkelgruen.

Finkelgruen, P. (2019): Sie waren Widerstand genug! Neues Vorwort zu: Peter Finkelgruen (1981): Soweit er Jude war… In: Finkelgruen (2020), S. 209-216: http://www.hagalil.com/2019/11/edelweisspiraten-vorwort/

Finkelgruen, P. (2020): „Soweit er Jude war…“ Moritat von der Bewältigung des Widerstandes. Die Edelweißpiraten als Vierte Front in Köln 1944, Hrsg. v. Roland Kaufhold, Andrea Livnat und Nadine Englhart, Hardcover, 352 S., ISBN-13: 9783752812367: https://www.bod.de/buchshop/soweit-er-jude-war-peter-finkelgruen-9783751907415

Goettle, G. (2008): Im toten Trakt. Astrid Proll erzählt von Dorothea Ridder, taz, 23.11.2008: http://www.taz.de/!5172296/

Kaufhold, R. (2012): Keine Heimat. Nirgends. Von Shanghai über Prag und Israel nach Köln – Peter Finkelgruen wird 70, haGalil März 2012: http://www.hagalil.com/2012/03/finkelgruen-7/

Kaufhold, R. (2013a): Im KZ-Drillich vor Gericht: Ein Sammelband beschreibt, wie Serge und Beate Klarsfeld Schoa-Täter aufspürten und der Gerechtigkeit zuführten, Jüdische Allgemeine, 4.7.2013: https://www.juedische-allgemeine.de/kultur/im-kz-drillich-vor-gericht/

Kaufhold, R. (2013b): „Ich erinnere mich an diesen Deutschen ganz genau“ – Erinnerungen an den Lischka-Prozess, haGalil, 29.5.2013: http://buecher.hagalil.com/2013/05/lischka-prozess/

Kaufhold, R. (2017): 40 Jahre nach Entebbe. Deutsche Linke, Erinnerungen an den Holocaust und Antizionismus, haGalil, 2.2.2017: http://www.hagalil.com/2017/02/40-jahre-nach-entebbe/

Kaufhold, R. (2018): Dieter Kunzelmann ist tot. Der Protagonist des „Judenknaxes“ und des linken Antisemitismus ist tot, haGalil, 21.5.2018: http://www.hagalil.com/2018/05/kunzelmann/

Kaufhold, R. (2019a): Die Unangepassten. Vor 40 Jahren verfasste Peter Finkelgruen ein Buch über die Kölner Edelweißpiraten, Jüdische Allgemeine, 6.10.2019. Internet: https://www.juedische-allgemeine.de/kultur/die-unangepassten/

Kaufhold, R. (2019b): Die „Kölner Kontroverse“. Bücher über die Edelweißpiraten (1980 – 2019), haGalil: http://www.hagalil.com/2019/09/edelweisspiraten-kontroverse/

Kaufhold, R. (2019c): Eine jüdische APO. Vor 40 Jahren gründeten Henryk M. Broder und Peter Finkelgruen in Köln die »Freie Jüdische Stimme«, Jüdische Allgemeine, 4.7.2019 https://www.juedische-allgemeine.de/kultur/eine-juedische-apo/

Kaufhold, R. (2019d): Eine „jüdische Apo“. Die Freie jüdische Stimme (1979 – 1980), haGalil, 7.7.2019 http://www.hagalil.com/2019/07/freie-juedische-stimme/

Klarsfeld, S. (Hg., 1977): Die Endlösung der Judenfrage in Frankreich. Deutsche Dokumente 1941-1944, Paris: The Beate Klarsfeld Foundation, Internet: https://phdn.org/histgen/dokfran/index.html

Kraushaar, W. (2005): Die Bombe im Jüdischen Gemeindehaus. Hamburg: Hamburger Edition.

Kraushaar, W. (2013): Wann endlich beginnt bei Euch der Kampf gegen die heilige Kuh Israel?“ München 1970: über die antisemitischen Wurzeln des deutschen Terrorismus. Reinbek: Rowohlt Verlag.

Lintz, D. (2005): Der Charme des Gesetzes. Portrait über Irmtrud Finkelgruen, Trierischer Volksfreund – Nachrichten aus der Region Trier: http://www.volksfreund.de/nachrichten/aktionen/archiv/archiv/wochenendjournal/Wochenendjournal-Der-Charme-des-Gesetzes;art944,703823 (abgerufen am 1.1.2017).

Lissner, C. (2006): Den Fluchtweg zurückgehen. Remigration nach Nordrhein und Westfalen 1945 — 1955, Klartext-Verlag. 

von Schwind, P. & I. Finkelgruen (2014): Franz Kafka lässt grüßen. Ein alltägliches Beispiel für staatliche Repression in den 70ern, in: Schmidt, R./ A. Schulz/ P. von Schwind (Hg.): Die Stadt, das Land, die Welt verändern!: Die 70er/80er Jahre in Köln – alternativ, links, radikal, autonom. Köln: KIWI, S. 394-398.

Wüllenweber, H. (1972): Kein Fall. Ermittlungsverfahren gegen Irmtrud Finkelgruen eingestellt, Die Zeit, 22.9.1972: http://www.zeit.de/1972/38/kein-fall


Anmerkungen:

[1] Wie ich erst nach Abschluss dieser Studie entdeckt habe sind einige wenige der von mir nachfolgend dokumentierten und analysierten Materialien auch in dem Beitrag von P. von Schwind & I. Finkelgruen (2014) in einem Buch über die linke Bewegungen Kölns der 1970er und 1980er Jahre zitiert worden.

[2] Der 1902 geborene Jurist Neuberger war 1933 als Jude von den Nationalsozialisten aus der Anwaltskammer ausgeschlossen worden und emigrierte nach Palästina . Dort schloss er sich der linken zionistisch-sozialistischen Partei Poale Zion an. Er gehörte zu den wenigen Emigranten, die sich bereits 1950 zur Rückkehr nach NRW entschlossen haben (vgl. Lissner 2005). 1966 war er unter dem Emigranten Kühn (SPD) Justizminister in NRW geworden.

[3] Die Studie „Köln, Herbst 1977: Terrorfahndung“, in welcher Peter Finkelgruens Konfrontation mit dem Terrorismus und der Terrorfahndung nacherzählt wird, erscheint demnächst auf hagalil.

[4] Diese militärischen Trainingslager waren zugleich die Geburtsstunde dessen, was man als einen militanten deutschen „linken Antisemitismus“ bezeichnet und dessen verdichtetstes Symbol die Entführung von Entebbe im Jahr 1976 ist: Deutsche Linke praktizierten nun, gemeinsam mit palästinensischen Terrorgruppen, mit klinisch reinstem Gewissen und seelischen Triumphgefühlen eine Selektion von Juden. Dieter Kunzelmanns berüchtigter antisemitischer Schlachtruf vom „Judenknacks“, den man „überwinden“ müsse (Kaufhold 2018)

http://www.hagalil.com/2018/05/kunzelmann/, das Bombenattentatsversuch in der Berliner Jüdischen Gemeinde (1969) und die Ermordung von sechs jüdischen Shoahüberlebenden im Münchner jüdischen Altersheim (1970) korrespondieren mit dieser deutschen antisemitischen Tradition (vgl. Kaufhold 2017, Kraushaar 2005, 2013).

[5] Später stellte sich heraus, dass es sich bei dieser Person um Rosemarie Keser handelte, einer ehemaligen Freundin Prolls, die per Haftbefehl gesucht wurde und 1973 auf einem der seinerzeit sehr bekannten, mit „Anarchistische Gewalttäter“ sowie „Mit Haftbefehl gesuchte anarchistische Gewalttäter verschiedener Gruppen“ überschriebenen Fahndungsfotos abgebildet war. Diese Fahndungsfotos hingen in unzähligen Amtsgebäuden. Über Kesers weiteres Schicksal ist nichts bekannt; ihre letzte Erwähnung im Spiegel und in der ZEIT datieren aus dem Jahr 1972. Es ist anzunehmen, dass sie danach ihr Leben unter einer neuen Identität fortgesetzt hat.

[6] Name von mir anonymisiert.

[7] Mit „Proll-Plausch“ wird auf die RAF-Terroristin Astrid Proll angespielt, die in Köln-Ossendorf als Häftling einsaß.

[8] Siehe hierzu u.a.: Der Spiegel, 15.1.1973: Nazi-Verschwörung in der FDP: Geheimhaltung der Gauleiter https://www.spiegel.de/geschichte/naumann-kreis-die-unterwanderung-der-fdp-durch-altnazis-a-951012.html; Der Spiegel 15.7.1974: „Ach, ach, der Achenbach…“: https://www.spiegel.de/spiegel/print/d-41700582.html; Der Spiegel 20.7.1974: Abgeordnete: Der Welt Lohn https://www.spiegel.de/spiegel/print/d-41659877.html; Der Spiegel 29.11.2010: FDP: Freudige Mitarbeit https://www.spiegel.de/spiegel/print/d-75376539.html.

[9] Siehe hierzu: Gisela Friedrichsen: „Du bist mein Schicksal“, der Spiegel, 30.7.2001. Internet: http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-19752696.html (abgerufen am 1.1.2017).