Briefwechsel der Familie Finkelgruen

[„Mich erfüllte ein Gefühl von Stolz. Ich hatte es geschafft“ – Peter Finkelgruen wird 80]

Briefwechsel Hans Finkelgruen an Herbert Ashe (Bamberg / USA) 1937 – 1939

Die Beiträge sind auch als Buchveröffentlichung erhältlich.

Roland Kaufhold: „Mich erfüllte ein Gefühl von Stolz. Ich hatte es geschafft.“ Peter Finkelgruen: Ein halbes Jahrhundert Leben als Jude in Deutschland, BoD 2022, 244 S., Euro 12,99, Bestellen?


In den Jahren von 1937 bis 1941 schickte Hans Finkelgrün zahlreiche Briefe an seinen Bamberger Jugendfreund Herbert Ashe. Mir liegen allein 30 Briefe von Hans Finkelgrün an Herbert Ashe vor, weiterhin mehrere Antwortschreiben von Herbert Ashe an Hans sowie an Esti Finkelgrün. Sie kreisen um die Fluchtmöglichkeiten von Hans und Esti Finkelgrün aus dem bedrohten Prag.

Mit Herbert Ashe und Dora in Bamberg, ca. 1934

Eine umfangreiche Aufarbeitung und Dokumentation dieses Briefwechsels von Hans und Esti Finkelgruens u.a. mit Herbert Ashe (zuvor: Herbert Eschwege) (USA), Dora (Dorle) Finkelgruen (in Israel: Schaal) sowie (Zürich) wäre grundsätzlich möglich. Ich würde mich auch freuen, wenn weitere Aspekte dieses bedeutsamen Briefwechsels in Sammelbänden etc. dokumentiert werden könnte. Verlage bzw. Herausgeber können sich gerne bei Interesse bei mir melden.

Hans Finkelgruen verschickt seinen ersten Brief (15.9.37) aus Bamberg an Herbert Ashe; Ashe lebte zu diesem Zeitpunkt noch in Bamberg. Den Zweiten (3.10.1937) verschickt er aus Berlin. Am 14.8.38 schreibt er aus Pystian (Slowakei), am 22.9.38 aus Prag, wohin er mit Esti geflohen war. Auch sein Vater Martin und dessen Lebensgefährtin Anna waren nach Prag emigriert. Im folgenden Jahr schreibt er aus Prag zumindest 17 weitere Briefe, der letzte erhalten Gebliebene datiert vom 12.9.1939.

Die Beziehung zwischen Hans Finkelgruen und dem fünf Jahre jüngeren Herbert Ashe – in seiner Zeit in Deutschland hieß er noch Eschwege, amerikanisierte seinen Namen nach seiner Emigration in die USA im Sommer 1938 jedoch in Ashe – hatte anfangs ambivalente Anteile: Sie waren beide in Bamberg in Esti verliebt gewesen. Zeitweise Siezten sie sich auch noch, seinerzeit nicht ungewöhnlich, gingen dann aber langsam zum Du über. Bei vereinzelten Briefen, die eher einen geschäftlichen bzw. offiziösen Charakter trugen, ging Hans wieder zum Sie über.

Herbert Ashe[1], am 1.6.1912 in Bamberg geboren, ist 101 Jahre alt geworden. Er wuchs in einer jüdischen Familie auf, seine Eltern waren Selma und Jacob Eschwege[2], 1938 emigrierte er nach New York. Seine Eltern und der Rest seiner Familie wurden Opfer der deutschen Shoah. Lange wusste er nichts über deren Schicksal. Es gelang Herbert Ashe rasch, sich in New York beruflich zu etablieren: Er arbeitete u.a. beim York Custom Shop und bei Woolworth Stamford. In einem Nachruf wurden sein Optimismus und seine Menschlichkeit hervorgehoben.

Zu den Briefen[3]

Esti

„Von Esti lässt sich dagegen mit großer Bestimmtheit sagen, dass sie von alleine mit der Sache nicht fertig wird. Sie steht erheblich hilflos zwischen uns beiden“

Am 12.9.1937 schickt der 29-jährige Hans Finkelgruen an den fünf Jahre jüngeren Herbert Ashe einen persönlich gehaltenen, vier Seiten langen Brief: Er spricht ihn mit Vornamen an, Siezt ihn jedoch. Er beschreibt die für beide schwierige Situation: Er habe Esti seit drei Monaten nicht mehr gesehen, in dieser Zeit jedoch „ein Nachlassen in der Herzlichkeit, mindestens aber ein lebhaftes Schwanken des Gefühls bemerkt“. Er habe mit Esti zwei intensive Gespräche geführt, um die Situation zu klären. Er schreibe ihn deshalb direkt an, um „Ihnen ein Bild von der inneren Situation der Beteiligten zu geben“ und fügt besorgt hinzu: „Von Esti lässt sich dagegen mit großer Bestimmtheit sagen, dass sie von alleine mit der Sache nicht fertig wird. Sie steht erheblich hilflos zwischen uns beiden.“ Hans Finkelgruen bittet ihn, für sich selbst zu entscheiden, „was Sie wollen, aber entscheiden Sie. Sie haben vollkommen freie Bahn.“

Um so beeindruckender erscheint mir der Fortgang ihrer Beziehung: Ashe hält auch nach seiner Emigration nach New York – sieben Monate später, im April 1938 – engen brieflichen Kontakt zu beiden, wie auch zu Hans Schwester Dorle in Palästina, unterstützt sie fortgesetzt durch Geld und Lebensmittelpakete. Und Jahrzehnte später, nach dem Tode von Hans und Esti, nimmt Ashe Kontakt zu Peter Finkelgruen auf, besuchte ihn mehrfach in Köln und bringt ihm nacheinander alle Briefe.

„Meine Haltung ist gar nicht groß, ich bemühe mich nur, menschlich zu sein“

Einen Monat später, am 3.10.37, versichert Hans gegenüber Herbert noch einmal seine überaus wohlwollende Grundhaltung: „Meine Haltung ist gar nicht groß, ich bemühe mich nur, menschlich zu sein. (…) Ich hätte doch, nicht wahr, nicht so offen und ausführlich an Sie geschrieben (…) wenn ich Sie nicht als meinen Freund betrachtet hätte.“ Er schließt seinen Brief mit der Bemerkung: „Ich werde mich sehr freuen, von ihnen ausführlicher zu hören.“

„Vater und Esti sind in Karlsbad. Unsere Pläne  sind noch nicht genau, vorläufig korrespondiere ich mit Esti darüber.“

Am 14.8.38 schreibt Hans nun aus Pystian / Piestany im heutigen Slowenien, seinerzeit CSSR, knapp 500 km von Karlsbad (CSSR) entfernt. Herbert ist vier Wochen zuvor in New York City angekommen. Er nennt ihm die Anschrift von Hugo Eisenstädter, einem „bekannten hiesigen Exporteur, der in New York City einen zuverlässigen Menschen braucht.“ Es ist eine pragmatische Möglichkeit, sich auch im Prager Exil eine eigene ökonomische Existenz aufzubauen. In einem separaten, privat gehaltenen Begleitbrief an Herbert Ashe beschreibt er die eingeschränkten Arbeitsmöglichkeiten des von Wien in die CSSR emigrierten Geschäftsmannes Eisenstädter – „eines der bekanntesten und solidesten Wiener Exporthäuser“. Wegen seiner Position als Emigrant sei dieser „in der peinlichen Lage (…) in seiner Bewegungsfreiheit gehindert“ und von Konkurrenten hierdurch gezielt geschädigt zu werden. Dennoch hofft er auf eine Kooperation zwischen Eisenstädter und Ashe in New York. Seine eigene Situation ist noch ungeklärt, sein Optimismus hingegen ist ungebrochen: „Vater und Esti sind in Karlsbad. Unsere Pläne  sind noch nicht genau, vorläufig korrespondiere ich mit Esti darüber. (…) Die größeren Entscheidungen werden erst im September fallen.“

„Wenn Ihr wüsstet, wie oft ich in letzter Zeit an Euch gedacht habe“

Vier Tage später schickt Hans ein ausführliches Schreiben, in dem er Möglichkeiten einer ökonomischen Zusammenarbeit auszuloten versucht. Er hat Herbert hierzu eine Mustersendung von sechs Paar eigener Pantoffeln geschickt. 18 Tage später, am 5.9.1938, antwortet ihm Ashe aus New York in einem offiziellen sowie zusätzlich in einem privaten Brief. In letzterem entschuldigt er sich für seine späte Reaktion: „Wenn Ihr wüsstet, wie oft ich infolge der politischen Zuspitzung in letzter Zeit an Euch gedacht habe, dann würdet Ihr mir vergeben. (…) Solltet Ihr Euch jedoch eines Tages entschließen – hoffentlich nicht entschließen  m ü s s e n – Europa den Rücken zu kehren, so wisst Ihr, dass ich Euch immer so weit es in meinen Kräften steht zur Seite stehen werde, insbesondere was eine Bürgschaft betrifft, um hierher zu gelangen.“

Er beschreibt ausführlich seine ersten neun Wochen in New York, seinen Versuch, einen ersten Job zu bekommen: „… bekam dann eine Vertretung für Herrenhemden nach Maß. (…) Langsam und sicher hoffe ich mir eine etwas aussichtsreichere Sache aufbauen zu können. Vorläufig verdiene ich knapp so viel, wie ich brauche. (…) Vor allem, es macht mir Spaß.“ Zeitgleich schickt Ashe einen ausführlichen Brief an Eisenstädter in Piestany, in dem er die noch problematischen Rahmenbedingungen für eine zukünftige Kooperation skizziert.

„Alle unsere bisherigen Pläne sind von einem zum anderen Tag vernichtet“

Am 22.9.1938 schreibt Esti aus Prag einen handschriftlichen, vier kleinere Seiten langen Brief an Herbert, ihre Besorgnis und Verunsicherung prägen das Schreiben. Ihre Schwägerin Dora ist auf der Durchreise in Prag vorbei gekommen und sei nun wieder auf dem Wege „ins Gelobte Land“, nach Palästina. Herbert Ashes Briefe stellen für sie eine außerordentliche Ermutigung dar: „Wir haben uns alle mit Deinem Brief sehr gefreut um so mehr als dieser hier in einer Zeit der privaten Aufregungen nun doch gleich eine Beruhigung und Ermunterung war.“ Durch die politische Entwicklung, die Intrigen, fühlt sie sich konkret bedroht: „Alle unsere bisherigen Pläne sind von einem zum anderen Tag vernichtet.“ Ihren Karlsbader Laden mussten sie sehr rasch schließen, vermochten ihre Waren jedoch mitzunehmen. Ob sie ihre private Einrichtung noch retten können wissen sie noch nicht. Sie entschuldigt sich bei ihm über ihr „Gejammere“, aber ihre „Nervosität“ habe sich in der letzten Zeit so sehr gesteigert, dass sie sich nun zumindest brieflich „unbedingt Luft machen muss.“ Besonders dankt sie ihm für die Bereitschaft, für sie eine Bürgschaft auszustellen, „wir denken ernsthaft daran. Es ist auch der einzige Anreiz für uns.“ Ihre Chancen, ein Affidavit für die USA zu erlangen, steigern sich hierdurch beträchtlich.

„Karlsbad ist seit dem 3.10. besetzt. Vater und ich sind täglich bedroht“

Drei Wochen später, am 10.10.1938, schickt Hans (Barthouova 95/IV, Prag) erneut einen längeren Brief an Herbert. Selbst dieser optimistische Mensch vermag seine konkreten Bedrohungsgefühle kaum noch zu verdrängen: „Wir sind hier alle 4, d.h. der Vater, Esti und ihre Mutter und ich in P. (Prag, d. Verf.). Wir verkaufen mit dem schon sprichwörtlichen Optimismus bereits wieder unsere Handschuhe an den drei besten Plätzen der Stadt. Wir leiden daher, obwohl uns durch die Okkupation von Karlsbad – falls Sie es noch nicht wissen sollten, Karlsbad ist seit dem 3.10. besetzt, deutsches Gebiet und Esti wird, wenn sie nicht rechtzeitig optiert, deutsche Staatsangehörige – der ebenfalls sprichwörtliche Boden unter den Füßen weggezogen, ein Teil unseres Geschäftes und unser ganzes sogenanntes Privatvermögen genommen wurde.“ Dennoch kämen sie ökonomisch noch zurecht, hätten „keine tägliche Not und haben die gewohnte Flasche Sekt am Abend.“ Letztlich sei „die Sache ziemlich unhaltbar. Die CSR ist durch die Verkleinerung, die viel grösser ist als man es sich draußen vorstellt, Asthma krank geworden und wird loszuwerden versuchen, wenn sie kann. Vater und ich sind täglich bedroht.“

Auch Esti könne jederzeit ein Arbeitsverbot treffen: „Sie kennen aber ja das Hitlerregime, seine Eroberungen und deren Folgen. Sie wissen, dass ich Situationen immer sehr kühl beurteile und wenn ich Ihnen schreibe: Es brennt, dann dürften Sie im Klaren sein.“

Hans bittet Herbert nun konkret, sich für die Möglichkeit ihrer Einreise in die USA einzusetzen. Er beschreibt noch einmal seine Ausbildungen, weiß jedoch zugleich, dass das „wohl nicht so sehr wichtig“ sei: „Wenn man drüben ist, wird man sich schon durchbringen. Das Wichtigere ist wohl doch das Hinüberkommen.“ Er bittet Herbert darum, ihm präzise mitzuteilen, „was wir tun müssen“ und fügt am Ende handschriftlich hinzu: „Bitte antworten Sie per Flugpost mit allen Details.“ Martin Finkelgruens tiefe Besorgnis nimmt immer weiter zu.

„Ihr seht, dass die Fragen des Herüberkommens alle anderen weit in den Schatten stellt.“

10 Tage später, am 20.10.1938, antwortet Ashe auf “Eure lb. Briefe“. Er hat extra einen „Vormittag blau“ gemacht, um detailliert zu antworten: Er versichert ihnen „nochmals“, dass er „alles daransetzen werde, Bürgschaften für  Euch aufzutreiben“. Er ist auch optimistisch, dass es mit einem Affidavit klappt, bittet sie aber dennoch, auch die ärgste Variante als Option im Hinterkopf zu behalten, als Schutz vor einer Enttäuschung. Herbert Ashe bittet in einer sehr detaillierten Darstellung um präzise Angaben über deren Geburtsdaten und Lebensorte und Angaben zu deren Eltern, aber auch um eigene Recherchen, um Möglichkeiten einer Ausreisegenehmigung in dieser schwierigen welt- und innenpolitischen Situation zu eruieren; dann fügt Hans noch hinzu: „Ihr seht, dass die Fragen des Herüberkommens, alle anderen (…) weit in den Schatten stellt.“

„Da die Affidavits sicher nicht auf der Straße herum liegen, schlage ich eingehendenfalls folgende Reihenfolge vor“

Wiederum zehn Tage später, am 30.10.38, vermag Hans ihm in einem zweiseitigen Schreiben alle biografischen Daten der Familie schriftlich mitzuteilen. Nicht frei von Selbstironie merkt er an: „Da die Affidavits sicher nicht auf der Straße herum liegen, schlage ich eingehendenfalls folgende Reihenfolge vor: 1. Für Esti, 2. Für mich 3. Für Vater. Auch die Möglichkeit einer Heirat erwähnt er, um die Ausreisechancen zu erhöhen. Dann: „Von der Unsicherheit abgesehen, geht es uns gut.“ Hans dankt Herbert noch einmal für seine Briefe und Unterstützungen. Für sie sei es eine ganz außerordentliche Ermutigung, einen so „guten Freund in Amerika“ zu haben.

„Die Lage hier ist weiter äußerst unsicher und sehr nervenaufreibend“

Eine Woche später, am 8.11.1938, schickt Hans – mit neuer Prager Anschrift – einen weiteren Brief: Hiermit beginne nun für ihn „die Reihe der Ergänzungsbriefe zu unserem ersten Hilfeschrei.“ Ashe solle sich keineswegs genötigt sehen, auf diese Briefe zu reagieren. Dennoch: „Die Lage hier ist weiter äußerst unsicher und sehr nervenaufreibend. In gewissem Sinne ist der Zustand fast schlimmer als in D. und jedenfalls viel ungewisser. Wir arbeiten natürlich hier unentwegt weiter, uns soviel Mittel wie möglich zu verschaffen und uns so gut es geht vorzubereiten. Aber auf untrainierte Leutchen wie die kleine Esti wirkt dieses Auf und Ab und die Rechtlosigkeit sehr deprimierend.“ Hans bittet darum zu klären, wie viel Schweinslederhandschuhe in den USA wert sein könnten, als mögliche ökonomische Perspektive. Auch Eisenstätter sei zwischenzeitlich in Prag angekommen: „… in der Slowakei, wo er war, geht es nämlich toll zu, Razzien und nächtliche Verhaftungen in den Kurhäusern.“

„… könnt Ihr Euch denken, wie sehr ich mich freue, dass ich Euch einliegend die Bürgschaft schicken kann“

Am 15.11.1938 schickt Herbert, offensichtlich unter größter Eile, ein weiteres Schreiben an Hans und Esti, in dem er sie kurz über weitere Ereignisse unterrichtet:
„Wie Ihr seht waren meine Bemühungen von Erfolg und könnt Ihr Euch denken, wie sehr ich mich freue, dass ich Euch einliegend die Bürgschaft schicken kann. Ich wünsche Euch nun recht viel Glück auf dem Konsulat und hoffe, dass alles so schnell als möglich geht. Die Bürgschaft wird hoffentlich genügend sein und vollständig. Sollte wider Erwarten irgendwelche Zweifel aufrauchen, so lasst es mich auf dem schnellsten Weg wissen. Papa F. mit einzuschließen wäre wohl zu riskant gewesen, doch wird es Euch nicht schwer fallen, für ihn zu sorgen, wenn Ihr erst einmal hier seid.“

Herbert nennt weitere Details, die bei einer möglichen Einreise in die USA zu beachten wären, betont aber, dass er absolut keine Zeit habe. Er nennt weitere Verwandte, die sich für sie einsetzen würden, erwähnt aber auch Enttäuschungen: „Mit X. X. (der Name ist im Manuskript genannt) habe ich mich nicht mehr auseinandersgesetzt, da nicht nötig. Ich glaube auch nicht, dass es Zweck gehabt hätte. Obwohl er vor Geld stinkt, tut er nicht einmal was für seine eigenen Verwandten.“

„Papa F. und Mutter B. lassen durchaus nicht den Kopf hängen“

Am 29.11.1938 bietet Hans Herbert – „da Esti und ich unsere Briefe immer gemeinsam schreiben“ – das „Du“ an. Auch in dieser bedrängenden Situation hat er Zeit für seinen Humor; zur Einführung des „Dus“ merkt er an: „… auch wenn wir die dazu gehörige alkoholische Szene aus Gründen der praktischen Geographie vorläufig noch aufschieben müssen.“ Sie hätten am Montag dem 28.11.38 das Affidavit eingereicht, „einen netten und rührenden Begleitbrief wegen Beschleunigung dazu geschrieben und harren nun der Dinge, die da kommen sollen.“ „Papa F. und Mutter B.“, so fügt er hinzu, ließen „durchaus nicht den Kopf hängen.“

Und zwischendurch immer wieder verstreute Hinweise auf gemeinsame Freunde und Verwandte in Bamberg, von denen es „gute Nachricht“ gebe: „Wir haben aus Bamberg über Tante Sofie auch gute Nachricht, d. h. Bescheid, dass sie gesund und in Ordnung ist und freuen uns, dass Du von Deinen Eltern das Gleiche gehört hast. Weiter kann man ja heute leider nicht denken.“ Das innere Verdrängen des Wahrscheinlichen, der Ermordung weiterer Verwandter und Freund durch die Deutschen, ist die seelische Voraussetzung, um für sich selbst den Kampf für das eigene Überleben fortsetzen zu können. Die Wirklichkeit jedoch war noch brutaler und zerstörerischer, als sich dies Hans und Esti Finkelgruen und Herbert Ashe zu diesem Zeitpunkt vorzustellen vermochten.

„Heute kamen 655 German Jews allein mit der New Amsterdam an“

Am 15.12.1938 schickt Herbert Ashe ein ausführliches Antwortschreiben an Esti und Hans. Er hofft, dass seinen eigenen Eltern noch die Flucht aus Bamberg gelingt, was sich auf barbarische Weise als eine trügerische Hoffnung erweisen sollte. Die Situation für neu ankommende jüdische Flüchtlinge in New York habe sich durch den Zustrom immer neuer Emigranten – „(heute kamen 655 German Jews allein mit der New Amsterdam an)“ – verschlechtert. Die Toleranz ihnen gegenüber sei massiv zurück gegangen. Er habe das Gefühl, dass „die gutwilligen Amerikaner oder amerikanischen Juden mit ihrem Latein zu Ende sind.“ Esti und Martin sollten in den USA lieber in Randgebiete, etwa nach Oklahoma, Denver oder Omaha gehen, „wo vielleicht 3 Flüchtlinge sitzen, so bist Du eine Ehrenrunde und wirst u.U. vom Gesangsverein Keuchhusten am Bahnhof empfangen.“

Abschließend gibt er ihnen angesichts der sich rapide zuspitzenden Prozesse der Entrechtlichung die Empfehlung, bei einer Emigration so viel Geld und Wertsachen wie gesetzlich erlaubt mitzunehmen.

Am 12.1.1939 schickt ein New Yorker Geschäftsmann, M. Lang Goldschmidt, einen ausführlichen deutschsprachigen Brief an Hans, in dem er ihm detailliert mögliche ökonomische Kooperationsformen darlegt.

„Die Lage für hier lebende deutsche Juden ist erheblicher Gefährlicher als für die in Deutschland Lebenden“

Am 1.2.1939 schreibt Hans erneut an Herbert Ashe. Ihre Lebenssituation in Prag hat sich erneut dramatisch zugespitzt:
„…Ich habe für heute etwas Wichtigeres zu besprechen; wenigstens ist es für uns bedeutsamer. Die Verhältnisse hier haben sich so sehr verändert, dass nur noch das allergeringste Maß an Sicherheit für uns gegeben ist. Die Lage für hier lebende deutsche Juden ist erheblicher gefährlicher als für die in Deutschland Lebenden. Man muss – ganz gleichgültig, was die vereinigte Weltpresse bringt, – bezüglich der CSR mit dem Schlimmsten rechnen; wenigstens aber damit, dass der deutsche Einfluss hier ein Vollständiger sein wird. Was das bedeutet, kannst Du Dir vorstellen – eine erneute und dann, schon aus Sprachschwierigkeiten und anderen lokalen Gründe verschärfte Neuauflage von Wien und Sudentengebiet.

A propos Sudetengebiet: Von dem, was sich dort abgespielt hat, hat in den Zeitungen so weit ich weiß, nichts gestanden. Aber es hat hinter dem, was sich in Wien ereignete, in keiner Weise zurückgestanden. Die Folgen sind vielleicht nur deshalb nicht so schrecklich, weil ein großer Teil sich hierher in Sicherheit bringen konnte. Mit den ARMEN Leuten; die geblieben sind, ist man aber wenn möglich noch roher verfahren. Man hat es, z.B. in Karlsbad, sogar fertig gebracht, das Altersheim innerhalb 3 Stunden zu evakuieren. Ich habe keine Lust, mich in eine detailliertere Liste einzulassen, ich kann Dir versichern, dass es umso schlimmer zuging, wie man weniger gehört hat.“
Ganz entgegen seiner optimistischen Grundhaltung beschreibt Hans Finkelgruen die Situation nun sehr deutlich: „Ich schreibe Dir davon nur, um Dir klar zu machen, dass es hier mindestens ebenso kommen muss und vielleicht noch Schlimmer, weil man in der CSR ja ringsherum vollkommen eingeschlossen ist und nirgends wohin fliehen kann.

Aber nun zur Sache: Für Esti und mich ist es nur eine Nervenprobe, für die Eltern aber ist es uns eine große Sorge, was geschehen soll. Wir müssen für sie irgend eine Lösung finden.“ Eine Lösung könne nur „eine Einwanderungsmöglichkeit nach USA“ sein. Hans fragt voller Schuldgefühlen nach, ob Herbert vielleicht auch für seine Eltern ein Affidavit besorgen könne. Inzwischen hätten sie festgestellt, dass um 1870 ein weiterer Verwandter, ein Maß Finkelgruen, Bruder seines Großvaters, in die USA ausgewandert sei. Dessen Sohn habe seinen Vater einmal im Bamberg besucht. Am Ende des Briefes hebt Hans noch einmal hervor: „Auf irgend eine Weise müssen wir die Sache lösen. Was uns selbst anlangt, so nehmen wir (…) an, dass wir gegen Juli – August an die Reihe kommen. Eine Bestätigung vom Konsulat konnten wir jedoch noch nicht erhalten.“

Hierzu eine ergänzende Information – David Finkelgruen (USA): Maler und Kriegskünstler

Ein Teil von Finkelgruens breitgefächerter Familie lebte seit vielen Jahrzehnten – „um 1870, s.o. – in den USA. Sie verstehen sich als ausgeprägt orthodoxe jüdische Familie. Peter Finkelgruen hat seine orthodoxen Verwandten, darunter den Maler und Kriegskünstler David Finkelgrün, verschiedentlich besucht. Zu Schabbat zum Beispiel versuchen sie, alle jüdischen Vorschriften zu beachten. So ist auch die Verwendung von Elektrizität an Feiertagen verboten. Als Finkelgruen mit ihnen per Mail Kontakt aufnahmen und einen Besuch bei ihnen erwog hatten sie anfangs ausgeprägte Bedenken, ob der säkulare, in Deutschland lebende Verwandte mit ihrer Orthodoxie zurande kommen würde. Es gelang Peter Finkelgruen rasch, ihre anfänglichen Bedenken zu zerstreuen: Mit orthodoxen Lebenseinstellungen und Regeln kannte der in Israel Aufgewachsene sich durchaus aus. Bei einem Besuch bei seinen amerikanischen Verwandten in New York erhielt er auch einen Zeitungsbeitrag aus der New York Times vom 11.8.1931; in diesem wurde David Finkelgreen in einem ausführlicheren Nachruf ausführlicher gewürdigt  –  der Name „Finkelgrün“ hatte sich in den USA „amerikanisiert“. David Finkelgreen, War artist, Dead. Attained Reputation as Pionier of Artifical Eyes for Blind Soldiers“ ist der Nachruf überschrieben.

„Es habe keinen Sinn sich Illusionen oder Euch Hoffnungen zu machen“

Der Druck insbesondere auf aus Deutschland geflohene jüdische Flüchtlinge in Prag nimmt immer weiter zu. Knapp drei Wochen später, am 23.2.1939, antwortet Herbert Ashe ihnen – „meine Lieben“ – präzise bzgl. der Möglichkeiten, ein Affidavit für die USA zu erhalten: Die Aussichten seien äußerst gering. Für die Eltern gebe es keinerlei Chance: Es habe keinen „Sinn sich Illusionen oder Euch Hoffnungen zu machen“. Auch im geschäftlichen Bereich hat er wenig Hoffnung, insbesondere was den Import tschechischer Waren betrifft: „Sei Dir darüber klar, dass die CSR im Falle antisemitischer Gesetzgebungen ebenso erledigt ist für USA, wie es heute bereits Deutschland und das Sudetengebiet ist. (…) Ist es nicht möglich, dass Du mit England Beziehungen aufnimmst?“

„Ich habe den Eindruck als ob ich dauernd in einem halbwachen Zustand lebe. Ich kann sagen, dass ich vollkommen fertig bin“

In Finkelgruens Archiv findet sich ein weiterer, handschriftlicher Brief, leider undatiert, diesmal von Esti an Herbert Ashe gerichtet; wie erwähnt war sie in Bamberg in Herbert verliebt gewesen, stand innerlich zwischen Herbert und Hans. Der Brief dürfte wenige Tagen oder Wochen nach dem 15.3.1939 verfasst worden sein. In ihm spiegelt sich Estis zunehmende Verzweiflung über ihre Lebenssituation, das Scheitern ihrer Emigrationspläne wieder. Einführend erwähnt sie ihr „Briefschuld“ ihm gegenüber, versichert Herbert jedoch, dass sie häufig an ihn denke. Sie benennt das Datum des 15.3.(1939) als eine einschneidende, sie existentiell erschütternde Zäsur: Am 15./16.3.1939 hatten deutsche Truppen das restliche Staatsgebiet der CSSR besetzt. In der NS-Propaganda wurde dies als eine „Zerschlagung der Rest-Tschechei“ bezeichnet. Unmittelbar nach dem Einmarsch wurde das Protektorat Böhmen und Mähren errichtet und es wurde dort eine deutsche Gerichtsbarkeit geschaffen. Spätestens ab diesem Zeitpunkt waren die Finkelgruens existentiell bedroht. Ihre Chancen auf eine Emigration hatten sich nahezu aufgelöst.

Seit diesem 15.3.1939, schreibt Esti an Ashe, habe sie „den Eindruck als ob ich dauernd in einem halbwachen Zustand lebe. Ich kann sagen, dass ich vollkommen fertig bin.“ Aber bereits zuvor, „bereits seit Monaten“ sei sie „unfähig klar zu denken“ gewesen, so existentiell verunsichert sei sie nun.

Sie spürt, dass sie und ihr jüdischer Mann von der Welt in Stich gelassen worden sind. Ihr Schicksal ist ohne Bedeutung für ihre nicht-jüdische Umwelt. Esti fährt fort: „Mir scheint die Auswanderung nach U.S.A. heute noch ferner und unerreichbarer zu sein als je. Wenn man wie Hans schreibt das Wort „Konsulat“ hört fühlt man ein ekelerregendes Gefühl. England, Amerika, die ganzen Demokratien man beginnt sie zu verachten, schade aber es ist wirklich so. Über Dorchen haben wir gehört dass du glückliche Briefe schreibst ich kann nicht mal sagen ob ich dir das Glück neide.“

Ihre Verzweiflung, ihre seelische Erschöpfung kommen auch in den folgenden Zeilen zum Ausdruck:
„Eins ist sicher ich kann mich kaum konzentrieren und dir ein paar Zeilen zu schreiben. Ich weiß nicht ob du dir Vorstellung machen kannst in welcher Verfassung wir hier leben. Entschuldige wenn ich dir nicht besser schreiben kann aber ich kann nicht mal einen Gedanken zu Ende denken geschweige denn noch schreiben.“

„Was ich eben noch als hochaktuell zu berichten habe, ist beim Niederschreiben schon überholt“

Hans und Esti Finkelgruen im Exilzwischenstation in Prag

Am 6.4.1939, drei Wochen nach der Besetzung Prags, schickt Hans einen zwei enge Schreibmaschinenseiten langen Brief an Herbert: „Die Ereignisse gehen heute weitaus rascher als meine Maschine“ ist sein erster Satz. „Was ich eben noch als hochaktuell zu berichten habe, ist beim Niederschreiben schon überholt.“ Am 23.2.1939 haben Esti und Hans standesamtlich geheiratet, dies ist zugleich die wichtigste Schutzmaßnahme, um die Emigrations- bzw. die Überlebenschance zu erhöhen: „Das beiliegende Bild zeigt das jungvermählte Paar, man (beachte? unleserlich) die glücklich lächelnde Braut, beim Verlassen des Rathauses und im Kreuzfeuer der Fotografen.“ Hans beschreibt die Umstände der Besetzung Prags am 15.3., so wie sie sie erlebt haben: „Dazu habe ich ergänzend zu berichten, dass der Verlauf hier in Prag vor allem durch vollkommene Ruhe gekennzeichnet wird. Ich bin selbstverständlich von jedem Optimismus weit entfernt, aber ich muss betonen, dass die Entwicklung hier wenn auch ganz unabsehbar, so doch vollkommen ruhig und mindestens so langsam ist.“

„Für uns selbst“, so setzt Hans Finkelgruen fort, „bedeutet es, dass wir vorläufig unsere Existenz noch haben, dass aber unsere Pläne ganz verändert sind. Ich nehme an, dass die Exportabsichten sich vollkommen erledigen, ich schreibe darüber noch gesondert an Herrn Goldschmidt. Aber nicht das ist das Entscheidende, was wir nach der Auswanderung tun wollen – das wird sich, wie Du seinerzeit geschrieben hast, schon finden. Das Wichtigere ist, dass wir bezüglich der Eltern in die unangenehmste Lage versetzt sind. Es ist vollkommen ausgeschlossen, sie hier zurückzulassen. Wir sind nun bemüht, einen gangbaren Ausweg zu finden; aber das „Wie“ ist uns vorläufig unklar.

Weiterhin bemühen wir uns, unsere eigene Auswanderung zu beschleunigen und streben eventuell einen Zwischenaufenthalt in England an. Aber auch das hört sich von außen viel leichter an als es sich ausführt. Auf der einen Seite wird versichert, dass alles Erdenkliche gemacht wird. Auf der anderen Seite arbeitet hier kaum eine Organisation, man ist in jeder Beziehung ununterrichtet und das englische Konsulat bedient sich tschechischer Polizei, um keinen Juden hereinzulassen. Es ist manchmal sehr schwer, die Empörung nicht Herr über sich werden zu lassen. Die Amerikaner erleichtern nichts; aber sie sind wenigstens sehr freundlich, für jeden zu sprechen und machen absolut keinen Unterschied, weder nach Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit oder Pass; sie sagen Geld oder nicht Geld, Affidavit oder nicht, Gesund oder nicht. (…) Aber auf fast allen anderen Konsulaten, und in der Tat auch auf dem englischen, wird zuerst gefragt Arier oder Nichtarier und damit ist es aus.

Nun, das ist jedenfalls kein Briefinhalt, denn einerseits erregt es nur unnötig, andererseits ändert alles Schreiben nichts daran.“

Hans kommt erneut auf die Frage zu sprechen, ob sie sich – so sie denn überhaupt in die USA gelangen – eher in News York niederlassen oder „weiter ins Innere“ gehen sollten, um „in unserer geliebten Handschuhbranche“ einen Neuanfang zu wagen. Er ist sich der immensen Schwierigkeiten und Konkurrenzverhältnisse bewusst, hat diese auch in Prag erlebt; andererseits seien sie in Prag mit ihrem kleinen Handschuhgeschäft „erfolgreicher gewesen als irgend jemand sich (…) hätte träumen lassen. (…) Nun kann das natürlich in USA wirklich viel anders sein.“

Er wisse nur, dass sie auf jeden Fall in einer Großstadt leben müssten; auch Washington, Boston oder Chicago seien möglich. Hans schließt mit der Ankündigung: „Ich schreibe Dir in dieser Woche noch einmal ausführlich.“

„Hier sind die Verhältnisse vollkommen undurchsichtig. Auf einem Vulkan spazieren zu gehen muss ein ähnliches Gefühl sein.“

Hans benötigt doch 12 Tage, um den nächsten Brief zu verschicken; handschriftlich hat er eine neue Prager Anschrift – Skuherského 3/22 – hinzu gefügt. Als Grund für seine Verzögerung beim Schreiben nennt er in seinem Brief vom 18.4.1939 die ungewisse Lage – „weil so Ereignisse immer dieselben sind bzw. weil sich eben nichts ereignet.“ „Der Himmel“ – so ergänzt er metaphorisch – „bleibt grau in grau und die Möglichkeiten, das Wetter zu beeinflussen, werden täglich geringer.“

Er beschreibt seinen seit Monaten andauernden niederdrückenden Versuche, überhaupt in die Passabteilung des Konsulats vorgelassen zu werden; die Willkür, die Korruption, „diese unbeweisbaren Widerwärtigkeiten.“ Abschließend deutet er erneut seine Verzweiflung an, unter der Esti sehr viel stärker leidet als er selbst, mit seiner robusten Natur:

„Hier sind die Verhältnisse vollkommen undurchsichtig. Bisher ist, wie gesagt, alles ruhig und äußerlich für uns unverändert. Aber auf einem Vulkan spazieren zu gehen muss ein ähnliches Gefühl sein.“ Esti fügt noch einen handschriftlichen Gruß hinzu, in dem ihre wachsende Verzweiflung – „ich weiß nicht, ob ich wieder einigermaßen normal bin“ – gleichfalls durchzubrechen droht.

„Wir brauchen Rat und freundliche optimistische Briefe von den paar guten Freunden, die wir haben“

Im Archiv befindet sich ein weiterer, undatierter, maschinengeschriebener Brief, wohl einige Wochen nach dem letztgenannten Brief verfasst. Diesmal schreibt Esti an Herbert. Sie äußert ihre Besorgnis, dass er ihnen so lange nicht geschrieben habe. Letztens habe sie sogar von ihm geträumt, so sehr fühle sie sich ihm nahe bzw. habe Angst vor einem Abbruch der Beziehung: „Manchmal habe ich wirklich das Bedürfnis – alles was wir hier erleben – niederzuschreiben- ich glaube, es müsste einen ganz guten Roman geben.“ Ihre schwierige Lebenssituation im besetzten Prag möge er daran erkennen, dass sogar Hans inzwischen denke, dass er einen Rat von Außen gebrauchen könne: „Wir brauchen Rat und freundliche optimistische Briefe von den paar guten Freunden, die wir haben, und da stehst Du doch an erster Stelle.“ Sie überlege inzwischen sogar, „ein Musterbuch mit Handschuhmodellen“ anzulegen, als Vorbereitung auf die USA. Esti, die früher zwischen Hans und Herbert stand, erinnert ihn daran, dass er versäumt habe, „mir zur Heirat zu gratulieren.“ Man spürt ihre tiefe Sorge, nun auch noch den Kontakt zu Herbert in den USA zu verlieren. Sie erkundigt sich nach seinen Freundinnen, nach seiner Wohnung, seinen Ferien; abschließend bittet sie ihn: „So viel hättest Du doch zu schreiben. Nimm also Federhalter, Schreibmaschine oder Dictaphon zur Hand und berichte Deiner europäischen Freundin.“

„Man lebt hier wie auf einer abgeschlossenen Insel und kann jeden Wink von draußen gut gebrauchen“

Erneute vier Wochen später, am 12.5.1939, schreibt Hans einen dringlich gehaltenen Brief an Herbert. Sie hätten seit knapp drei Monaten nichts mehr von ihm gehört und hätten Angst, dass er die Beziehung abbrechen werde, obwohl dies doch gar nicht seine Art sei. Sie seien sich „auch keiner Schuld bewusst.“ Er vermag Erfreuliches zu schreiben: Vor allem dass sie mit ihrer Heirat eine größere Wohnung bekommen hätten, zum gleichen Mietpreis. Hans berichtet etwas aus ihrem Lebensalltag in Prag und bittet dann doch, sie über wesentliche Veränderungen in der alten und neuen Welt zu informieren: „Man lebt hier wie auf einer abgeschlossenen Insel und kann jeden Wink von draußen gut gebrauchen.“ Sie hätten auch mit Dorle in Palästina über Emigrationsmöglichkeiten dorthin einen Austausch, und Dorle habe ihnen auch Hilfe zugesagt. Aber sie wollten bis etwa September noch warten, ob sich vielleicht doch eine Fluchtmöglichkeit in die USA ergebe. Eine zeitweilige Trennung, eine separate Emigration komme für sie jedoch nicht in Frage.

Dann wieder ein Gerücht über scheinbar gelingende Fluchtpläne heraus aus Bamberg, die sich bis nach Prag herumgesprochen haben: „Ich höre, dass Deine Eltern im September nach Cuba gehen und wünsche Dir recht viel Glück. Ich wollte, ich wäre auch schon so weit.“ Die Hoffnung erwies sich als trügerisch: Auch Herbert Ashes Eltern wurden Opfer der Shoah.

„Ihr müsst unter allen Umständen versuchen, das Visum sofort zu bekommen“

Am 29.5.1939 antwortet ihnen Herbert – „Liebe Freunde…“ – in einem kürzeren Brief, entschuldigt sich für sein längeres Schweigen: „…doch gibt es einfach einmal Zeiten, in denen man sich einfach nicht zum Schreiben bringt. Sei es wegen zu viel Arbeit, sei es aus Phlegma oder sonstigen Gründen.“ Dass er ihnen nicht zur Hochzeit gratuliert habe „sei ein offener Skandal“. Dann kommt er auf eine von ihnen erwähnte, vage Emigrationsmöglichkeit zu sprechen: „Ihr müsst unter allen Umständen versuchen, das Visum sofort zu bekommen. Ich halte es für unbedingt geboten, die Hilfe dieses Freundes in Anspruch zu nehmen, selbst wenn es mit Risiko und viel Geld verbunden ist. Bitte nehmt darauf keine Rücksicht (…) Kein Opfer ist zu groß und kein Versuch zu unüberlegt oder übereilt, der Euch einen einzigen Tag früher herausbringen könnte.“ Er führt einige gescheiterte Emigrationsversuche an und fügt dann hinzu: „Ich will damit sagen, dass die Konsulate immer strenger werden.“ Seine eigene Lebenssituation sei zufriedenstellend. Er arbeite nun wieder als Verkäufer in einem shirtstore, „stehe also wieder hinter einem Ladentisch“, auch privat gehe es ihm „verhältnismäßig anständig.“

New York Section of Jewish Women

In Finkelgruens Unterlagen findet sich ein an Ashe gerichtetes Schreiben der New York Section of Jewish Women aus New York vom 31.5.1939, in dem sie, auf Hans Finkelgruen bezogen, bedauern, dass es ihnen nicht gelungen sei, die Cousine von Hans Finkelgruen, Margaret Noah, ausfindig zu machen. Sie bitten um weitere Angaben zu ihrer Person, oder um ihre Anschrift, um die Emigrationswunsch von Hans Finkelgruen zu unterstützen.

„Dass Du, der Du doch dort einen unbefangenen Blick hast, ebenso rätst, ist mir sehr wichtig“

Gut drei Wochen später, am 22.6.1939, zeigt sich Hans erleichtert darüber, dass sein Kontakt zu Herbert Ashe doch nicht abgebrochen ist. Er dankt ihm auch für dessen dringliche Empfehlung, auf eine Beschleunigung des Visums zu drängen. Im besetzten Prag ist es nicht leicht, die immer stärker zunehmende Bedrohung zu beurteilen: „Dass Du, der Du doch unbedingt dort einen freieren und unbefangenen Blick hast, ebenso rätst, ist mir sehr wichtig.“ Ihre bisherigen Versuche der Emigration hätten sich „inzwischen als ungangbar erwiesen.“

Über ihr Privatleben vermag er Herbert kaum Neues zu berichten: „Wir pendeln zwischen Geschäft, Essen, einige Male Kino, regelmäßigem Radio und Schlafengehen (…) und haben z.Z. eigentlich gar keinen Umgang mit anderen Leuten.“ Esti, entschieden empfindsamer als Hans, habe „sich zu beruhigen begonnen.“ Eisenstädter sei inzwischen mit Visum über London in New York angekommen.

„Ich glaube ich halte es keine 2 Monate mehr aus. Ich denke nur noch eins: weg, fort und raus“

Einen Monat später, am 29.7.1939, schreibt Esti aus Prag einen dreiseitigen, sehr persönlich gehaltenen handschriftlichen Brief an Herbert Ashe. Sie versucht, die inneren Gründe für ihre zunehmende Isolation zu verdeutlichen, die sich auch in ihren eher spärlichen Briefen an ihn – Herbert – wiederspiegelten: „… ich bin entweder nicht in Stimmung, ich kann mich nicht konzentrieren, ich verliere den Kontakt zu Menschen“, verliere so die letzten „guten Freunde“. „Sei mir bitte deshalb nicht böse“, schreibt sie Herbert erklärend, „aber es ist furchtbar schwer nette freundliche Briefe zu schreiben, ich kann Dir ja schließlich nicht Jammerbriefe schreiben und darauf von dir nette Antworten erwarten. Dennoch würden sie und Hans sich über „etwas mehr Persönliches“ von ihm freuen. Sie seien für sie „wie eine heilkräftige Medizin.“ Dann versucht sie, selbst Erfreuliches zu schreiben: Sie säßen gerade „in einem Terrassen Café oberhalb Prags“, es sei herrliches Wetter, er werde neben ihnen getanzt: „In einem Anfall von Optimismus bin ich vorige Woche aufs Konsulat wo ich zu hören bekommen habe dass wir immer noch mit 5 – 6 Monaten zu rechnen hätten. Ich glaube ich halte es keine 2 Monate mehr aus. Ich denke nur noch eins: weg, fort und raus. Weisst du es ist noch ein himmelweiter Unterschied wenn man wie du in Deutschland gelebt und trotz allem da (…) aus einem regelmäßigen Haushalt in die neue Welt ging. Aber wir hier, es ist nicht zu schildern was das Nerven kostet. Hoffentlich finden wir noch eine andere Möglichkeit hier heraus zu kommen.“ Sie verabschiedet sich mit einem sehr persönlich gehaltenen Gruß.

„… aber ich will keine deprimierenden Briefe schreiben“

Am darauffolgenden Tag, 20.7.1939, schickt Hans einen dreiseitigen, maschinengeschriebenen Brief hinterher, den er so eröffnet: „Estileins endlich geborener Brief bedarf meinerseits noch einiger kleiner Ergänzungen.“ Eigentlich müsse er ihm zur Erklärung ihre Lebenssituation als Flüchtlinge in Prag genau schildern, „aber ich will keine deprimierenden Briefe schreiben.“ Die „allgemeine Unsicherheit unserer Lage und die fast völlige Machtlosigkeit“ beanspruche ihre Nerven „in einem fast unerträglichen Maasse“. Es sei für sie inzwischen unerträglich, „nur auf die Hilfe anderer angewiesen zu sein und gar keine Möglichkeit zu haben, selbst etwas zu tun.“ Aber er versuche, selbst mit diesem Zustand fertig zu werden. Dann schreibt Hans über die ihm noch verbliebenen geschäftlichen Möglichkeiten bzgl. seines Hut- und Handschuhgeschäftes, bezogen auf Herrn Eisenstädter, und schlägt auch eine direkte wirtschaftliche Zusammenarbeit mit ihm selbst – Herbert – vor.

„Wir sind alles in allem genommen doch so glücklich wie es die äußeren Verhältnisse erlauben“

Wiederum einen Monat später, am 11.8.1939, schicken Esti und Hans einen weiteren handschriftlichen, vier Seiten langen, persönlich gehaltenen Brief an Herbert; d.h. beide schreiben auf einem Doppelblatt nacheinander einen Brief. Mit wohl etwas Schuldgefühl merkt die inzwischen 26-Jährige an, dass ihre Briefe „keine Bereicherung der Literatur bilden“; aber es seien doch „Briefe einer verflossenen Freundin“. Esti versichert Herbert – da sie wohl keinen Sinn darin sieht, Selbstmitleid zu kommunizieren – dass sie „alles in allem genommen doch so glücklich“ sei „als es die äußeren Verhältnisse erlauben“. „Sprungbereit natürlich immer“, fügt sie hinzu. Inzwischen hätten sie versucht, ein Visum für England zu bekommen, damit sie nicht weiter vom „Prager Amerika Konsul“ abhängig seien: „Hoffentlich klappt das, dann werden wir dich sofort benachrichtigen.“ Sie wolle ihm eigentlich schon länger schreiben, „wie sehr glücklich ich mit Hans“ sei. Allein dadurch habe sich für sie bereits viel geändert; vor allem sie selbst hätten sich dadurch verändert. Deshalb habe sie Hans freiwillig „alles über dich und mich erzählt…“. Und Hans fügt in seinem Brief hinzu, dass er sich nach einer geglückten Emigration einen neuen Namen geben werde: John Finck.

„Versucht alles, um in der Zwischenzeit in ein anderes Land zu kommen“

Gleichfalls am 11.8.1939 – die Briefe haben sich also überschnitten – schreibt Herbert einen langen Brief an die beiden; der Brief ist heute nur noch schwer zu entziffern. Er versichert ihnen dass Estis Besorgnis bzgl. eines Abbruchs ihrer Beziehung vollständig unbegründet sei. Das Leben in New York sei sehr viel schnelllebiger als sein früheres Leben, das vermöge man wohl nur zu verstehen, wenn man selbst in New York lebe. „Versucht alles, um wenn möglich in der Zwischenzeit in ein anderes Land zu kommen.“ Er bittet sie mehrfach, nicht den Mut zu verlieren, es gebe „Tausende und Tausende“, die glücklich wären, „wenigstens die Aussicht zu haben hier herüber zu kommen.“ Trotz aller bestehenden Schwierigkeiten sei er sich sicher, dass sie irgendwann in die USA kämen: „Es wird ja alles bald überstanden sein“, auch diese „letzte Geduldsprobe“. Er bittet sie, ihn über das Schicksal von Dorle – Hans Schwester – zu informieren; diese war im September 1938, nach ihrer „zionistisch-landwirtschaftlichen“ Ausbildung im Kibbuz auf der Löhnberger Hütte nach Palästina emigriert. Ein Bekannter, der von Palästina weiter in die USA gegangen sei, habe ihm ein paar Eindrücke von Dorles Leben in Palästina berichtet.

„Wir lassen uns ab und zu mal deprimieren, das ist besser als alles in sich hineinfressen“

Es vergehen drei Monate. Am 12.11.1939 schreibt Hans, immer noch aus Prag, einen drei Seiten langen Brief an Herbert, in dem er auch an dessen Schreiben vom 11.8. anknüpft. In der Zwischenzeit habe sich ihre Lebenssituation weiter verschlimmert. Er erwähnt den 3.9.1939 als scharfe Zäsur. Hierzu sei angemerkt: Unmittelbar nach dem Kriegsausbruch am 1.9.1939 verfasste der Chef der Sicherheitspolizei und des SD in Berlin ein als „Geheim!“ gekennzeichnetes Fernschreiben „an alle Stapoleit- und Stapostellen“, in denen unter dem amtlichen Titel „NO-2263: Sonderbehandlung bei besonderer Verwerflichkeit“ bzgl. der „Grundsätze der inneren Sicherheit während des Krieges“ festgestellt wird:

„Zur Beseitigung aller Mißverständnisse teile ich folgendes mit:

1) Wie in den Grundsätzen vom 3.9.1939 zum Ausdruck gebracht wurde, muß jeder Versuch, die Geschlossenheit und den Kampfeswillen des Deutschen Volkes zu zersetzen, von vornherein mit rücksichtsloser Härte und Strenge unterdrückt werden. — (…)7) Es ist Vorsorge zu treffen, daß die Kreis- und Ortspolizeibehörden besonders schwere Fälle sofort an die zuständige Stapoleit- und Stapostelle melden, so daß durch entsprechende Anordnung die Überstellung der festgenommenen Personen an den Ermittlungsrichter bis zum Eintreffen der Endentscheidung vermieden wird. — Dieser Erlaß eignet sich nicht zu Weitergabe an die Kreis- und Ortspolizeibehörden.

Der Chef der Sicherheitspolizei
gez. Heydrich — B. Nr. PP (II) 39.“[i]

Hans hebt ihre Erleichterung darüber hervor, dass ihr Kontakt zu Herbert nicht abgebrochen ist. Trotz ihrer sich weiter steigernden Gefährdung bleibt er auch nach Kriegsausbruch optimistisch:
„Den Kopf behalten wir beide immer oben. Wir lassen uns ab und zu mal deprimieren, das ist vielleicht besser als alles in sich hineinfressen.“ Weil er gefragt wurde schreibt Hans nun auch ausführlicher über seine nach Palästina emigrierte, fünf Jahre jüngere Schwester Dora: Dora habe ihnen ausreichend Berichte über ihre neue Lebenssituation in Palästina gegeben: „Ich für meinen Teil finde sie zufriedenstellend. Vater, wenn er an das denkt, was aus seiner Tochter hätte werden können und sollen, weniger.“ Die Zukunft werde zeigen, welche Einschätzung realistischer sei. Dann gibt er Herbert – der mit Dora früher gleichfalls befreundet war – eine „stichwortartige Rekapitulation“:

„War in Deganiah auf Lehrhachscharah. Lebt jetzt mit ihrem Manne auf einer jungen Kwuzah, beabsichtigt, Bekannte dort heranzuziehen damit sie so etwas wie einen eigenen Kreis haben / indem sie als Königin herrschen kann / und dann dort endgültig zu bleiben. Hat sich ganz und gar gut eingewöhnt. Lebenszuschnitt einer Arbeitskwuzah, die Männer gehen auf Arbeit. Die Frauenzimmer besorgen den Stall und das Vieh und den Garten und kochen. Für die Familien Einzelhäuser. Esso usw. Gemeinschaftsräume. Jeder wird satt, aber das Bargeld ist wie eine schöne Kokotte: Selten begehrt und wenn´s schon mal welches gibt, reißt sich jeder danach.

Dorchen hat die Leitung des Gartens, Oberleitung in jeder Beziehung. Sie baut, arbeitet, erntet, liefert an die Küche und verkauft nach außerhalb. Gerhard ist der begehrteste Arbeiter bei den Unternehmern im Umkreis. Beide sind zufrieden, bis auf die Sorgen, die wir alle haben und die sie allein zu haben meinen.“ Dann fügt er noch ihre Anschrift – Dora Schaal, Kwuzah Schiboleth, Rechowoth, P.O.B. 66, Palestine“ hinzu.

Hans hat immer noch die Hoffnung, irgendwie aus dem besetzten Prag heraus zu kommen. Dass er bereits von der Gestapo observiert worden ist weiß Hans nicht.

„Seitdem die Gestapo ein jüdisches Auswanderungsamt eingerichtet hat, geht nämlich alles Formelle gut und schnell. Aber man muss vorher ein Visum haben.“ Vorläufig erteile die Gestapo immer noch Ausreisegenehmigungen, natürlich nur in „neutrale Länder“.

Dann erwähnt er die in Zürich lebende Tilly Cohn, von der er vermutet, dass sie Ashes Cousine sei. Von Tilly Cohn sind gleichfalls Briefe erhalten geblieben, auch Finkelgruen hat Ausschnitte daraus in seinen Büchern zitiert. Hans bittet Herbert, sie mit „klugem und männlichem Rat“ dazu zu bewegen, „sich für uns zu bemühen“ und fügt hinzu: „Du kannst mir glauben, es geht ohne Hilfe nicht.“ Er deutet im Folgenden doch deutlicher seinen Pessimismus an, Prag nicht mehr lebendig verlassen zu können: „Wenn Frl. Cohn nichts tun kann, sind wir ziemlich aufgeschmissen, denn wir haben keinerlei sonstige Bekannte draußen. Dorchen und mein Freund sind feindliches Ausland.. (…) Jedenfalls ist Eile am Platze, denn sehr lange wird die Auswanderung ja wohl nicht weiter gehen.“ Sie hätten einen geordneten Tagesablauf, „vorsichthalber und auf alle Fälle lernen wir ein wenig Englisch“.

Er schweife immer noch gelegentlich durch die Stadt, trotz der Eigengefährdung, Cafes suche „man aber besser nicht auf.“ Dann erwähnt er weitere Länder, in die sie vielleicht noch fliehen könnten: „Argentinien, Chile und Guatemala haben heute hier neue Konsuln bestellt.“

Esti fügt dem Brief längere handschriftliche Zeilen hinzu, deutlicher als Hans deutet sie ihre Verzweiflung an: Sie hätten jetzt in Prag, außer der Arbeit und ihrer Wohnung, keinerlei Abwechslung mehr, selbst Kinobesuche seien für sie nicht möglich. Sie lese seine Briefe immer wieder und immer wieder neu. „Hoffentlich kommen wir über die nächste Zeit hier halbwegs durch.“

März 1940, Moskau: „Durch Zufall konnte ich ein 30-Tage-Touristenvisum für Russland erhalten, und so fuhr ich denn los.“

Nun besteht in den Briefen eine sieben Monate lange Lücke, die durch die sich weiter verschärfende Situation in Prag bedingt ist. Es ist Hans gelungen, sich alleine nach Moskau durchzuschlagen, um von dort aus irgendwie nach Shanghai zu gelangen. Am 6.3.1940 schickt Hans von Moskau aus einen zwei Seiten langen Brief an Herbert. Am gleichen Tag hat er noch einen Brief an Frau Cohn geschickt, den ich in einem anderen Kapitel beschrieben habe.

Hans eröffnet den Brief mit einem Scherz, wird dann jedoch ernst: „Es war in Prag nicht mehr auszuhalten. Das Amerikanische Konsulat hatte in Aussicht gestellt, dass wir Ende Dezember 1940“ – also in einem Jahr! – „ vielleicht dran kommen würden. Wir konferierten und Esti und ich beschlossen, dass ich zunächst allein weggehen und suchen sollte wo man ein friedliches Plätzchen finden könne, zunächst einmal um das doch so sehr ersehnte Immigrationsvisa abzuwarten und dann wenn das aus irgend einem Grund schief gehen sollte um dort Wurzel zu schlagen. Es war natürlich fast unmöglich etwas zu finden. Durch Zufall konnte ich ein 30-Tage-Touristenvisum für Russland erhalten und so fuhr ich denn los.

Der Plan ist, zu sehen, ob man, auch ohne Permit, bis Schanghai gelangen kann. Wenn nicht, ob irgendwoanders hin. Oder schließlich ob die Erlaubnis zu erhalten ist, hier zu bleiben, bis das Amerika-Visum kommt. Da das Amerikanische Konsulat hier keine Berechtigung hat, Visa zu erteilen, müsste ich die Papiere nach Riga transferieren lassen.“
Dann beschreibt Hans das Scheitern des Versuches, mit Bestechungsgeld „früher herauszukommen“. Aber auch dies sei nicht mehr möglich, er hätte wenigstens 5000 Mark dafür benötigt:

„Ich hoffe, dass ich durchkomme bis nach Schanghai, das alle loben. Soviel Geld wie wir brauchen, werde ich schon verdienen und dann wird es ja auch mit dem Visum einmal werden.“

Hans spricht das Gerücht an, dass die Affidavits nach einem Jahr ihre Gültigkeit verlieren würden und bittet ihn Tante Hulda dazu zu bewegen, das Visum noch einmal zu erneuern: „Ich habe mit Esti noch nicht darüber gesprochen (…) aber insgeheim macht mir dies Sorge. (…) Esti ist mit Frau Bartl zunächst in Prag geblieben. Das Geschäft geht, von Vater geleitet, gut. Materielle Sorgen bestehen also nicht. Da der Vater über 60 ist und die Damen Arierinnen, ist auch sonst kein Grund zur Sorge.“

Dann spricht Hans erneut Herberts „Stillschweigen“ – also das Ausbleiben von Briefen – an, was ihm und ihnen große Sorge bereite: „Trotzdem wartet man in Zeiten wie die jetzigen auf einen gelegentlichen Gruß.“ Bei Esti habe er das Gefühl, „dass ihr Dein Stillschweigen auch sehr nahe geht. Vergiss nicht dass wir hier in großer Nervenanspannung leben. Durch die ganzen Verhältnisse hat man wenig Umgang, kommt nicht unter Menschen.“
Dann erwähnt er noch einmal Tilly Cohn; diese habe ihm geschrieben, dass sie Herbert ein Roschhaschonoh-Telegramm geschickt habe – also gute Grüße für das neue jüdische Jahr. Abschließend merkt er zu seiner schwierigen Situation an: „Ich weiß noch nicht, ob ich hier bleibe oder wohin ich gehe und wie meine Adresse sein wird.“ Handschriftlich fügt er seine gegenwärtige Anschrift hinzu: „z.Z. durch Intourist Moskau, Hotel Metropol.“

 

Einige Briefe Kurt Brahms

Aus den sehr zahlreichen, größtenteils persönlich gehaltenen Briefen von Kurt Brahms möchte ich nur aus einigen Wenigen zitieren.

Die ca. 100 Briefe Brahms haben einen stark persönlichen Charakter und sind nicht für die Öffentlichkeit bestimmt. Die schwer kranke Esti heiratete den gleichfalls nach Shanghai vertriebenen Kaufmann Brahm am 21.9.1946 in Shanghai (Datum nicht absolut gesichert, vielleicht war die Heirat einige Monate früher). Unmittelbar danach reiste Brahm nach Lima, wo er Familie hatte; auf der Reise dorthin traf er auch Herbert Ashe in New York, was dieser in Briefen an Esti beschreibt. Nach seiner Ankunft in Lima wollte er Esti nachholen. Diese hatte unmittelbar nach seiner Abreise jedoch einen Brief ihrer Mutter Anna Bartl erhalten, von deren Schicksal sie bis dahin nichts Gesichertes wusste. Sie wusste nicht einmal, ob ihre Mutter noch lebte. Kurz nach der Abreise Kurt Brahms erreichte sie auf Umwegen ein Brief ihrer Mutter Anna Bartl aus Prag. Sie erfuhr hierdurch, dass ihre Mutter mehrere KZs überlebt hatte und im Dezember 1945 zurück nach Prag gereist sei – Prag war die einzige erreichbare Stadt, die Anna Bartl kannte! Daraufhin beschloss die schwer kranke Esti, mit ihrem vierjährigen Sohn Peter lieber nach Prag zu reisen, um ihre letzte noch verbliebene Verwandte wiederzutreffen, statt in das ihr völlig unbekannte Lima.

In den vergangenen zwei Monaten waren bereits einige Briefe verschickt worden. Auch erwähnt er drei Telegramme, durch die die Kommunikation zwischen ihnen begonnen hat. Lebenswichtige Entscheidungen müssen getroffen werden, was die Zukunft betrifft. Esti fühle sich gesundheitlich gut, versichert Brahm. Er selbst habe inzwischen ein zweimonatiges „Einreisevisum“ bzw. ein „Durchreisevisum“ für die USA erhalten. Das Schiff Marine Lyna werde am 15.1.1947 losfahren, am 28.1.1947 werde er in San Francisco ankommen.

 

Zum Briefwechsel zwischen Dora Finkelgruen (Palästina) und Herbert Ashe (USA): 1950 – 1952

1950 lebte Herbert Ashe seit zwölf Jahren in New York. Dora, die am 20.8.1913 in Bamberg geborene Tochter von Hans Finkelgruen, war bereits am 26.9.1938 als überzeugte Zionistin in das ferne Palästina gegangen. Zuvor war sie, wie viele zionistische Jugendliche der damaligen Zeit, zur Vorbereitung auf ihre Einwanderung nach Palästina, ihre Alija, „auf Hachschara“ in der Löhnberger Hütte bei Weilburg gegangen. Sie erhielten in dieser der Kibbuzbewegung zugehörigen Gemeinschaft eine abgeschlossene landwirtschaftliche Ausbildung, um sich auf das Leben in einem Kibbuz in Palästina vorzubereiten. Zugleich vermochte man mit dem erworbenen Abschluss leichter ein Zertifikat der britischen Regierung zur Einwanderung nach Palästina zu erhalten (Kaufhold, 2017, 2018). 

In Finkelgruens Unterlagen habe ich eine Postkarte gefunden, die Dora von dort an ihre Eltern geschrieben hat.

Doras „Hachschara“ in der Löhnberger Hütte und die anschließende Alija nach Palästina wurde von ihrem Vater Martin – dies ist auch weiteren, in dieser Studie dokumentierten Briefen zu entnehmen – mit ausgeprägter Skepsis beurteilt. Martin vertraute, wie sehr viele Juden, auf ein Leben als Jude in Deutschland. Es war ein Vertrauen auf die auch heute noch vielfach beschworene „deutsch-jüdische Symbiose“, die er mit dem Leben bezahlen sollte. Eine solche Zukunft in Deutschland hatte er sich auch noch 1936 für seine Tochter Dora gewünscht.

Dora wurde innerfamiliär und im engen Freundeskreis Dorle genannt. In Palästina hatte sie sich selbst, wie die meisten neu Eingewanderten, einen jüdischen Namen gegeben: Sie hieß nun Rachel. Nach Palästina war sie gemeinsam mit ihrem Freund Gerhard gekommen. Sie heiraten rasch, bekommen zwei Kinder; seit ihrer Heirat trug sie den Nachnamen Schaal.

Dora und Gerhard, (c) Israeli State Archive

1959, bei der Ankunft von Peter Finkelgruen und Anna im jungen Staat Israel, sind Dorle und Gerhard deren erste Bezugspersonen in dem ihnen absolut fremden Land. Im Kinofilm „Unterwegs als sicherer Ort“ tritt Gerhard mehrfach auf.

Die nahezu gleichalten Dorle und Herbert stammten aus jüdischen Familien und verkehrten in Bamberg in einem jüdischen Freundeskreis. Finkelgruen hat im Laufe der Jahre zahlreiche Fotos erhalten, auf denen die beiden, teils gemeinsam mit weiteren Freunden, abgebildet sind.

„Sicher wäre es eine Lösung die beiden nach Palästina kommen zu lassen und aus dem kleinen Peter einen Palästinenser zu machen.“

Der erste erhalten gebliebene Brief Herbert Ashes an Dorle, ohne Datum, wurde wohl 1950 verfasst. Er ist auf blauem Papier getippt und vier Seiten lang. Herbert Ashe beginnt ihn mit „Liebes Dorle“; aber handschriftlich hat Herbert über das Getippte noch „from Herbert to Dorle“  hinzugefügt. Er erwähnt einen vorhergehenden Brief Dorles, der jedoch nicht erhalten geblieben ist:
„Natürlich hab ich mich kolossal gefreut mit einem Brief von Dorle. Das „alte“ Dorle aus meiner Jugend. So ein Brief bringt genug Erinnerungen zurück: Liebe, Probleme Freundschaft, Ausflüge, Bamberg, Hain, Altenburg, Lisl, Arnold und weiß Gott was.“ Herbert Ashe schreibt einige Zeilen über alte Freundschaften, die durch die veränderten Lebenszusammenhänge verloren gegangen sind und fügt dann, auf sich selbst bezogen, hinzu:
„Meine Frau Ilsebill, die freundlicher Weise das Briefpapier zur Verfügung gestellt hat (…) und sowohl auch ich, Tagträumen des Öfteren von einer Palästinareise. Wir hoffen sehr dass diese einmal in die Wirklichkeit rückt. Zwei, fünf, zehn Jahre – wer weiß. Sie hat ebensoviel alte, gute Jugendfreunde drüben als ich, die wir so alle heimsuchen wollen.“

Dann schreibt er über seine Brieffreundschaft mit Esti, wie auch über deren etwa achtjährigen Sohn Peter:

„Kürzlich erhielt ich von Esti wieder einen Brief mit einem goldigen Bild von Deinem Neffen. Ich versuche vergebens einen Finkelgruenschen Einschlag festzustellen. Der Junge ist, wie wir früher sagten, ein Gewittergoi!! Sicher wäre es eine Lösung die beiden nach Palästina kommen zu lassen und aus dem kleinen Peter einen Palästinenser zu machen. Die Entscheidung ist natürlich für Esti. (…) Nachdem das Leben da drüben so hat ist, wird sie wohl dorthin wandern wo es am schnellsten geht. Nachdem Frau Bartl tschechische Bürgerin wurde dürften wohl auch Esti und der Peter keine Schwierigkeiten haben diese zu erwerben.“

Dann fügt Herbert Ashe den Wunsch hinzu,

„Wie wäre es denn wenn Du mal ein paar Bilder von Deinen Sprösslingen sowie von Dir und Gerd senden würdest? Ich würde mich so bald als möglich revanchieren, denn wenn alles gut abläuft bin auch ich innerhalb von 8 – 14 Tagen „Papa“. (…) Unser Leben in New York zu schildern ist einfach: Wie alle hier arbeiten wir ziemlich schwer und der Tag ist sehr aufreibend. (…) Unsere Freizeit am Samstag und Sonntag sind demgemäß ausgefüllt mit Sport, Autofahrten, Theater, Musik, Klavierspielen und Faulenzen.“

Es folgen bis heute anregende Darstellungen über die Beziehungen der amerikanischen Juden – also auch der aus Deutschland stammenden Juden, die wie Ashe nicht nach Israel, sondern in die USA emigriert sind – zu Israel sowie zu jüdischen Themen:

„Man diskutiert – aber man kämpft nicht für seine jeweilige Anschauung in einer zionistischen Organisation etc. Das gibt Dir in kurzen Zügen ein Bild des durchschnittlichen Juden in Amerika unserer Altersgruppe. Und wir gehören zu ihnen. Wir unterscheiden uns in den Grundzügen wenig von den pre-Hitler-Juden in Deutschland, und dies ist auch nicht anders zu erwarten. Allerdings ist die Haltung des amerikanischen Judentums zum Zionismus zahlenmäßig viel positiver als die der Deutschen. Die meisten bejahen Zionismus, Palästina, und nur eine Minorität sind „amerikanische Staatsbürger jüdischen Glaubens“ a la CV (Central-Verein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens, also die bürgerlich-konservative Vereinigung der Juden in der Weimarer Zeit, die versuchten, Judentum und Deutschtum miteinander zu verbinden, RK). Dies war schon der Fall vor Jahren und ist keine Nachkriegs-Erscheinung. Auf der anderen Seite ist der Prozentsatz der zionistisch Organisierten geringer als in Deutschland. Man gibt lieber mehr Geld, anstatt sich durch eine Mitgliedschaft zu verpflichten und zu binden.

Wesentlich besser und gesünder ist natürlich die Einstellung des Juden hier zu seinem Judentum. Und besonders in New York. Man versteckt sich keineswegs hinter seinem Amerikanertum. Es gibt Massenkundgebungen mit 25.000 Teilnehmern im Madison Squer Garden, und öffentliche Umzüge mit Fahnen und Slogans, und ähnliche öffentliche Demonstrationen. (…) Auch die Presse geht und ging auch früher nie um das Wort „Jude“ wie die Katz um den heißen Brei herum a la Frankfurter Zeitung. Im Gegenteil. (…) Missverstehe mich aber nicht. Die fundamentale Judenfrage ist in diesem Land nicht anders als in der übrigen Welt.“

Abschließend schlägt Herbert Dora vor, ihre Korrespondenz „in gemäßigtem Ausmaß“ aufrechtzuerhalten.

„Esti ist voriges Jahr in Prag an ihrem schweren Herzleiden gestorben und ich hatte keine Ruhe, bis ich das Kind bei mir hatte.“

Am 29.1.1952 schreibt Dorle einen drei Seiten langen Brief an Herbert. Sie erwähnt den etwa zwei Jahre alten Brief von Herbert, in dem dieser er begrüßt, den Faden ihrer Jugendfreundschaft in Bamberg wieder aufzugreifen. Dorle beschreibt ihm detailliert ihr „neues“ Leben nach ihrer Immigration in das damalige Palästina. Vier Jahre nach der Staatsgründung leben sie im politisch „linken“ Kibbuz Kfar Hammakabi im Norden Israels, 30 Kilometer von der Staatsgrenze entfernt. Die Übersiedlung in das Land der zionistischen Hoffnung stellt für sie zuerst einmal einen radikalen Bruch mit ihrem früheren Bamberger Freundeskreis dar:

„Wir leben immer noch in unserem alten Dorfchen und im Prinzip in den gleichen Berufen, die wir gehabt haben. Mein Gatte beschäftigt sich nach wie vor mit Baumpflanzungen und ab und zu mit „Kunscht“, malt, zeichnet ein bisschen, ich selbst bin weiter Kinderpflegerin, tagsüber im Kinderhaus, da unsere Kinder ja gemeinsam aufgezogen werden, am Abend beschäftige ich mich mit den eigenen Jungen, die schon groß sind, der Sohn, zehnjährig, ein ganz kleiner Mann, sehr ähnlich der ungebärdigen Tochter von Martin Finkelgruen aus Bamberg, mit einem kleinen Spritzer Schaaltum in sich und sehr „Zabre“ stolz, selbstbewusst und selbstständig, „Eisen“ wie wir hier zu sagen pflegen. Die sechsjährige Tochter ganz anders, hundertprozentiges Weiberle, auf Kleider und ihre Schönheit bedacht, sehr lebenstüchtig und sich allen Situationen anpassend und zieht die ganze Familie an einem Seidenfädchen nach ihrem Willen mit Charme und ohne Gewalt.“

Dann berichtet sie ihrem nun in den USA lebenden Jugendfreund von den zionistischen Hintergründen und Motiven ihres gemeinsamen Lebensprojektes – und wie sich ihre anfänglichen zionistischen Überzeugungen schrittweise verändert haben:

„Ob Du ungefähr weißt, was eine Kwuzáh ist, weiß ich nicht, das Typische daran, die gemeinsame Bearbeitung der Bodenquellen, der gemeinsame Verbrauch aller Chawerim hat sich seit den Tagen des Anfangs nicht verändert, sonst natürlich allerlei. Wir wissen auch heute schon, dass auch wir Menschen sind, die gerne etwas mehr Bequemlichkeit, Schönheit und Annehmlichkeit im Leben haben wollen und dass man mit Chaluziat allein die Leute nicht auf die Dauer halten kann. So sind auch wir, wie überall im Land, seit den Tagen der „M dinah“ dazu übergegangen, unseren Chawerim das Leben etwas leichter zu machen, wir haben bessere Wohnungen, gehen sorgfältiger und nach eigenem Geschmack gekleidet, haben hin und wieder Theater, Konzert oder was sich sonst an Kunst bietet und siehe da, man kann Chaluz sein und trotzdem leben wie ein Mensch, auch das vereinbart sich.“

Dora beschreibt, wie sich, in Folge des Todes ihrer Schwägerin Esti in Prag am 1.6.1950, das Ankommen ihres seinerzeit neunjährigen Enkelsohnes Peter und dessen Großmutter Anna im März 1951 für sie ausgewirkt hat, bzw. wie sie deren Einwanderung nach Israel überhaupt erst zu ermöglichen vermocht hatte: Die KZ-Überlebende Anna Bartl war ja keine Jüdin, und die Einwanderung von nicht-Juden in den jungen, bedrohten, armen jüdischen Staat gehörte nicht zu den vorrangigen politischen Zielen im jungen, bedrohten jüdischen Staat. Auch sprachen beide kein hebräisch, was gleichfalls eine zusätzliche Belastung und Herausforderung darstellte.

Wie in meinen Dokumentationen über die anderen Briefwechsel dargestellt wird hatte Esti ihre Schwägerin Dora, ihren baldigen Tod ahnend, dringlich darum gebeten, den kleinen Peter aufzunehmen: „Ich möchte Euch Peterle nochmals ans Herz legen. Es ist mein ausdrücklicher Wunsch, dass er dann zu Euch soll.“ Dora schreibt weiter:

„In unserem privaten Leben war ein wichtiger Punkt das Kommen von Peter und seiner Großmutter zu uns. Esti ist voriges Jahr in Prag an ihrem schweren Herzleiden gestorben und ich hatte keine Ruhe, bis ich das Kind bei mir hatte, was kein leichtes Unternehmen war, da die Großmutter mit mir nicht verwandt ist und die Kwuzah an sich nur direkte Verwandte aufnimmt, andererseits in der C.S.R. große Schwierigkeiten waren, bis wir sie hier hatten. Dank unserer guten Beziehungen zu Konsulaten und Ämtern ist es uns gelungen und die beiden erschienen hier im vorigen März, wie wir glaubten, nun werde alles in Ruhe und Frieden sein, die alte Dame werde sich freuen, dass die Notwendigkeit den Lebensunterhalt für sich und ihren Enkel zu verdienen, von ihr genommen ist und sie und das Kind sicher gestellt sind.“

Dora beschreibt im Folgenden kurz ihren gemeinsamen Alltag aber auch die Fürsorge, die insbesondere die alten Menschen in ihrer Lebensgemeinschaft erleben: Sie brauchen nur noch für wenige Stunden bei „leichten Arbeiten“ zu helfen, ansonsten werden sie gepflegt und lassen „im Übrigen den lieben Gott und ihre Kinder einen guten Mann sein“. Danach beschreibt Dora die immensen Schwierigkeiten, die die bürgerliche Überlebende Anna Bartl, jüdisch weitgehend ohne Vorerfahrung, mit dem kollektiven Leben in einer weiterhin von Außen bedrohten, kibbuzähnlichen jüdischen Gemeinschaft hatte. Einer Lebensgemeinschaft, die ihre Felder und Siedlung mit Stacheldraht vor Angriffen feindlicher Araber und Terroristen schützen musste:

Anna Bartl

„Aber die alte Dame konnte sich in nichts hereinfinden, macht uns große Schwierigkeiten und ist nun drauf und dran, hier wegzugehen und sich selbständig zu machen, obwohl sie allerlei Krankheiten mitgebracht hat, die sie dann von Zeit zu Zeit verhindern ihre tollen Pläne auszuführen. Der Junge ist ein aufgewecktes Kerlchen, sehr intelligent und assimiliert, der sich längst assimiliert haben würde, wenn seine Oma ihn ließe. Wir haben hier Kinder, die lange nach ihm gekommen sind und von denen keiner mehr weiß, dass sie nicht hier geboren wurden. Aus dem Kinderhaus hat sie ihn nach ein paar Monaten herausgenommen was natürlich die Chawerim sehr ärgert, er geht in Haifa in eine Schule, in der 40 Kinder in einer Klasse sitzen während wir hier eine Schule haben, die ganz auf modernen Prinzipien aufgebaut ist, von Lehrern geleitet, die ihre Ausbildung jetzt in Amerika erneuert haben und die neuesten Methoden verwenden. (…) Aber für Peter ist das nicht gut, er geht in Haifa, kommt jeden Tag hier heraus und hat kein geordnetes Leben. Uns tut natürlich das Herz weh, aber viel machen kann man nicht. Ich bin trotzdem froh, dass der Junge hier ist, und im Notfall eben doch bei uns leben kann.“

Danach fügt Dora einige allgemein gehaltene Beobachtungen über die Entwicklungen in Israel seit der vier Jahre zurückliegenden Staatsgründung hinzu. Besorgt ist die 38-jährige deutschstämmige Zionistin, die 15 Jahre zuvor aus innerer Überzeugung nach Palästina eingewandert ist und am Aufbau des jüdisch-demokratischen Staates aktiv beteiligt war, weiterhin:

„Das Land selbst hat sich sehr verändert. Die riesige Neueinwanderung aus uns so nicht gemäßen Elementen zusammengesetzt, bringt Probleme, die sich kaum lösen lassen. Der alte Jischuv ist schon müde, nach den vielen Jahren der Entbehrung, der Kriege und Lasten ist die Spannung natürlich gefallen, als ein so großes Endziel endlich erreicht war und wir nach allen Jahren der Angst und Spannung ohne Gewehr und ohne Unsicherheit uns hier bewegen konnten. Nun wollen alle, es soll ihnen etwas besser gehen, so sehr sie in früheren Jahren zu jedem, aber auch jedem Verzicht bereit waren. (…) Wir haben in unserem Meschek irakische Noar, wenn man die gesehen hat, wie sie gekommen sind und wie sie heute nach nur einem halben Jahr aussehen, dann weiß man natürlich, dass jeder Verzicht sich lohnt. Es ist erstaunlich.“

„Wenn wir auch verdammt wenig für Israel tun so ist doch unsere Bindung mit dem Land ziemlich stark“

Herbert Ashe antwortet ihr zehn Monate später, mit einer selbstironischen Anmerkung bzgl. seiner Zuverlässigkeit beim Schreiben. Am 10.11.1952 erzählt er seiner Jugendfreundin von seinem Leben in den USA, beginnt aber in dieser Weise:
Dein Brief „war wirklich unerwartet, denn was Euch gute Israeliten anbelangt, so seid ihr noch schlimmer als wir hier in Amerika, was Aufrechterhalten von alten Beziehungen anbelangt.“ So habe er einen nach Israel emigrierten Jugendfreund, Karl Wiesenfelder, in den USA getroffen und ihn nach dessen gleichfalls nach Israel gegangenen engen Jugendfreund gefragt: „I don´t know“ sei dessen lakonische Auskunft gewesen. Dann weist er Dorle mit ironischem Unterton darauf hin, dass „unsere Bindung mit Israel etwas enger (ist) als Du annimmst. Du fragtest mich ob ich wüsste was eine „Kwuzah“ sei. Du scheinst vergessen zu haben, dass ich nie ein Mitglied des Deutsch Jüdischen Jugendbundes Bamberg war. Nein, – wenn wir auch verdammt wenig für Israel tun (außer Israel Bon versuchen zu verkaufen wie früher KKL) so ist doch unsere Bindung mit dem Land ziemlich stark. Israel ist oft im Zentrum der Diskussionen, wenn wir mit Freunden oder Bekannten zusammen sind. Menschen, die nicht vereinbaren können Zionisten und Amerikaner zu sein, werden immer seltener. Aber es gibt doch noch genug, und das Wort „Zionist“ das doch heute eigentlich aus dem jüdischen Wörterbuch gestrichen sein sollte – ist immer noch im Umlauf.“

Dann berichtet Herbert Ashe etwas von seinem amerikanischen Familienleben, einige kurze Auszüge seien wiedergegeben: „Ja – ich bin seit 10 Jahren verheiratet, haben einen Jungen – John, sechs Jahre, und eine Göre Janest, 4 Jahre, aber so etwas ähnliches muss ich ja schon im letzten Brief geschrieben haben. Wir führen natürlich ein sehr bürgerliches Leben hier in New York, ohne jedoch – hoffen wir – zu alt geworden zu sein. Das ist einer der großen Unterschiede zwischen Eurem und unserem Land.  Die Lebensform, die gemeinsame Verantwortung, das Land an sich, erhält Euch jünger.“ Als Importeur reise er viel in der Welt herum, auch in „zentral Amerika, Süd Amerika und Canada. Wir haben ganz fest vor, Israel zu besuchen, und hoffen wir sehr, dass wir diesen Plan bald verwirklichen können.“

Die „Verbürgerlichung“ derjenigen Chawerim, mit denen er brieflich in Kontakt stehe, machten „glücklicherweise langsam Fortschritte“, obwohl manche „Radikale“ dies „doch noch als Sünde betrachten. Unsere Freunde in Kfar Szold hatten sogar Kaffee-Kränzchen nachmittags um 4. Das finde ich fantastisch.“

Herbert Ashe fügt hinzu: „…Doch glaube nicht von meinen Witzchen, dass wir Eure Probleme bagatellisieren.“ Vor einigen Tagen habe er einen Brief von „Frau Bartl“ erhalten, der sich völlig mit Doras eigenen Darstellungen decke. Ihre Enttäuschung hierüber sei nachvollziehbar: „Diese Angelegenheit wird doch wohl nur eine Frage der Zeit sein. Es ist doch unmöglich, dass ein Junge von 11 Jahren nicht als bewusster Israeli aufwächst, und dieses Problem sollte sich doch eines Tages von selbst lösen. Wie kommt es dass Euer Influenz, und der Einfluss der Kwuzah nicht stärker war als der der Großmutter? Wieso hat er sich nicht selbst fier die Kwuzah entschieden? Ich werde dieser Tage an sie ein Paket schicken, werde jedoch, wenn ich schreibe, aus meinem Herzen keine Mörder-Grube machen, auch wenn es nichts nützt.“

Er berichtet ihr über das Schicksal einiger Bamberger, denkt aber nicht, „dass die Bamberger Kolonie“ Dora noch interessiere, von Arnold Lehmann abgesehen. Abschließend bietet er Dorle an, dass sie ihm auch gerne auf englisch schreiben könne: „Meine Frau sagt gerade dass ich mich wegen meines schlechten Deutsch entschuldigen soll, was ich hiermit tue.“

Literatur

Kaufhold, R. (2017): Retter in der Not. Vor 85 Jahren half die Kinder- und Jugend-Aliyah 12.000 Mädchen und Jungen bei der Flucht nach Palästina, Jüdische Allgemeine, 2.11.2017

Kaufhold, R. (2018): „Als ich mit 13 nach Palästina kam, hatte ich das Gefühl, ich erwache aus einem bösen Traum“, haGalil, 17.1.2018: http://www.hagalil.com/2018/01/jugendalija/

 

 

Der Überlebenskampf von Esti und Hans Finkelgruen in den Jahren 1937 – 1950 im Spiegel von Briefen.
Prag – Shanghai – Prag

Peter Finkelgruen hat ab den 1970er Jahren bei seinen Recherchen über das Leben seiner Eltern Esti (Ernestine) und Hans Finkelgruen und immer wieder Briefe seiner Eltern überlassen bekommen.

Den größten Teil dieser Briefe erhielt er von Herbert J. Ashe, einem Bamberger Jugendfreund seiner Eltern. Weitere Briefe erhielt er von seinem in Israel lebenden Cousin Gerhard, einige von der in Zürich lebenden Tilly Cohn; Cohn war vermutlich eine Verwandte von Herbert Ashe. Der größte Teil dieser Briefe ist noch relativ gut lesbar, Absender und Adressat lassen sich in den meisten Fällen zuordnen bzw. rekonstruieren, sofern diese auf den Briefen nicht schon angegeben sind; bei einigen Briefen fehlt eine Datumsangabe.

Prag 1939: Briefe von Hans und Esti Finkelgruen an Tilly Cohn

„Die Unsicherheit, wann wir zu unserer Auswanderung kommen, bildet natürlich immer den berühmten Wehrmutstropfen.“

Am 25.11.1939 schickt der 31-jährige Hans Finkelgruen von Prag (VII. Bezirk, Skuherského 3a / 27) aus ein Antwortschreiben an das „sehr geehrte Fräulein!“ Hierbei handelt es sich um die in Zürich lebende Tilly Cohn. Er versichert ihr einleitend, dass er versuchen werde, den „persönlichen Kontakt aufrechtzuerhalten“, trotz seiner schwierigen Lebenssituation in Prag. Dorthin war er gemeinsam mit Esti Finkelgruen vor den Nationalsozialisten geflohen. Sie betrieben in Prag, wie bereits in Bamberg, ein kleines Fachgeschäft für Hut- und Bekleidungswaren. Hans Finkelgruen versichert ihr, es gehe ihnen „unberufen gut, jedenfalls im Alltag“. Dass Prag für sie als Juden kein sicherer Ort ist, sondern nur Zwischenstation auf der Suche nach einem sicheren Exil, ist ihm und seiner fünf Jahre jüngeren Freundin Esti bewusst: „Die Unsicherheit, wann wir zu unserer Auswanderung kommen, bildet natürlich immer den berühmten Wehrmutstropfen.“ Er erwähnt gegenüber Cohn seinen Bamberger Jugendfreund Herbert Ashe (früher: Herbert Eschwege), nennt auch dessen Anschrift (New York City, 555 West 160 Street Apt. 18) sowie  weitere gemeinsame Bekannte: „Von Herbert habe ich zuletzt im August gehört.“ Dieser war rechtzeitig 1938 in die USA geflohen und habe dort bereits „eine Stellung, in seiner alten Branche“. Hans bittet um mehr Briefmarken für seine Markensammlung. Er erzählt vom „sehr schönen“ Prager Eisstadion, wo er bereits „die berühmtesten Eiskunstläufer und famose Eishockeykämpfe“ gesehen habe.

„Post haben wir von nirgendwoher gehabt“

14 Monate später, am 11.2.1940, schickt Hans Frau Cohn einen weiteren Brief. Hierin bemerkt er mit schuldhaften Unterton, dass er noch gar nicht auf ihr Schreiben vom 9.1.1940 reagiert habe, weil er „mit Arbeit und Laufereien vollgesteckt“ gewesen sei. Inzwischen habe er eine „Einreisegenehmigung nach Russland“, vermutlich könne er schon in einer Woche reisen. Die Massivität der Schwierigkeiten, die er hierbei bewältigen muss, deutet er nur an: „Der Weg zum Visum ist ein ganzer Roman von dem sich Unbeteiligte kaum eine Vorstellung machen könne.“ Er wolle alleine nach Russland voraus reisen, um Möglichkeiten der Emigration zu finden; seine Esti würde dann nachreisen. Das Aufrechterhalten der Kontakte zu weiteren Freunden sei schwierig: „Post haben wir von nirgendwoher gehabt.“ Er grüßt förmlich mit „Ihr Hans Finkelgruen“.

März 1940: Zwischenaufenthalt in Russland

„Von allem was die Juden bedroht gelangt nichts in die Öffentlichkeit aber was im Dunkeln, täglich geschieht kann man nicht schreiben“

Einen Monat später, am 6.3.1940, folgt ein weiterer, zwei Seiten langer Brief an Tilly Cohn, erneut mit einer handschriftlichen Ergänzung versehen. Die Ausreise nach Russland habe geklappt; von dort aus versuchte Hans eine Möglichkeit zu finden, in die USA oder aber nach Shanghai zu emigrieren; Esti sollte nachfolgen:

„…ich bin nun schon die zweite Woche hier in Russland. (…) Viel zu berichten gibt es allerdings noch nicht. Das Erfreuliche ist, dass hier das J im Pass“ – die Nazis stempelten bei allen Juden ein J in den Pass, um sie rassistisch zu erfassen und zu diskriminieren – „keine Schwierigkeiten bereitet. Aber die Kriegszeichen schaffen dafür andere.“ Er habe „alle erforderlichen Anträge gestellt, um nach Schanghai weiterfahren zu können.“ Er habe auch „ein Gesuch laufen“, dass er in Russland bleiben könne, bis er irgendwann doch noch ein Visum für die USA erhalten werde. Sein Freund Herbert Ashe setzte sich zeitgleich für ein solches Visum/Affidavit ein und stellte hierfür bei den amerikanischen Behörden auch entsprechende eigene Zusicherungen aus.

Shanghai als Fluchtort bleibt für Hans und Esti jedoch pragmatische Priorität: „Am liebsten wäre es mir natürlich, wenn ich nach Schanghai gelangen könnte. Ich habe zwar kein Permit für dort aber ich hoffe schon durchzusetzen wenn ich ankomme, dass man mich nicht zurückschickt.“ Er habe auch einige Adressen von Freunden in Shanghai, die sich bereits bis dort durchgeschlagen hatten. Die Kommunikation bleibt schwierig: „Die Post mit Deutschland ist überhaupt sehr schwierig. Ich bin am 18.2.(1940) von Prag fortgefahren und habe bis heute von meiner Familie noch keine Nachricht.“ Er habe zwar bereits „3 Karten, 2 Briefe und 1 Telegramm geschickt“, diese seien aber offenkundig noch nicht angekommen.

Hans Finkelgruens Schilderungen in den Briefen scheinen durchgehend von dem Bemühen geprägt zu sein, sich nicht unterkriegen zu lassen. Sein Optimismus dominiert:

„Ich wohne hier in Moskau im Hotel Metropol, Nr. 381. (…) Der Verkehr mit den Ämtern und Konsulaten ist leicht und angenehmer als in Deutschland. Nur müssen sie infolge des Krieges meist erst zu Hause anfragen, was eben Zeit kostet.“ Das amerikanische Immigrations-Visum könne er hingegen in Moskau nicht erhalten; seine Anträge und Papiere müsse er immer „nach Riga schicken“.

Erstmals schreibt Hans ausführlicher, warum er „so rasch und so aufs Geratewohl fortgegangen“ sei:
„Nun einmal weil es wirklich dort nicht mehr auszuhalten ist. Von allem was die Juden bedroht gelangt nichts in die Öffentlichkeit aber was im Dunkeln, täglich geschieht kann man nicht schreiben weil es niemand glaubt der es nicht miterlebt.“ Weil „das amerikanische Konsulat so langsam“ arbeite müsse er sich nun doch „umsehen, ob es nicht doch einen Fleck zu erreichen gibt wo ich mit meiner Frau endlich in Ruhe leben kann.“ Einen Ort, wo sie „als Arierinnen sicher“ seien: „So habe ich es nicht nötig“, schreibt er mit ungebrochener Ironie, „meine Frau auf dieses Abenteuer hier mitzunehmen.“ Er bitte sie, fügt Hans handschriftlich hinzu, seiner Frau – „sie lebt dort natürlich isoliert“ – einen Brief zu schreiben, weil die Postverbindungen für ihn selbst sehr schlecht seien.

„… man hat mir auf dem hiesigen japanischen Konsulat noch einmal bestätigt, dass man für japanisch Schanghai kein besonderes Visum braucht“

Neun Tage später, am 15.3.1940 – also zwei Jahre vor der Geburt seines Sohnes Peter in Shanghai – schreibt Hans aus Moskau erneut an das „gnädige Fräulein“. Er habe bereits als kleines Kind gelernt, andere Menschen nicht mit seinen privaten Angelegenheiten und Wünschen zu belästigen: „Aber ich entschuldige mich, vor mir selber, immer wieder mit den Umständen.“ Er sei nun bereits vier Wochen von Prag weg „und habe noch keine Zeile von meiner Familie zu Gesicht bekommen.“ Diese Lebenssituation der Trennung und der massiven Unsicherheit sei „viel unangenehmer als man glauben kann“ und rechtfertige vielleicht „solche Unhöflichkeiten wie die hier vorliegenden.“

Bis zum 19.3.1940 habe man ihm eine Beantwortung seiner „diversen Anträge“ zugesagt: „Im Falle der Genehmigung fahre ich am 19. oder am 22.3. mit dem Transsibirian Express nach Wladiwostok und von dort mit dem Schiff nach Tsuruga in Japan. Ob ich dann von dort aus mit dem Schiff direkt nach Schanghai gelange oder ob ich über Tokio oder Kobe oder Nagasaki fahre, weiß ich noch nicht. Hier kann man es mir nicht sagen; das muss ich erst an Ort und Stelle feststellen.“ Er beschreibt detailliert die voraussichtliche Zeitdauer seiner Emigrationsroute, „15 oder 25 Tage“. Dann führt er einige der enormen Schwierigkeiten seines Überlebensprojektes Shanghai auf:

„1. Es gibt hier kein Konsulat von ManAsheukou, sodass ich kein Transitvisum bekommen kann. Ich müsste den Pass dazu per Post nach Berlin oder nach Tschita bringen. Das dauert auf alle Fälle sehr lange und ist mir unter den gegenwärtigen schlechten Postverhältnissen zu riskant.

2. Ich brauche ein neues russisches Ausreisevisum. In meinem Pass steht, dass ich über Bigisovo, d.i. die lettische Grenze, zurückfahren muss. Ich habe also ein Gesuch einreichen müssen, dass man dieses Ausreisevisum abändert und mir erlaubt, das Land über Vladivostok zu verlassen. Das ist aber wie sich gezeigt hat ein sehr langwieriger Amtsweg (…) In diesem Falle wie gesagt Richtung Schanghai; man hat mir auf dem hiesigen japanischen Konsulat noch einmal bestätigt, dass man für japanisch Schanghai kein besonderes Visum braucht. Ich werde also schon richtig hinkommen. Und dann hat ja der Schmerz ein Ende. Dann kann man wieder vernünftig arbeiten ohne täglich mit einer anderen Behörde zu tun zu haben.“

Er werde von Moskau aus sowie bei seiner Ankunft in Shanghai telegraphieren, um „meine Leute“ über sein Schicksal zu informieren. Wenn das Gesuch abgelehnt werde habe er einen alternativen Plan: „Das Wie und Wohin schreibe ich Ihnen dann noch, wenn es so weit ist.“ Er hoffe, dass er sich bei seiner Briefpartnerin „in irgend einer Weise revanchieren“ könne.

Neun Tage später, am 26.3.1940, folgt ein kürzerer Brief, mit der „Durchschrift eines Briefes an meine Familie“, die er weiterzuleiten bitte. „Ich bin in großer Eile, der Zug geht in einer Stunde“, schreibt Hans und fügt hinzu: „Nächstens erhalten Sie auch eine schöne ordentliche Reisebeschreibung und wenn ich erst Millionär bin oder auch nur ein Teilchen davon eine Einladung in unser künftiges neues Haus.“ Der Optimismus des 32-Jährigen scheint ungebrochen.

Esti Finkelgruen an Tilly Cohn: „Ein solch komisches Emigrantenschicksal…“

Die Briefe haben Esti Finkelgruen erreicht. Neun Tage später, am 4.4.1940, schickt Esti – sie ist zu diesem Zeitpunkt 27 Jahre alt, fünf Jahre jünger als ihr Ehemann – aus Prag einen zweiseitigen, handschriftlich verfassten, gleichermaßen förmlich wie liebenswürdig gehaltenen Dankesbrief an das „sehr geehrte Fräulein Cohn!“: „Es ist ein beruhigendes Gefühl zu wissen, dass jemand in der Welt draußen aufrichtig um und mit uns besorgt ist und uneigennützig zu helfen bereit ist. Hoffentlich können wir es wiedermal gutmachen.“ Sie beschreibt ihre Gefühle darüber, dass sie alle Briefe ihres Mannes doch noch auf Umwegen erreicht haben: „Jedenfalls werden Sie sich sicher mit uns freuen, zu hören, was er alles geschafft hat. Sind Sie nicht auch erstaunt von einem solch komischen Emigrantenschicksal zu hören? (…) Hoffentlich gelingt ihm alles so. Jedenfalls ist mein Mann auch in seinen letzten Briefen sehr optimistisch (aber im Vertrauen gesagt er war und ist es immer) er denkt obwohl er noch gar nicht mal angekommen ist bereits daran und fordert mich schon telegrafisch auf alle nötigen Schritte für die Ausreise hier zu unternehmen. Ich mache mir manchmal große Sorgen aber ich werde froh sein, wenn wir wieder zusammen sein werden.“

Esti weist Frau Cohn darauf hin, dass diese bei ihrem letzten Besuch ihre Handschuhe bei ihr vergessen habe und dass sie diese gut verwahrt habe. Über sich selbst schreibt Esti: „Mir geht es gut, ich arbeite den ganzen Tag, abends schreibe ich die diversen Briefe und so verbringe ich meine Strohwitwentage.“ Esti fragt auch nach, ob sie in letzter Zeit etwas von Herbert Ashe gehört habe. „Wir haben etwa 1 Jahr keine Post von Herbert.“ Sie erwähnt noch eine Anschrift, über die man ihren Mann in Shanghai erreichen könne (Dr. Ernst Rosenthal, Zahnarzt, Bubling 788 Well Road).

Inzwischen bin ich gut durch Sibirien und das sehr, sehr weite heilige Russland gekommen“

Einen Monat später, am 24.4.1940, schreibt Hans aus Tokyo einen zwei Seiten langen Brief an „liebes gnädiges Fräulein“: Sein Versuch, Fluchtwege nach Shanghai zu finden, war bisher erfolgreich: „Inzwischen bin ich gut durch Sibirien und das sehr, sehr weite heilige Russland gekommen, habe in Vladivostok meine erste Hafenstadt gesehen, von dort nach Japan meine erste Schiffsreise gemacht und bin seit 2 Wochen bereits in der Märchenstadt Tokyo. Ich schreibe absolut bewusst Märchenstadt, weil es mir hier, nach all den europäischen Wirren und den Unannehmlichkeiten der Reise wie im Paradies vorkommt. Es ist einfach wunderschön. Eine riesige, saubere Stadt, die liebenswürdigste einheimische Bevölkerung, nette freundliche Europäer. Die schönste Jahreszeit, die man sich denken kann.“ Und auch die Parks seien von einer solchen Schönheit, dass diese „wohl nur ein Dichter würdig beschreiben“ könne. Nur seine geschäftlichen Interessen veranlassten ihn, „weiter nach Shanghai zu gehen“. Inzwischen habe er Esti brieflich „gleichzeitig aufgefordert alle Papiere vorzubereiten um mir nachzukommen. (…) Für die Ankunft in S. (Shanghai, RK) ist für sie ja alles in Ordnung, wenn ich einmal dort bin. Es bestehen sowieso nur Schwierigkeiten für jüdische Auswanderer aus Deutschland per Schiff. In unserem Falle fällt das alles aber fort.“ Hans selbst galt ja als Jude, seine Frau Esti war keine Jüdin. Er beschreibt die anhaltenden Schwierigkeiten beim Postverkehr: „Ganz zufrieden werde ich ja erst sein, wenn ich meine Frau wieder bei mir habe.“

Freud würde ja diese Gefühle sehr rasch analysieren können“

Am 1.5.1940 schreibt wiederum Esti, von Prag aus, an „Fräulein Tilly“. Eigentlich sei es „doch merkwürdig“, wie sehr sie sich auf Tilly Cohns Post freue, obwohl sie sich persönlich noch nie kennengelernt hätten: „Freud würde ja diese Gefühle sehr rasch analysieren können.“ Sie wünscht Tilly irgendwann persönlich kennenlernen und ihr „Gegenleistungen leisten“ zu dürfen. Ihre Not und Ängste andeutend bemerkt sie, sie wünsche „vorläufig nur, dass Sie niemals in die Lage kommen mögen, diese anzunehmen.“ Esti deutet die Schwierigkeiten mit ihrem kleinen Geschäft in Prag an und erwähnt die wichtige Unterstützertätigkeit ihres Schwiegervaters, des Geschäftsmannes Martin Finkelgruen: „Mein Schwiegervater ist dafür ein solches Genie dass ich ruhig bei meinen Leisten bleiben kann.“ Sie selbst arbeite täglich von 8.10 bis 18.30 Uhr im Geschäft und sei hierdurch kräftemäßig vollständig absorbiert. Sie erstelle u.a. „stark gelöcherte Häkelmuster“ und „Handschuhe mit Initialen“; Esti fügt im Brief eine kleine Zeichnung dieser Handschuhe bei. „Von meinem Mann habe ich seine Anschrift noch nicht bestätigt erhalten“, schreibt sie abschließend.

„ … man könnte auch weniger gewählt sagen, es ist mir reichlich dreckig gegangen“

Sieben Monate später, am 21.1.1941, schickt Hans (mit der Anschrift 1121 Bubbling Well Rd.) einen drei Seiten langen Brief an das „liebe Fräulein Cohn“; den Brief unterschreiben Hans und Esti gemeinsam. Es ist die Antwort auf einen fünf Monate alten Brief von Frau Cohn: Er sei sich nicht sicher, ob sie immer noch in der Schweiz lebe. Der Hauptgrund für seine verspätete Reaktion sei jedoch ihre schwierige Lebenssituation in Shanghai: „Ich habe es gerade seit August hier ziemlich schwer gehabt; man könnte auch weniger gewählt sagen, es ist mir reichlich dreckig gegangen. Dazu kam die Sorge, ob meine Frau, deren Ausreise sich immer wieder unerwartete Schwierigkeiten in den Weg stellten, noch rechtzeitig herkommen könne. Machen wir es wie das Leben und vergessen wir diese Epoche.“

Esti sei Ende November in Shanghai angekommen, „ziemlich überraschend, sodass ich beinahe ihre Ankunft, die bei vielen früheren Schiffen vergeblich geprobte, versäumt hatte. Aber die Freude war, wie Sie sich denken können, groß.“ Nach einigen sehr schweren Monaten hätten sie nun „nach alter Karlsbader Tradition“ auf der „hiesigen Hauptstraße einen kleinen Lederwarenladen“ und in einem Vorort „eine noch kleinere Handschuherzeugung aufgemacht.“ Er versichert Tilly Cohn seine tiefe Freundschaft, „das wärmt das Herz in diesem für Seele sonst sehr ungesunden Klima.“

Viele Freunde hätten vergebliche Versuche unternommen, aus Deutschland in ein sicheres Land zu fliehen: „Letzten Endes kommen wir doch alle irgend wohin. Aber warum leicht, wenn es schwer geht. (…) Was die Zukunft anlangt, so sieht sie jetzt scheinbar nicht nur in Europa, sondern überall äußerst dunkel aus.“ Man könne doch „ruhigen Gewissens sagen, dass die Politik und die Staaten restlos versagt haben.“ Er spricht Frau Cohns Sorge um ihre Eltern an: „Wir haben ebenfalls unsere Eltern in Prag zurücklassen müssen, und wir wissen noch weniger, wann und wohin wir sie anfordern können. Überhaupt hängen all unsere Pläne ein wenig in der Luft. Denn wenn es uns hier gelingen sollte, uns halbwegs durchzusetzen, sollten wir eigentlich versuchen, zunächst einmal die Eltern herüberzubekommen und Amerika zu verschieben. (…) Immerhin hat der allgegenwärtige schikanöse Konsul das Gute, uns vorläufig dieser Entscheidung zu entheben.“

Auch von Herbert Ashe habe er schon lange keine Nachricht mehr erhalten schreibt er Tilly Cohn. Von der Verschleppung seines Vaters Martin und seiner Schwiegermutter Anna in das Konzentrationslager Theresienstadt wusste Hans noch nichts, hat dies aber vermutlich befürchtet.

Epilog 1963: „The photostats of Hans´ letters are just being mailed to his sister, who will undoubtedly forward them to his son, who lives right now in Köln“

In Finkelgruens Archiv befindet sich noch ein weiterer Brief, aus dem Jahr 1963, diesmal von Herbert Ashe an seine Cousine Tilly Cohn; auch der inzwischen in Köln lebende Peter Finkelgruen wird hierin erwähnt. Tilly Cohn lebte immer noch in Zürich, der inzwischen 51-jährige Herbert hatte sie kurz zuvor dort besucht. Am 27.7.1963 schreibt er ihr auf englisch: „It was wonderful to have seen you again after such a long long time. A Life time – or more. After I left Zuerich, I spent about a week in Germany: Stuttgart-Munich-Nuernberg-Frankfurt (…) making a great retour around Bamberg. In Munich, however, I visited again the grave of grandfather Baruch, who died there in a Altersheim. (…)

The photostats of Hans´ letters are just being mailed to his sister (Dora Schaal, RK), who will undoubtedly forward them to his on son, who lives right now in Köln. The more such documents are being preserved for posterity, the better it is. Enclose I return the originals to you.“

 

 

Briefwechsel zwischen Hans & Esti Finkelgruen und Herbert Ashe

„Meine Reise hierher war alles in allem genommen ein Witz und jedenfalls eine sehr komische Emigration“ – Hans an Herbert Ashe

Am 22.5.1940 dankt Herbert Ashe für einen Brief von Hans, den dieser aus Tokio losgeschickt hatte: „Du kannst Dir vorstellen, wie verwundert ich war, von Dir aus der Russenzentrale einen Brief zu bekommen und Du kannst Dir auch denken wie erfreut, denn man wusste ja schließlich wenigstens Dich gerettet aus den Naziklauen. Ich kann mir gut vorstellen, was Du alles mitgemacht hast. (…) Du solltest mir darüber ausführlich schreiben – , oder willst Du ein Buch verfassen? Ich glaube ernstlich, dass dies nicht einmal eine schlechte Idee wäre.“

Er bestätigt seinem Jugendfreund die Richtigkeit dieser nun wohl gelingenden Fluchtversuche: „Über die Richtigkeit Deiner Reise ist sich ja so weit jeder im Klaren. Dass alles so geklappt wie Du vorhattest ist fantastisch und muss ich Dir dazu herzlich gratulieren.“ Herbert verspricht ihm, dass er sich um die Beschaffung eines weiteren Affidavits für ihn für die USA kümmern werde: „Wahrscheinlich sind Eure Papiere bereits auf dem Weg von Prag nach Shanghai. Solltest Du bald in Amerika sein, so wird es ein Leichtes für Dich sein, Esti als Ehefrau anzufordern, was in einigen Wochen erledigt wäre.“ Die Transportmöglichkeiten in die USA seien wohl das größte Problem angesichts der Wahrscheinlichkeit, dass „Italien in den Krieg eintritt, was unter Umständen bereits bei Ankunft dieses Briefes geschehen sein könnte.“

Hans „Unternehmensgeist in geschäftlichen Dingen“ sei imposant, leider habe er selbst keinerlei „Beziehungen zu Leuten, die mit China handeln.“

Über seine eigene Lebenssituation in New York berichtet Herbert nur kurz: „Von mir lb. Hans ist nicht viel zu berichten. Wahnsinnig viel Arbeit – ich bin unterdessen Geschäftsführer („Manager“ (!)) einer unserer Filialen geworden. (…) Von zuhause habe ich leider schlechte Nachrichten. Mein Vater hat vor 2 Wochen einen leichten Schlaganfall gehabt (…) und dies ca. 3 Monate vor der geplanten Auswanderung.“ Ashe jüdischen Eltern sollten die Flucht aus Deutschland nicht mehr schaffen.

Ashe kommt auf die politische Situation zu sprechen: „Ich sehe politisch so schwarz wie man nur sehen kann. Wollen wir hoffen, dass die „western hemisphere“ Amerika von den europäischen demokratischen Kathastrophen-Politikern eine Lehre zieht. Die Deutschen Nazis sind hier ebensogut – vielleicht noch besser organisiert als sie es in Holland, Belgien, Norwegen etc. waren. Leider mahlen die demokratischen Mühlen viel zu langsam.“

„Ich lief alle Konsulate ab, ohne an Russland auch nur zu denken. Durch Zufall kam ich am Sowjetkonsulat vorbei und sofort leuchtete mir ein, dass der Freundschaftsvertrag auch für mich freundlich sein müsste“

Am 17.6.1940 schickt Hans Finkelgruen von Shanghai aus – er verwendet ein dünnes Pergamentpapier, die Schrift darauf ist dennoch bis heute lesbar – ein fünf (!) Seiten langes Antwortschreiben an seinen Bamberger Jugendfreund Herbert. Dieser hatte sich in die USA retten können und blieb ein enger, konkret unterstützender Brieffreund von Hans wie auch von Esti. Auch nach Peter Finkelgruens Geburt und Hans Finkelgruens Tod neun Monate später hält er Kontakt zu Esti und schickt ihr immer wieder Geld und Lebensmittel (s.u.).

Hans verwendet nun einen „offiziellen“, fett gedruckten Briefkopf: „Hans L. Fink“ mit der Unterzeile Shanghai, 455 rue Lafayette Apt. 202. Er dankt Herbert Ashe für die bisherigen Unterstützungen und freut sich über dessen, offenkundig auch ökonomisch erfolgreichen Neuanfang in den USA. In dichter, literarisch anspruchsvoller, von abgrundtiefer Ironie durchdrungener Weise erzählt er ihm von seinem abenteuerlichen Weg nach Shanghai. Erhalten hat Peter Finkelgruen diese Briefkorrespondenz zwischen Ashe und seinen Eltern, nacheinander bei mehreren Treffen mit Herbert Ashe ab den 1980er Jahren. Ashe besuchte ihn in Köln, und Ashe war der Erste, der ihm ausführlich von seinen Eltern erzählte. Seine Großmutter Anna hatte dies nie getan, wie seinen beiden Büchern zu entnehmen ist. Ihre Ambivalenz, aber vielleicht auch ihr eigener tiefer Schmerz über ihre drei Jahre in drei verschiedenen Konzentrationslagern war wohl zu groß.

Da Peter Finkelgruen diesen äußerst gehaltvollen Brief (22.5.1940) von Hans Finkelgruen bereits in Erlkönigs Reich (S. 183 – 185) publiziert hat möchte ich hieraus nur einen winzigen Ausschnitt wiedergeben:

„Meine Reise hierher war alles in allem genommen ein Witz und jedenfalls eine sehr komische Emigration. Deine Idee, ein Buch darüber zu schreiben, war (…) bereits bei Ankunft Deines Briefes in Angriff genommen worden. (…) Wir hatten den ganzen Sommer 1939 mit dem Wunsch dilettiert, nach England zu gehen (…) Trotz eifriger Unterstützung eines Freundes aber keinen Erfolg mehr gehabt. Mit Kriegsausbruch war dann mein Entschluss, eventuell auch einfach ins Blaue loszugehen, gefasst. Ich lief alle Konsulate ab, ohne an Russland auch nur zu denken. Durch Zufall kam ich am Sowjetkonsulat vorbei – und sofort leuchtete mir ein, dass ja der erst zwei Wochen alte Freundschaftsvertrag (18.9.1939, d. Verf.) auch für mich freundlich sein müsste.“

Fünf Monate später, Mitte Februar 1940, erhielt Hans ein „30tägiges russisches Besuchsvisum über Berlin – Königsberg – Litauen reisen. Und nun begann in Moskau ein wunderbarer Instanzenstreit. Ich wollte doch nun die weiteren Visa haben, und ein jeder sagte: Gewiss, gern, aber bitte erst der andere. Glücklicherweise waren sich alle einig, dass man für Shanghai kein besonderes Visum oder Permit brauchte.“

Nach vielfältigen Enttäuschungen und zahlreichen weiteren Besuchen bei Botschaften hat Hans doch noch ein russisches Ausreisevisum erhalten: „Volle Pension hatte ich in Deutschland bereits vorausbezahlt. So genoss ich denn das russische Leben in vollen Zügen und fuhr schließlich, nachdem ich 33 Tage lang die vergeblichen Bemühungen der deutschen Schwerindustrie, dem neuen Freund Maschinen anzudrehen, beobachtet hatte, mit dem zu Unrecht berühmten Transsibirienexpress ab. Die Reise ist übrigens angenehmer, als man fürchtet. Ich erholte mich wie in einem Sanatorium.“ Nach drei Wochen Zwangsaufenthalt in Tokyo, die Schiffe waren ausverkauft „ging ich in Shanghai unbehelligt an Land.“

Über den Neustart im fremden Shanghai schreibt Hans im Brief vom 17.6.1940 voller Ironie: „Zum Leben ist Shanghai eine sehr angenehme Stadt, zum Geldverdienen weniger.“ „Von Dorchen“ habe er über Amsterdamer Freunde „gute Nachrichten gehabt.“ Dora Finkelgruen war als überzeugte Zionistin nach Palästina emigriert, was sich für Peter Finkelgruens weiteren Lebensweg prägend auswirken sollte: Im Sommer 1951 übersiedelte Peter Finkelgruen mit seiner Großmutter Anna von Prag in den drei Jahre zuvor gegründeten jungen Staat Israel.

Zu Dorle und Gerhard fügt Hans hinzu: „Auch von „Familie“ habe ich noch nichts gehört. Ich weiß übrigens nicht einmal ob die beiden es sehr bedauern nicht für Amerika registriert zu sein. Sie sind glaube ich doch sehr gute Zionisten geworden.“ Hans fügt einige bemerkenswerte politische Einschätzungen hinzu:

„Wie die Welt politisch nach dem Kriege aussehen wird können wir ja nicht einmal mutmaßen. Ich für meine Person verstehe eigentlich das französisch-englische Desaster heute noch nicht. Ich kann mir nicht helfen, es ist für mich nur mit Verrat in den höchsten Regierungsstellen zu erkläre. (…) Europa wird auf alle Fälle ein Trümmerhaufen werden und alles was wir als Kultur des Westens geliebt haben ist tot. Wie schön wäre es gewesen wenigstens ein Land davon verschont zu wissen. Die Nazis sind überall gut organsiert. Aber sie sind ebenso sicher überall schwach sobald man ihnen mit derselben Rücksichtslosigkeit gegenüber tritt die sie selber zuwenden belieben. Leider tut man das praktisch nirgends. Und wenn auch die Nazis letzten Endes den Kampf verlieren werden so werden sie am wenigsten darunter gelitten haben.“ Hans erwähnt gemeinsame Bekannte, die zwischenzeitlich auch in Shanghai angekommen seien. Seine „Amerika-Papiere“ habe er neu anfordern müssen, sie „dürften etwa Mitte August hier ankommen.“ Die Hoffnung, mit Hilfe seines Freundes Ashe doch noch in die USA zu gelangen, hat er noch nicht aufgegeben.

 

Eine Zwischenbemerkung: Juli 1943: Hans Finkelgruens Tod und Estis verzweifelter Überlebensversuch mit dem Baby Peter

Esti erfährt erst nach Kriegsende, dass ihr Vater Martin (geb. 1876 in Berlin) am 10.12.1942 – also neun Monate nach Peters Geburt – in der Kleinen Festung Theresienstadt ermordet worden war; den Namen des Mörders, Anton Malloth, erfährt Peter Finkelgruen 46 Jahre später, 1988, bei seiner Rückreise von Israel nach Köln.

Sieben Monate später, am 20.7.1943, sechzehn Monate nach Peter Finkelgruens Geburt, verstirbt Martin Finkelgruen in Folge mangelnder medizinischer Versorgung in Shanghai. Er wurde nur 35 Jahre alt. Dies ist für seine inzwischen 30 Jahre alte, mittellose und inzwischen sehr kranke Esti, ein weiterer schwerer Schlag.

Esti, auf sich allein gestellt, hat nun ein 16 Monate altes Kleinkind, Peter. Auf dessen Überleben richten sich all ihre Hoffnungen und Bemühungen, wie sich in den nachfolgend dokumentierten Briefen zeigt. Esti bleiben noch sieben Jahre. In Shanghai lebt sie, inzwischen schwer krank, gemeinsam mit einer Frau zusammen; beide verbindet, wie einzelnen Briefen zu entnehmen ist, eine lesbische Liebesbeziehung. Am 19 heiratet sie in Shanghai den aus Hamburg gebürtigen Kurt Brahm. Ursprünglich planten sie, gemeinsam nach Lima, Peru, zu emigrieren, wohin Kurt Brahm gute familiäre Kontakte hat. Brahm reist bereits „vorab“ nach Lima, um Möglichkeiten eines Neuanfangs als Kaufmann zu eruieren. Auf einer Zwischenstation trifft er auch Herbert Ashe in New York. Eine Vielzahl von – in diesem Buch nicht veröffentlichten – Briefen zeigen seine Liebe zu Esti.

1946 erfährt Esti, dass ihre Mutter Anna (geb. 1891) die Konzentrationslager Theresienstadt, Auschwitz, Majdanek und den Todesmarsch nach Ravensbrück mit sehr viel Glück überlebt hat. Anna war nach Prag zurück gekehrt, wo sie vier Jahre zuvor verhaftet und verschleppt worden war. Als Esti vom Überleben ihrer Mutter erfährt wirft sie ihre Emigrationspläne, gemeinsam mit Kurt Brahm nach Lima zu gehen, über den Haufen. Die Beziehung zu Kurt Brahm war wohl auch nicht mehr so stark. Esti kehrt Ende 1946 gemeinsam mit ihrem nun viereinhalbjährigen Sohn Peter nach Prag zurück. Ohne die Nachricht vom Überleben ihrer Mutter wäre Peter Finkelgruen also vermutlich ein Peruaner geworden.

 

Grenzsituation 1945: Einige weitere Briefe

Aus den Jahren 1945 und 1946 sind einige weitere Briefe erhalten, die die schwierige Lebenssituation Esti Finkelgruens beleuchten, wie auch ihre Beziehungen zu ihren noch lebenden, in der Welt verstreut lebenden Familie.

Estis Lebensgefährtin Eti (1942 bis 1946): Briefe an Dora

„Wie sie ja wissen werden ist es bei Estis Herz nicht so einfach. 3 Tage lang war es sehr kritisch und habe ich manche Stunde gebangt“

Aus dem Jahr 1945 sind zwei Shanghaier Briefe erhalten geblieben. Diese hat Estis Shanghaier, aus Berlin gebürtige Lebensgefährtin für sie verfasst, da Esti wegen einer Lungenentzündung zu krank zum Schreiben ist. Sie lebt seit Hans Tod am 29.7.1943 mit ihr zusammen und diese kümmert sich überwiegend um den inzwischen 2;10 Jahre alten Peter. Einige Fotos von Eti sind erhalten geblieben.

Am 20.1.1945 schreibt Eti an Estis in Palästina lebende Schwägerin Dora einen zwei Seiten langen handschriftlichen Brief: „Liebe Frau Schaal! Da Esti augenblicklich krank ist, erlaube ich mir, Ihnen an Estis Stelle zu schreiben. (…) Ich bin seit 2 Jahren Estis Weg- und Zimmergenossin und habe mit ihr in dieser Zeit frohe und trübe Stunden und alles andere geteilt. Es war bei uns immer so, dass wenn der Eine keine Arbeit hatte, hat bestimmt der Andere verdient und so sind wir die letzten Jahre immer ganz gut durchgekommen, wenn es auch manchmal hart war.

Doch nun zu Esti! Wie Sie ja erfahren haben, ist Ihr lieber Bruder schon 1943 gestorben und es war für Esti natürlich eine sehr schwere Zeit doch hat sie tapfer jede Arbeit, die sich ihr bot angenommen.“ Eine Zeitlang hatte sie eine Haushaltsstelle, mit 14 Stunden Arbeit, so dass „Esti in dieser Zeit von ihrem Kind, das ich inzwischen in meiner Obhut hatte, überhaupt nichts hatte. Dann verdiente ich wieder gut und die Mammi konnte wieder zu Hause bei ihrem Peter bleiben. Mitte November bekam Esti bei den Amerikanern eine Stellung in der Kantine doch wurde sie vor 14 Tagen schwer krank und bekam eine Lungenentzündung.“ Von dieser Erkrankung sollte sich Esti, um hier zeitlich vorzugreifen, nicht mehr erholen; sechs Jahre später verstarb sie in Prag. Aber bereits mehrere Jahre zuvor hatte sie in Prag überwiegend in Kliniken gelebt; Peter Finkelgruen besuchte seine Mutter in deren letzten Lebensjahren gemeinsame mit Anna Bartl vor allem an den Wochenenden.

Sie fährt im Brief an Dora fort: „Wie sie ja wissen werden ist es bei Estis Herz nicht so einfach und bestand der Arzt darauf, sie in ein Hospital zu bringen. 3 Tage lang war es sehr kritisch und habe ich manche Stunde gebangt, doch geht es ihr jetzt wieder gut und alle Gefahr ist überstanden. Nun muss ich mich erkundigen ob ihre Stelle frei geblieben ist.“
Wenig später berichtet sie Dora von deren kleinen Cousin Peter:
„Nun zu Peter. Ein blonder, blauäugiger Lausejunge der meiner Meinung nach nur die Augenpartien von seinem Vater hat.  Mit seinen bald 4 Jahren am 7. März ist es soweit (hier irrt sie sich um zwei Tage, RK), ist er schon ein richtiger Junge dem es am besten auf der Straße gefällt. Jetzt geht er sehr gerne in das Hospital mit weil es da immer etwas zu naschen gibt. (…) Englisch spricht er bald besser als Deutsch und schimpfen kann er auch chinesisch. An seine Eti, wie er mich getauft hat, hängt er sehr obwohl ich ihm öfter die Hosen stramm ziehen muss. Der Mammi bleibt nämlich dabei immer die Luft weg. Mit noch nicht zwei Jahren ist er schon mit mir Rad gefahren, hinten auf dem Gepäckständer ohne angeschnallt zu sein. Ich habe ihm gezeigt wie er sich bei mir festhalten muss und so sind wir beide stolz durch Shanghai gefahren.“

Es folgen einige weitere Beschreibungen ihres Alltagslebens. Dann erkundigt sich Eti nach Doras Befinden; deren „letzter Rote-Kreuz-Brief war von 1944 und hat Esti sich Gedanken gemacht, weil der kleine Michael nicht unterschrieben hat.“ Eti erkundigt sich nach Doras Lebenssituation in Palästina. Weiterhin fragt sie nach, ob Dora irgendetwas über das Schicksal ihres Schwiegervaters Martin und dessen Lebensgefährtin Anna Bartl erfahren habe: „Esti macht sich um ihren Schwiegervater große Sorgen. Esti ist seit Jahren ohne jede Nachricht von zu Hause. Haben Sie irgend etwas gehört?“

1945: Etis Brief an Herbert Ashe: „Leider kann Esti sich nach der Lungenentzündung gar nicht recht erholen, seit einigen Tagen liegt sie fast die ganze Zeit“

Es ist ein weiterer, undatierter Brief von Eti – ihr wirklicher Name ist nicht bekannt; Peter Finkelgruen sprach sie als Kleinkind jedoch als Eti an – erhalten geblieben, er dürfte, was der Inhalt nahe legt, kurz vor oder nach diesem Brief vom 20.1.1945 geschrieben sein. Eti schreibt an Herbert Ashe und berichtet ihm – „da ich für Esti immer die Post bei Bekannten schreibe“ – sehr präzise über deren sehr gefährlichen gesundheitlichen Zustand. Sie betont mehrfach, dass sie ohne Estis Wissen schreibe und bittet Herbert Ashe um Diskretion. Estis Shanghaier Arzt habe ihr nicht die ganze Dramatik ihres schweren Erkrankung mitgeteilt: „Leider kann Esti sich nach der Lungenentzündung gar nicht recht erholen, seit Januar kränkelt sie rum und abgesehen von einigen Tagen, liegt sie fast die ganze Zeit.“

Der Arzt habe ihr mitgeteilt, dass Estis einer Lungenflügel „von Bronchien belegt“ sei und dass „sie sich Wasser gezogen“ habe. „Sie hat fast täglich Fieber und ist meine einzige Hoffnung, dass es keine T.B. ist, denn mit ihrer Herzkrankheit ist die Sache doppelt gefährlich und bin ich manchen Tag recht bange, dass Peter seine Mammi behält. Zum Glück ist sich Esti nicht bewusst, wie krank sie ist.“ Sie dankt Herbert Ashe nachdrücklich für die Übersendung von 25 Dollar und führt im Detail auf, welches Obst und Lebensmittel sie hiervon gekauft hat. Sie selbst habe eine Stelle aufgeben müssen, „denn Esti fing wieder zu fiebern an und ich musste zu Haus bleiben da sie nicht imstande war für Peter zu kochen.“ Dann fügt sie über Hans Finkelgruens letzte Lebensmonate, nach der Geburt ihres Kindes Peter, hinzu, dieser sei am Ende „nicht in der Lage“ gewesen, „etwas zu verdienen, sondern (er) hat auch das letzte Stück verkauft. Doch ich hoffe, das wird Ihnen Esti mal schreiben.“

 

1946: Anna Bartls Brief an Herbert Ashe

„Ich bin im Vorjahre aus dem Konzentrationslager gekommen und bin seitdem mit meiner lieben Esti in Verbindung“

Am 25.5.1946 schreibt die inzwischen 55-jährige Anna Bartlova – Esti und der kleine Peter leben noch in Shanghai – aus Prag (Praha XV, Podoli Levá 606), wohin sie nach ihrer KZ-Odyssee zurückgekehrt ist, einen Brief an Hans und Estis nun in New York lebenden Jugendfreund Herbert Ashe/Eschweger.

Annas Brief ist ein Dokument der vergangenen dramatischen Ereignisse. Zugleich ist er ein Versuch, die abgeschnittenen familiären Lebensphasen wieder zusammen zu führen, ein gemeinsames Wissen über die Ermordeten familiär und im Freundeskreis herzustellen:

„Lieber Herr Eschweger, Nach langer Zeit habe ich Ihre Adresse erfahren, weshalb ich Ihnen mitteilen will, dass der lb. Vati mit mir im Jahre 1942 verhaftet wurde, von wo er nicht mehr zurückgekehrt ist. Ich bin im Vorjahre aus dem Konzentrationslager gekommen und bin seitdem mit meiner lieben Esti in Verbindung. Von befreundeter Seite habe ich erfahren, dass die lb. Esti in Gefahr gesundheitlich ist, sie verträgt das dortige Klima nicht, weshalb ich Sie bitte, es der Esti zu ermöglichen nach Amerika zu kommen. Für die damit verbundenen Kosten will ich aufkommen, sowie auch für die bisherigen gehabten Auslagen. Momentan kann ich von hier aus nichts veranlassen, weshalb ich mich an Sie wende und betone, dass ich in der Lage bin, die Auslagen zu vergüten, sobald es nur die bezgl. Umstände erlauben werden. Es gibt dort in Amerika Kommites, welche Juden und jüdische Versippten Hilfe gewähren.“ Anna hat inzwischen gehört, dass Herbert Ashe Eltern durch die Deutschen ermordet worden sind, was die Auschwitz-Überlebende direkt anspricht: „Mit Bedauern habe ich von den Verlusten Ihrer Lieben erfahren. Wie ergeht es Ihnen und wie ist es Ihnen ergangen. (…) Für Ihre Fürsorge danke ich Ihnen bestens erbitte mir Ihre umgehenden Mitteilungen.“

 

Briefwechsel zwischen Herbert Ashe und Esti Finkelgruen (1945 – 1948)

„… Wie schwer es mich getroffen hat kannst Du vielleicht verstehen, denn ich stand allein mit meinem damals 1 ¼ Jahr altem Kind dem Nichts gegenüber“

Nach dem Tode ihres Ehemannes zieht Esti mit ihrem Baby Peter in ein neues Zimmer (Avenue Haig 129, House 5) in Shanghai. Dort lebt sie mit einer Freundin (s.o.) zusammen, die sich gleichfalls um ihr Kleinkind Peter kümmert, besonders in der langen Phase ihrer eigenen schweren Erkrankung. Am 10.5.1945 schickt Esti einen knapp drei Seiten langen Brief an Herbert Ashe, in dem sie ihre verzweifelte neue Lebenssituation beschreibt. Ihr Jugendfreund Ashe ist einer ihrer ganz wenigen, noch verbliebenen Kontakte zur Außenwelt. Sie berichtet über die letzten Lebensmonate ihres Ehemannes Hans. Aus diesem Brief sei ausführlicher zitiert:

„Jedes Wortes Dankes ist zu wenig für die Freude, die Du mir gemacht hast“

Herbert könne sich wohl nicht vorstellen, „welche Freude Du mir“ mit dem Brief „bereitet hast. Grade nach der Zeit die ich hinter mir habe, berührt es mich doppelt, zu wissen, das(s) es doch noch wahre Freunde gibt. Jedes Wortes Dankes ist zu wenig für die Freude, die Du mir gemacht hast. (…) Leider konnte Hans hier nicht festen Fuß fassen und irgendwelche ausreichende Verdienstmöglichkeiten finden. Er war eben ein Intellektueller, aber kein Arbeiter oder gar Schieber, für die hier das richtige Pflaster war. So gab es manchmal sehr harte und schwere Tage für uns. Dazu kam dann auch, dass er sich nicht sehr wohl fühlte und zu kränkeln begann und sich entschloss, da wir nicht in der Lage waren, die vom Arzt verordnete Milchdiät für 2-3 Monate durchzuführen, sich einer Operation zu unterziehen. Die Magenoperation nahm einen guten Verlauf und es waren bereits alle Anzeichen einer kommenden Genesung vorhanden. Am 28. Juli 43 nachmittags war ich bei ihm im Hospital, er sprach bereits schon wieder von weiteren Plänen die er hatte, las Bücher fühlte sich hungrig und war guter Laune.“

Am nächsten Morgen wurde Esti vom Hospital verständigt, dass es Komplikationen gegeben habe. Als sie im Krankenhaus ankommt informiert man sie, dass Hans in der Nacht zuvor „an einer Lungenembolie ruhig eingeschlafen“ sei. Wie schwer es mich getroffen hat kannst Du vielleicht verstehen, denn ich stand allein mit meinem damals 1 ¼ Jahr altem Kind dem Nichts gegenüber.“

Nach diesem weiteren schweren Schicksalsschlag ist Esti umgezogen, vermutlich zog sie direkt mit ihrer aus Berlin stammenden Freundin zusammen.

„Wir sind alle etwas ängstlich von wegen der politischen Situation“

Am 21.3.1946 schickt Ashe einen persönlich gehaltenen, handschriftlichen Brief an Esti. Neben dem Versuch, die Kommunikation untereinander zu verbessern, erkundigt er sich nach ihrem dreijährigen Sohn Peter und nach Möglichkeiten, sie zu unterstützen. Er verspricht ihr, ihr 25 Dollar sowie Kleidung für sie und ihren Sohn zu schicken. Herbert Ashe berichtet ein wenig über seine eigene Lebenssituation in New York: „Wir sind alle etwas ängstlich von wegen der politischen Situation.“ Er erwähnt „den kleinen Steiner“ aus ihrer Bamberger Zeit, der inzwischen auch in Shanghai gelandet sei und endet mit „So – take it easy and lots of love.“

 

„Anna ist im Dezember (1945) nach 3-jährigen Konzentrationslager nach Prag zurück gekehrt, von Martin kein Wort. Ich weiß nun, dass er auch nicht mehr lebt und bin sehr traurig“

Am 3.4.1946 schickt Esti an Herbert einen maschinengeschriebenen, offenkundig in tiefer Not verfassten Brief auf dünnem “Shanghai Papier“; er ist heute nur noch schwer zu entziffern. Sie beschreibt eindringlich ihre verzweifelte Lebenssituation mit ihrem vierjährigen Sohn Peter, dankt ihm sehr für die Hilfen, benennt ihre Beschämung darüber, dass sie um Hilfe bitten muss: „…auch Peterle dankt dem Onkel Herbert in Amerika, er ist sehr stolz darauf nunmehr auch einen Onkel in Amerika zu haben denn ich musste meinem Sohn ganz genau Bescheid geben, woher dieses Paket stammte, wenn es nicht von der Tante Unra kommt.“

Wenige Zeilen später schreibt Esti: „So sagen wir Euch heißen Dank für Eure Güte, aber unnötig sollt Ihr auch kein Geld ausgeben.“ Sie führt genau auf, wofür sie wieviel Geld ausgibt; aber durch ihre schwere Erkrankung vermöge sie, im Gegensatz zu den meisten anderen Flüchtlingen in Shanghai, nicht mehr nebenbei zu arbeiten: „… aber ich bin leider gesundheitlich so down, dass ich auch die kleinsten Arbeiten bei mir nicht erledigen kann.“

„Was ist nun von den Finkelgruens übrig geblieben? Dorchen und Peterchen mein Sonnenschein“

Dann berichtet sie über ihre Mutter Anna, von deren und Martins gemeinsame Verschleppung ins KZ. Sie hatte von der Verschleppung gewusst, jedoch seit drei Jahren nichts mehr von ihnen gehört. Im Februar 1946 dann ein Lebenszeichen:

„Vor 8 Wochen erhielt ich ein Lebenszeichen von meiner Mutter. Diese ist im Dezember (1945, d. Verf.) nach 3-jährigen Konzentrationslager nach Prag zurück gekehrt, von Martin kein Wort. Ich weiß nun, dass er auch nicht mehr lebt und bin sehr traurig. Diese letzte Nachricht, welche für mich so überraschend kam hat mir einen argen Schock versetzt. Meine Mutter wusste auch von Hansels Tod nichts. Die Gestapo hat ihr alles weggenommen, sie hatte nicht mal meine Adresse. Sonst weiß ich nichts Näheres. Was ist nun von den Finkelgruens übrig geblieben? Dorchen und Peterchen mein Sonnenschein. Du siehst Herbert, auch wir Nichtjuden haben gelitten und all die Schwere mitgemacht und am eigenen Leibe erlebt. Wenn ich auch emigrieren konnte und den Grausamkeiten nicht direkt ausgesetzt war, so habe ich doch schwere und verflucht schlechte Zeit mitgemacht. Hans konnte sich hier nicht durchsetzen, ich das Kind tragend oft und oft hungrig ins Bett, dann das Kind ohne Milch aufwachsen sehen. Krankheiten für mich und dann Hans´ plötzlicher Tod, das bleibt ja nicht alles in den Kleidern hängen.“ Dann  erkundigt Esti sich nach Herberts Lebenssituation: „Ich möchte mir so gern ein Bild machen von dem Leben der deutschen Emigranten dort.“

 

1946: „Kann nicht verstehen wieso Deine Mame nicht in C.S.R. bleiben kann. Ihr seid doch keine Sudetendeutsche sondern Tschechen, und wahre Feinde der Drecksnazi“

Am 1.12.1945 war Ashe von Paul Baerwald (Insurance, California – von ihm befinden sich mehrere Briefe in Peter Finkelgruens Archiv), Leiter der jüdischen Hilfsorganisation American Jewish Joint Distribution Committee (JDC) mit Hauptsitz in New York – in einem englischsprachigen kurzen Brief darüber informiert worden, dass ihr „gemeinsamer Freund“ Mr. Finkelgruen „died in Shanghai already in 1942. I just got a letter from Mr. Finkelgruen that effect and she is telling me, that she is in dire need of everything.“ Er, Baerwald, habe das Joint Distribution Committee in New York über ihre verzweifelte Lebenssituation informiert. Dieses „has given instructions to their Shanghai Representative to extend all possible help to Mrs. Finkelgruen. (…) I am certain that the Joint in Shanghai will do everything in its power, to help Mrs. Finkelgruen.“

Ein halbes Jahr, am 20.6.1946, schreibt Baerwald auch Esti in Shanghai an. Er bestätigt den Eingang ihrer Briefe vom 30.4. und 9.6., wünscht ihr gesundheitliche Fortschritte: „Sie haben wirklich furchtbares durchzumachen, aber der Wille zum Leben scheint bei Ihnen sehr stark zu sein – glücklicherweise – und ich war froh zu hören, daß Ihr Sohn Peter in der Zwischenzeit in einem Kinderheim untergebracht werden konnte. Hoffentlich schlägt die Digitalis-Kur gut bei Ihnen an.“ Er erwähnt auch den Shanghaier Joint-Vertreter Jordan, der „Ihre Angelegenheit in besondere Berücksichtigung gezogen“ habe. Auch ihm selbst liege „ihr Fall besonders am Herzen.“ „Aber“, so fährt Baerwald fort, „hier müssen Sie vorerst Geduld haben, da ich darüber mit Herrn Ashe bei meinem demnächstigen Besuch in New York Rücksprache nehmen möchte. Seien Sie versichert, daß was getan werden kann, getan werden wird.“ Baerwald vermochte Esti nicht mehr zu helfen. Sie blieb in Prag, die medizinische Versorgung dort war gewiss sehr viel schlechter als in den USA.

 

„Ja der arme Martin hat den Tod gefunden wie so viele andere. Wie ist das vor sich gegangen?“

Vom 21.6.1946 ist ein handschriftlich, offenkundig in großer Eile verfasster Brief Herbert Ashes erhalten geblieben. Er kennt ihre neue Anschrift nach dem Tode ihres Mannes nicht, hat ihr dennoch mehrere Pakete, mit Lebensmitteln und Kleidung, zukommen lassen, ist sich aber nicht sicher, ob diese angekommen sind. Esti hat inzwischen erfahren, dass ihre Mutter Anna noch lebt. Diese versuchte wieder in das ihr vertraute Prag zurück zu kehren, was sich als schwierig gestaltet:

„Kann nicht verstehen wieso Deine Mame nicht in C.S.R. bleiben kann. Ihr seid doch keine Sudetendeutsche sondern Tschechen, und wahre Feinde der Drecksnazi. Ja der arme Martin hat den Tod gefunden wie so viele andere. Wie ist das vor sich gegangen?“ In einem weiteren Dokument – Fax Ashes an „The Chinese Government Radio Administration“ – ist sein Versuch dokumentiert, Estis Anschrift zu erfahren, um der herzkranken Esti Medikamente zu schicken.

1946: „Shanghai ist eine üble Stadt und die teuerste dazu. Mutter möchte am liebsten aus Prag weg und nach hier kommen was natürlich verrückt ist.“

Am 2.7.1946 schickt Esti einen zwei Seiten langen, handschriftlichen Brief an Herbert. Ihre Erschöpfung ist beim Lesen spürbar. Einen Tag zuvor ist sie 33 Jahre alt geworden. Sie nennt eine weitere Anschrift, an die er Pakete schicken könne.

Esti bestätigt ihren Umzug in „den von den Jap. (Japanern) seinerzeit eingerichteten District für die Emigranten.“ Sie fühle sich „sehr wohl“, es gehe ihr „auch wieder wesentlich besser“ versichert ihm die schwer Kranke. Dann fügt sie hinzu, dass ihr Arzt „beabsichtige, bei Eintreffen Deiner Medikamente mit mir noch eine Liege-Kur zu machen und so dürfte ich in absehbarer Zeit also wieder arbeitsfähig sein. Und dann muss ich sehen dass ich wieder eine Arbeit bekomme.“

Esti beschreibt ihren verzweifelten Überlebenskampf, ihr tägliches Bemühen für das Überleben ihres vierjährigen Sohnes; allein das Schreiben überfordert sie erkennbar kräftemäßig:

„Shanghai ist eine üble Stadt und die teuerste dazu. Die Preise sind fantastisch und ohne ein Einkommen ist es überhaupt nicht zu machen.“ Dann kommt sie auf Peter zu sprechen: „Für Peterle den ich jetzt in ein Kinderheim hier geben müsste auf Anraten eines Arztes damit ich mich endgültig richtig erhole (ich hatte noch eine zweite Lungenentzündung allerdings leichter Natur) wurde das Geld direkt an das Kinderheim überwiesen ich habe dem Kind ein paar Söckchen und ein paar Turnschuhe gekauft. 4600 e.N.e. ausgegeben dann bekam ich durch eine Vereinigung hier ein kleines Lebensmittelpaket wofür ich 1600 e.N.e. Zoll bezahlen musste. Gestern Samstag Nachmittag hatte ich den Kleinen bei mir, ihn mit einer Zitrone und 2 Bananen und einem Stück Kuchen gefüttert und das kostete 200/300/300 also heute ist der 2. Juli und mein Geld ist futsch. Und so geht es jeden Monat und jeden einzelnen.“

Esti beschreibt die verzweifelte Hoffnung, irgendwie einen „amerikanischen Job“ zu bekommen, was ihr wegen ihrer Krankheit jedoch nicht mehr möglich ist. „Wie sich (dies) das Joint Comittee vorstellt ist mir schleierhaft. Aber Letztendes geht es uns wahrscheinlich noch tausend mal besser als den armen Menschen in Europa. Meine Mutter, die mir der liebe Gott erhalten hat, hat in den drei Jahren K.Z. sicher genug mitgemacht. Du hast keine Nachricht von dem Verbleib Deiner Mutter? Ich bekomme regelmäßig Post aus Prag und scheint es meiner Mutter nunmehr doch geglückt zu sein die tschechische Staatsbürgerschaft bekommen zu haben. Trotzdem scheint meine Mutter unruhig und unbefriedigt zu sein, was aber wohl daran liegen kann, dass sie eben doch Deutsche ist, der cechischen Sprache nicht mächtig und deshalb physisch bedrückt ist. Mutter möchte am liebsten dort weg und ist bereit selbst nach hier zu kommen was natürlich verrückt ist. Aber wir werden ja sehen.“ Esti erwähnt die Emigrantenzeitschrift Aufbau, die sie geschickt bekomm, offenkundig hat Herbert Ashe ihr diese bezahlt; er solle „dort“ ihre Adresse ändern lassen. Sie schließt ihr Schreiben in dieser Weise: „Ich plage dich was? Lass bald und ausführlich von dir hören und bleibe unser guter Freund, deine Esti.“

In einer Nachbemerkung bittet sie Ashe, einen beigefügten Brief ihrer Freundin Eti nach Berlin zu schicken da diese „keine Nachricht von ihrer Familie hat.“

 

1946: „… Ich finde das alles so erschütternd und himmelschreiend“

Zweieinhalb Monate später, am 23.9.1946, schreibt Esti erneut an Herbert Ashe, diesmal mit Schreibmaschine. Sie hat Überraschendes zu berichten.

Sie dankt ihm „innigst“ für die übersandten 25 Dollar, „ebenso für die Kindersachen“. Ashes Versuch, ihr in irgendeiner Weise zu ermöglichen, mit seiner Firma in Austausch zu treten, ist allein wegen der eingeschränkten Kommunikationsmöglichkeiten zum Scheitern verurteilt. Es sind winzige Fortschritte im täglichen Überlebenskampf um international gültige Papiere, die Esti aufrecht erhalten. Die ihr die Hoffnung auf eine gemeinsame Zukunft lassen: „Erstens bin ich im Besitz eines auf 6 Monate gültigen Passes czechisch ausgestellt, zum Zwecke meiner Heimreise. Nun schreibt mir aber meine Mutter, welche in erster Linie um ihre Staatsbürgerschaft gebangt hatte, dass sie diese nun endgültig erhalten hat, dass sie im Besitz eines Passes und Gewerbescheines ist. Ihre Ansprüche auf die Verluste durch die Nazis angemeldet hatte. Meine Mutter hat als Deutschsprachige also sich dort alles richten können, wenn auch durch allerhöchste Protektion, fühlt sich aber trotz allem dort nicht wohl weil sie wohl auch in der Hauptsache der Staatssprache nicht mächtig ist. Nun habe ich hier die Möglichkeit nach Hause zu fahren und meine Mutter hat mir natürlich freigestellt nach dort zu kommen, aber aus allen Briefen sehe ich dass es dort gar nicht rosig ist, und so lasse ich also die nächste Gelegenheit welche hier etwa in 5 Tagen gegeben ist vorbei gehen und fahre nicht nach dort mit.“ Esti vertraut nicht auf eine Zukunft im kommunistischen Prag.

1946: „Mein Mann beabsichtigt zu seiner Familie nach Peru Lima zu fahren und so werde ich ihn also als treues Weib begleiten“

Dann hat die schwer Kranke Überraschendes nach Amerika zu vermelden:

„Jetzt bist Du aber sicher neugierig zu wissen was ich zu tun gedenke. Nun halte Dich fest und falle nicht vom Sessel —– ich habe mich verheiratet —–. Selbstredend ein Emigrant stammend aus Hamburg. Kurt Brahm vormals Brahm & Fischer Bankers. Mein Mann beabsichtigt zu seiner Familie nach Peru Lima zu fahren und so werde ich ihn also als treues Weib begleiten. Mein kleines Peterle braucht jetzt schon dringend einen Pappi denn Mammi allein kann das lebendige Bübchen kaum mehr regieren. Auf diese Art und Weise werde ich hier zwar noch einige Monate verbringen, aber ich weiß doch wohin ich gehe und außerdem habe ich das Gefühl, dass ich an der Seite dieses Mannes geborgen bin. Da ich sehr viel Achtung, Liebe und sonstige Gefühle für den Mann aufbringe wird es doch wahrscheinlich eine gute Ehe werden. Wir haben am letzten Sonntag geheiratet allerdings ganz heimlich, da ich durch Bekanntwerden doch unter Umständen das obengenannte Papier verlieren könnte und das möchte ich vorderhand doch nicht.“
Wenig später fährt sie in dieser Weise fort: „Mein Mann ist nämlich bereits bevor wir uns kennenlernten im Besitze der Einreisepapiere nach Peru gewesen und nun wollen wir versuchen, für mich die Einreise auf Grund des Papieres zu bekommen.“ Esti fügt die Bitte hinzu: „Solltest Du irgendwelche Verbindungen nach hier haben, erwähne bitte vorderhand nichts.“
Esti lebte, wie erwähnt, wohl seit dem Tode ihres Mannes Hans mit der aus Berlin stammenden Freundin in einer kleinen Wohnung zusammen; diese Freundin kümmerte sich gleichfalls intensiv um den kleinen Peter. Sie waren, wie einigen Andeutungen in Briefen zu entnehmen ist, irgendwann auch durch eine lesbische Liebe verbunden. Esti fährt im Brief fort:
„Auch meiner Freundin ist von der Eheschließung nichts bekannt also bitte ich Dich, wenn Du darauf zurückkommen willst, mir unter dem alten Namen an P. O. B. 2194 zu schreiben. Alle andere Post bitte ich weiter an meine alte Adresse.“

Esti fragt Herbert nach seiner Lebenssituation in den USA, seinem geschäftlichen Erfolg, ob sein Baby bereits auf der Welt sei. Dann fügt sie, die in Prag und Shanghai selbst so unerhört viel Schreckliches durchlebt hat, Beschreibungen zu den deutschen Konzentrationslagern hinzu und von dem vielfachen Leid, das ihre Mutter Anna  durchlebt hatte. Auch von Auschwitz wusste Esti, im Shanghai im September 1946. Dass ihr Vater Martin im Kleinen Lager Theresienstadt ermordet worden war dies hatte sie soeben erfahren.

„Weißt du übrigens dass meine Mutter auch in Auschwitz war bei allen Transporten die ins Gas gingen. So trägt sie bis heute am linken Arm die Nummer 37992“

Esti schreibt im Brief vom 23.9.1946 weiter:
„Weißt du übrigens dass meine Mutter auch in Auschwitz war bei allen Transporten die ins Gas gingen, dabei aber immer durch Glück entkommen ist. Meine Mutter schreibt darüber Furchtbares und so trägt sie bis heute am linken Arm die Nummer 37992 and is very Fraud of it. Ist sie nicht eine fabelhafte Frau meine kleine Mutti. Bei meiner Mutter wohnt zur Zeit eine K. Z. Genossin, eine Frau Dr. Bloch geborene Österreicherin, verheiratet gewesen mit einem Czechischen höheren Beamten, dieser Mann ist im K. Z. umgekommen. Diese Frau muss heute nochmals um ihre Staatsbürgerschaft ansuchen, das läuft bereits über ein Jahr ohne Erledigung. In früheren Jahren war ihr Besitz als Jüdischer beschlagnahmt und heute weil es Deutsche wären, eine Frau die so viele Jahre im K. Z. war. Ist es nicht zum Verzweifeln?

Außerdem setzte man die Frau ohne irgendwelche amtliche Verfügung von einer Stunde zur andern aus ihrer jetz.(igen) Wohnung in Prag, und wäre sie dem Druck nicht unter Zurücklassung aller ihrer Sachen aus der Wohnung gewichen wäre sie zwangsweise nach Deutschland transportiert worden. Ich finde das alles so erschütternd und himmelschreiend. Das ist nun der Frieden den die Demokraten bringen.

Sei vielmals herzlichst gegrüßt von (nun handschriftlich) Peterle und Esti.“

 

„… sondern Peter braucht auch einen Papa“

Am 19.10.1946 schreibt Herbert Ashe ihr einen handschriftlichen Brief. Er, der selbst in Esti verliebt war und sie früher heiraten wollte, macht ihr Mut, unterstützt ihren – wohl auch aus der Not erwachsenen – Heiratswunsch mit Kurt Brahm und ihre Emigrationspläne nach Lima; nicht nur ihretwegen, „sondern Peter braucht auch einen Papa.“ Wenige Zeilen weiter: „Lima ist eine sehr moderne Stadt.“ Er selbst sei nun gleichfalls vor acht Wochen Vater geworden, John („Hans“) hätten sie ihren Sohn genannt. Er erkundigt sich, ob zwei Pakete bei ihr angekommen seien, nun werde er noch ein Paket u.a. mit einem Regenmantel für Peter schicken.

 

1947: „Der Kerl wird mal ein Linguist. Chinesisch, deutsch, englisch, tschechisch und spanisch“

Am 18.5.1947 schickt Herbert Ashe Esti ein weiteres Schreiben. Er hat inzwischen – vermutlich von Esti selbst (das Schreiben ist offenkundig nicht erhalten geblieben) – gehört, dass die inzwischen 34-jährige Esti und der viereinhalb jährige Peter nun, nach sieben Jahren „Zwangsaufenthalt“ in Shanghai, doch nach Prag „zurückgekehrt“ sind; in ein Prag, welches inzwischen kommunistisch war, ein Umstand, der in Esti und Anna ganz gewiss keine von Vertrauen geprägten Gefühle weckte. Estis Wunsch, wieder mit ihrer überlebenden Mutter in Prag zusammen zu kommen war stärker als ihre Bereitschaft, mit ihrem neuen Ehemann Kurt Brahm nach Peru zu gehen. Dorthin war Brahm voraus gefahren, in Lima hatte er Familie. Nun wollte der Geschäftsmann die Möglichkeiten einer  eigenen Existenzgründung in Lima klären. In ihrem sehr umfangreichen, größtenteils handschriftlichen Briefwechsel mit Kurt Brahm deutet sich jedoch an, dass Esti Finkelgruen nicht ausreichend auf diese junge Beziehung vertraut. Brahm hat auf seiner Reise nach Lima auch Ashe in New York getroffen, was Ashe im Brief an Esti gleichfalls thematisiert. Der Emigrant Herbert Ashe versucht der Verzweifelten zuerst einmal Mut zu machen:
„Dear Esti, Vor allen Dingen meinen Glückwunsch zur glücklichen Ankunft in der Heimat, wenns auch schona bisla lang her ist. Was ist dies doch ein merkwürdiges Schicksal, unser Leben. Nun bist Du verheiratet, und jeder von Euch hat seine eigene Weltreise gemacht, der eine links `rum, der andere rechts `rum.

Du hast Dich sicher schon gut eingewöhnt, und ich hoffe, dass Deine liebe Mutter wieder wohlauf ist. Ich habe von Deinem Mann gehört, dass auch Du im Krankenhaus warst, wohl mehr zur Erholung, hoffe ich. Wie geht es Dir gesundheitlich, und wann wirst Du die große Reise antreten? Vielleicht würde Dich diese über New York führen, und wäre es schön, Euch bei uns aufnehmen zu können. Was macht Peterle? Spricht er schon tschechisch? Der Kerl wird mal ein Linguist. Chinesisch, deutsch, englisch, tschechisch und spanisch…“

Dann berichtet Ashe von ihrem eigenen kleinen Sohn, über den er sich keinerlei Sorgen machen müsse und fragt dann: „Geht Peter in Prag in die Schule? Gewiss wird Deine Mutter ihn sehr ins Herz geschlossen haben. Ich kann mir gut vorstellen, dass es für Dich, und für sie einmal sehr schwer sein wird, wieder sich zu trennen.“

Ashe erkundigt sich nach ihrer ökonomischen Lebenssituation, auch, ob er sie durch eine ökonomische Zusammenarbeit irgendwie unterstützen könne: „Kann man schon Porzellan von euch kaufen?“ Er berichtet von einem weiteren gemeinsamen Freund, der „jetzt auch von Shanghai hier angekommen“ sei. Dann kommt er auf ihren Ehemann Kurt Brahm zu sprechen:
„Und nun zu Deinem Herrn Gemahl. Du kannst Dir denken wie überrascht ich war, seinen Anruf zu bekommen. Ich habe ihn ja nicht in Amerika erwartet. Du fällst scheinbar immer auf den gleichen Type herein. Else und ich waren beide sehr beeindruckt von ihm, und können Dir nur gratulieren. Mr. Brahm gehört zu dem alten „europäischen Adel“ – was Kultur, Weltanschauung und Erziehung anbelangt. Ein Typ, der leider in dieser Welt sehr schnell auszusterben scheint. Es gibt nicht mehr viele von ihnen… In vielen Dingen ist er Hans sehr ähnlich. Er war auch bei uns im Büro. In der Zwischenzeit war von unserer Firma jemand in Lima und hat ihn dort ebenfalls gesprochen.“

1947: „Dorle würde es sehr bedauern, wenn der kleine Peter in Deutschland aufwachsen würde“

Ashe spricht auch seinen Kontakt zu Hans Finkelgruens in Palästina lebender Schwester Dora an, diese kannte er noch aus seiner Bamberger Zeit, viele gemeinsame Fotos sind erhalten geblieben: „Sie schrieb mir vor ungefähr einem Jahr. Ich antwortete, und damit verließen sie ihn.“

In einem weiteren, undatierten Brief, vermutlich aus dem Jahr 1947, schreibt Ashe ausführlicher über sei eigenes familiäres Leben in New York. Er erwähnt auch einen an ihn gerichteten Brief von Dorle: Diese würde es „sehr bedauern, wenn der kleine Peter in Deutschland aufwachsen würde.“ Aber dies sei ja inzwischen durch die Geschehnisse überholt. Dorle habe ihm geschrieben, „dass sie Euch beide so gerne in Palästina hätte, und finde ich dies ganz und gar keine schlechte Idee.“ Ashe hat inzwischen auch „einige Zeilen“ von Anna aus Prag erhalten, wie auch einen Brief der von Esti erwähnten „Bartlova“ also Estis ehemaligem Mithäftling Anna Bartlova. Peter Finkelgruen hat in Erlkönigs Reich ausführlicher über Anna Bartlova geschrieben, die er in seinen Kindheitsjahren in Prag – außer seiner Mutter und Großmutter hatte er dort ja keine real erlebbaren Verwandten – als eine Tante empfand. Bartlova war auch, wie an anderer Stelle in diesem Buch beschrieben, Zeugin dafür, dass Anton Malloth Martin Finkelgruen in der Kleinen Festung Theresienstadt ermordet hat. Auf Bitten Finkelgruens hatte sie, 90-jährig, für das Dortmunder Gericht eine Zeugenaussage verfasst, die mir vorliegt. Bartlova habe ihm „sehr rührend“ geschrieben und den Wunsch geäußert, dass er Esti und Peter nach New York holen solle. Dies liege jedoch aufgrund der restriktiven Einreisebestimmungen der USA außerhalb seiner Möglichkeiten.

1947: „Mein Mann scheint sehr beschäftigt zu sein, statt des üblichen Briefes erhielt ich zuletzt nur ein Telegramm“

Am 1.8.1947 schrickt Esti von Prag aus (Prag XV, Levá Ul 606) ein kurzes, von Verunsicherung geprägtes Schreiben an Herbert Ashe: „Heute nur einige Zeilen, um festzustellen ob Du meinen Brief aus Karlsbad auch erhalten hast.“ Sie habe den Brief nicht selbst zur Post gebracht: „Ich war mit Mutter und Peterle 5 Wochen dort und werde voraussichtlich im Monate Sept. nochmals hinfahren.“ Dann scheibt sie ihm über ihre Empfindungen über dessen Sohn; Herbert hat ihr ein Foto von ihm geschickt: „Er ist ein wirklich zu süßer Bengel. Die Ähnlichkeit ist enorm. Er ist hundertprozentig Dein Sohn.“ Dann erwähnt sie ihren Ehemann Kurt Brahm, der nun in Lima ist: „Mein Mann scheint sehr beschäftigt zu sein, statt des üblichen Briefes erhielt ich zuletzt nur ein Telegramm.“ Hierzu sei angemerkt: Es sind ca. 100, größtenteils mehrseitige Briefe Kurt Brahms an Esti erhalten geblieben, die wegen ihres persönlichen Charakters sowie ihres Umfangs nicht in diesem Buch dokumentiert werden können.

„An Dorchen“ werde sie auch sogleich noch einen Brief schicken, „Glaubst Du, dass sie mir meine Verheiratung übel genommen haben kann? Seit meiner letzten diesbezüglichen Nachricht habe ich nichts mehr gehört!“ Sofern er ihr schreibe solle er unbedingt erwähnen, dass er „Mr. Brahm kennen gelernt“ habe. Vielleicht sei sie aber auch „wegen Peterle besorgt“.

 

 „Und Peterle? Wieviel Sprachen spricht er jetzt? Er wird einmal ein Linguist.“

Vom 15.9.1947 datiert ein weiterer, zweiseitig beschriebener Brief, ohne Unterschrift. Er ist offenkundig gleichfalls von Herbert Ashe verfasst, gerichtet an Esti. Er betont in diesem persönlich gehaltenen Schreiben, dass er „sehr wohl alle Deine Briefe bekommen“ habe, auch den letzten „datiert September 11th“; offenkundig hat Esti hierin ihre Sorge formuliert, dass ihr Kontakt auch zu Herbert in den USA abgebrochen sei.

Ashe berichtet von ihrem Ferienaufenthalt im „country“, 70 km von New York entfernt: „Alles war schön und Else und John haben sich gut erholt.“ Er berichtet von ihrem Alltag, den kleinen Sorgen durch Kinderkrankheiten, der Hitze: „Wir schwitzen nun seit drei Wochen ohne Unterlass und alles jammert und klagt.“ Politisch sei die Lage jedoch schwierig, außenpolitisch, aber auch innenpolitisch sei „die Reaktion am Ruder.“ Ein gemeinsamer Bekannter, der „kleine Steiner“, sei inzwischen aus Shanghai in New York angekommen. Dann berichtet er der jungen Mutter Esti von der Entwicklung ihres kleinen Sohnes, der nun seine Umgebung handelnd erkundet: „Nichts ist vor ihm sicher, und man kann nichts mehr im Haus auf einen Tisch oder in ein Kästchen legen.“ Herbert erkundigt sich nach den „Finkelgruen-Brahm´s“: „Wie wars in Karlovy (Karlsbad, d. Verf.)? Ich kann mir gut Deine Gefühle vorstellen. Was ist in Deinem früheren Geschäft? Gibt’s denn was zu essen dort? Nebenbei, wenn Du irgendetwas willst bitte schreibe mir und ich schicke Dir ein Paket. Was macht Deine Gesundheit? Was hörst Du von Lima? Was machen die Zukunftspläne?“

Er bittet Esti Dora von ihm zu grüßen, wenn sie wieder „nach Palästina“ schreibe. Er endet in dieser Weise: „Und Peterle? Wieviel Sprachen spricht er jetzt? Er wird einmal ein Linguist. Deutsch, chinesisch, englisch, tschechisch, spanisch und durch die noos. Viele Grüße auch an Mama Bartlova.“

1948: „Wenn heute einmal in Prag Bomben fallen, werden sie morgen auch auf New York herunterkommen, und übermorgen vielleicht in Lima?“

14 Monate später, am 25.11.1948, schickt Herbert einen zwei Seiten langen, von ihm nicht unterschriebenen Brief an Esti. Er habe „eine Ewigkeit keinerlei Briefe geschrieben“ merkt er einleitend an. Er berichtet ihr einiges über ihren in Peru weilenden Ehemann Kurt Brahm, dessen „Haltung“ sie verwundert habe. Entscheidend sei doch, dass sie nun in Prag lebe, „was ja trotz allem eine Stadt in Deiner Heimat ist, und die ich trotz allem immer noch einem Shanghai vorziehe.“ Ihre Bedenken gegenüber dem kommunistischen Prag solle sie angesichts der Gesamtsituation erst einmal zurück stellen. Er selbst vermöge heute nicht mehr „sehr daran zu glauben, dass man in einem gewissen Land oder einer gewissen Stadt auf dieser Erde mehr geborgen ist als in einer anderen. Die Welt ist selbst seit Ende des letzten Krieges (…) noch viel kleiner geworden als sie vorher schon war. Wenn heute einmal in Prag Bomben fallen, werden sie morgen auch auf New York herunterkommen, und übermorgen vielleicht in Lima?“ Er sei kein Pessimist geworden sondern weiterhin „fest überzeugt“, dass alle gefährlich aussehenden Probleme „gelöst werden, und zwar unblutig.“ Er möchte ihr keineswegs zureden, in Prag zu bleiben. Das müsse sie selbst für sich entscheiden. Aber wie wolle sie nach Lima gelangen?

Institutionen wie die Prager Niederlassung des Joint – also der 1914 gegründeten, seinerzeit vor allem in Europa tätigen amerikanischen Hilfsorganisation für Juden; Hauptsitz des American Jewish Joint Distribution Committee (JDC) war New York; Gründer und bis 1937 einer der beiden Leiter war bis 1937 der in Frankfurt geborene Paul Baerwald – würden sich nur für ihre Übersiedlung nach Lima einsetzen, wenn die Initiative von Brahm ausgehe. Aber er sei gerne bereit, noch einmal an den in New York lebenden Baerwald heran zu treten. Dann schreibt Herbert Ashe Esti ausführlicher über sein Familienleben, seine beiden Kinder. Trumans Wiederwahl als amerikanischen Präsidenten sei „ein politischer Lichtblick, trotzdem er persönlich ein Idiot ist.“ Die Wahl Deweys hätte einen „Ruck nach Rechts“ dargestellt. Er werde noch diese Woche ein Paket an sie schicken.

 

 

Zum Briefwechsel zwischen Esti Finkelgruen (Shanghai & Prag) und ihrer Schwägerin Dora und ihrem Schwager Gerhard (Palästina) 1946 – 1950

„Ich möchte Euch Peterle nochmals ans Herz legen. Es ist mein ausdrücklicher Wunsch, dass er dann zu Euch soll.“

Esti (Shanghai) am 30.11.1949 an ihre Schwägerin Dorle (Palästina)

Dora Finkelgruen war die fünf Jahre jüngere Schwester von Hans. Aufgewachsen waren Hans und Dora – die in ihrer Familie nur Dorle genannt wurde – gemeinsam in Bamberg. Viele ihrer Freunde waren Juden; sie verkehrten privat größtenteils nur in ihrem kleinen jüdischen Bamberger Freundeskreis, wie einige erhalten gebliebene Fotos belegen.

Dora hatte früh die Gefahr vor den Deutschen gespürt. Sie hatte als junge Jüdin die vielfältigen rassistischen  Beleidigungen, Herabsetzungen und Bedrohungen erlebt – und hieraus die Konsequenzen gezogen: Sie begeisterte sich bereits als Jugendliche für die zionistische Bewegung (vgl. Finkelgruen, 1992, S. 67f.).

Anfangs wusste Peter Finkelgruen nicht sehr viel über seine Tante Dora: Er lebte in Shanghai und im kommunistischen Prag, sie in Palästina bzw. im jungen Staat Israel. Seine schwer kranke Mutter Esti erwähnte sie in ihren Erzählungen öfter. Esti versuchte auch, brieflich Kontakt zu ihrer etwa gleich alten Schwägerin herzustellen, was von Shanghai aus äußerst schwierig war. Am 30.4.1946 fand sie Doras Anschrift heraus und schickte ihr einen ersten, zwei Seiten langen Brief, weitere Briefe folgten. Dieser Briefwechsel wird nachfolgend dokumentiert. Dieser Briefwechsel führte dazu, dass Peter Finkelgruen fünf Jahre später, Frühjahr 1951, im Alter von neun Jahren gemeinsam mit der 60-jährigen Großmutter Anna nach Israel ging. Seine Tante Dora und sein Onkel Gerhard erwarteten sie. Anna und Peter lebten für ein halbes Jahr in dem von Tante Dora und Gerhard mit aufgebautem Kibbuz Kfar Hammakabi. Anna, die bei ihrer Ankunft in Israel bereits 60 Jahre alt und gesundheitlich durch die drei KZ-Jahre stark beeinträchtigt war, fühlte sich als Nicht-Jüdin und Überlebende dort nicht wohl; sie verstand auch kein Hebräisch. Der Kibbuz musste durch Stacheldrahtzäune vor Überfällen arabischer Gruppierungen, vor „Selbstmordattentätern“ geschützt werden; die Stacheldrähte erinnerten die KZ-Überlebende  an die deutschen Konzentrationslager, wie Finkelgruen in seinen autobiografischen Büchern beschrieben hat.

Je kränker Esti in Shanghai und danach in Prag wird desto ausgeprägter wird ihre Sorge um ihren kleinen, unter schwierigsten Lebensbedingungen aufwachsenden Sohn. Von Shanghai aus schreibt sie am 30.11.1949, ihren nahenden Tod ahnend, an Dora in Palästina einen Briefe mit der dringlichen Bitte: „Ich möchte Euch Peterle nochmals ans Herz legen. Es ist mein ausdrücklicher Wunsch, dass er dann zu Euch soll.“

Es dauerte lange, bis Peter Finkelgruen die mehr als verwirrende familiäre Lebensgeschichte ansatzweise zu rekonstruieren vermochte. In späteren Jahren erfuhr er, dass Dora 1936, mit 23 Jahren, in Deutschland „auf Hachshara“ in der Lohnberger Hütte war. Es war einer der zahlreichen zionistischen Orte, in denen junge Zionisten lernten, mit landwirtschaftlichen Geräten angemessen umzugehen und Hebräisch zu sprechen. Vor allem jedoch entstand dort ein „zionistischer Geist“ (vgl. Kaufhold, 2017, 2018), eine Begeisterung für ein Leben als freie und selbstbestimmte Juden in Palästina. Zwölf Jahre später sollte sich Theodor Herzls kühne zionistische Vision (vgl. Livnat, 2011) mit der Gründung des demokratischen Staates Israel erfüllen.

In Familiendokumenten fand Finkelgruen 1990 eine Postkarte, die Dora im August 1936 von ihrem Ausbildungsort aus verschickt hatte. Ihre und Gerhards Erzählungen von ihrer Hinwendung zum Zionismus und dem Wunsch nach Aufbau einer „neuen Gesellschaft“ klangen für Finkelgruen, so erzählt er mir, wie eine Vorwegnahme der 68er Rebellion der Jugendlichen in Europa (Kaufhold, 2018).

Und zu Weihnachten 1990 erhielt Peter Finkelgruen von Dora und Gerhard aus Israel einen Abzug eines „Karlsbader“ Fotos. Lange hatte er dieses Foto nicht familiär zuzuordnen vermocht. In „Haus Deutschland“ (1992, S. 67) schreibt Finkelgruen hierzu: „Im Gegensatz zu dem Abzug, den ich besaß, war die Rückseite beschrieben und als Postkarte am 25. August 1936 aus Karlsbad abgeschickt worden. Der Empfänger war Fräulein Dora Finkelgruen in Löhnberger Hütte bei Löhnberg-Weilburg in Hessen: „Liebes Dorle! Für eine Nachricht wären dankbar und erfreut die umstehend „Abgraphotifierten“. Quer zum Text steht in Druckschrift: Abs.: Finkelgrün Karlsbad CSR, Haus Deutschland.“

 

Zum Briefwechsel von Esti und Dora (1946 – 1950)

„Ich kam mir hier in Shanghai wie verloren und vergessen vor“ 

Am 27.2.1946 erhält Esti von Dora und deren Ehemann Gerhard einen ersten Brief, am 30.4.1946 verfasst Esti ein ausführliches Antwortschreiben, in dem sie ihre sehr isolierte Lebenssituation in Shanghai beschreibt. Auch wenn inhaltlich für den Leser einige Wiederholungen auftreten lohnt eine ausführlichere Wiedergabe einzelner Passagen:

„Ich freue mich ebenso wie Ihr“, schreibt Esti ihrer Schwägerin in Palästina, „dass wir wieder in Kontakt sind. Die letzten Jahre ohne Verbindung mit Eltern und Verwandten waren doch aufreibend. Ich freue mich sehr, dass Ihr sowohl wie Herbert, so lieb zu mir seid. Ich kam mir hier in Shanghai wie verloren und vergessen vor. Vor allen Dingen, liebes Dorchen, meine besten Wünsche für Dich und das kleine Mädelchen. Du Glückliche hast ein geordnetes Leben, Deinen Mann und zwei Kinderchen und keine besonderen Sorgen um Deine Zukunft. Was wird aus mir und Peterle? Höre die letzten Nachrichten! Ein Karlsbader Arzt, welcher hier lebt, übergab mir vor ca. acht Wochen einen Brief, datiert vom 15.12.1945 von meiner Mutter aus Prag, worin diese um meine Adresse bittet und mitteilt, dass sie nach 3jähriger K.Z. nach Prag zurückgekehrt ist. (…) Seitdem habe ich verschiedene Briefe nach Prag geschrieben aber noch nichts Näheres gehört. Von Vater kein Wort und ich glaube auch jetzt, dass er nicht mehr lebt. Hoffentlich wird die zu erwartende Nachricht nicht zu grausig und hart sein. Die Nachricht war ein schwerer Schlag für mich. Ich weiß nicht, wie es meiner Mutter geht, wer sich um sie kümmert, wie es um ihre Staatsangehörigkeit steht. (…) Ich erwarte ungeduldig Post von meiner Mutter und mache meine zukünftigen Pläne ganz davon abhängig. (…)

Meine Mutter, eine kluge und auch lebenstüchtige Frau, ist in der Vergangenheit daher von Vati so verwöhnt worden, dass ich mir ihr Leben gar nicht allein vorstellen kann; und wenn sie mir im KZ lebend erhalten geblieben ist, so möchte ich doch gerne mit ihr und Peterle, dem kleinen Andenken was uns geblieben, zusammen sein.“

„Als ich ankam hatte er seine besten Kleidungsstücke versetzt, Schreibmaschine u.s.w. und hatte keinen Cent mehr in der Tasche“
Dann berichtet Esti, die über all dieses Leid kaum sprechen und dieses nur sehr vereinzelt in Briefen anzudeuten vermag, im Brief vom 30.4.1946 über den nun vierjährigen Peter, und sie erwähnt auch ihre Freundin, mit der sie nach dem Tode ihres Ehemannes Hans zusammen wohnt:

„Peterle ist ein goldiger kleiner Irrwisch der auch nicht eine Minute ruhig ist und Mammis Herz kann mit dieser Lebhaftigkeit auch garnicht —– werden. So ist es ein Glück, dass ich hier mit einer Frau zusammen wohne, eine aus Deutschland, Berliner emigrierte Nichtjüdin, welche Peterle erzieht und ihn versorgt und mir alle Arbeit abnimmt die ich nicht leisten kann. Da wir nun über zwei Jahre  (xxx) wohnen, hängt der Junge sehr an seiner Eti (den Namen hat er ihr von Anfang an gegeben.) (…) Er besucht vormittags einen Kindergarten“.

Ein Photo aus dieser Zeit, auf dem Peter gemeinsam mit 50 chinesischen Kindern zu sehen ist, ist erhalten geblieben. Peter, so setzt sie fort, „hat ein paar chinesische Freunde und ist im übrigen von einer verblüffenden Selbständigkeit.“
Esti beschreibt die Entwicklung ihres Sohnes ausführlich; ihre Sorge, der Erziehung nicht gerecht zu werden, wird deutlich. Sie erwähnt den unermüdlichen Einsatz ihres verstorbenen Mannes Hans, dessen diplomatisches Geschick, durch welches sie doch noch den Nationalsozialisten entkommen und in das rettende Shanghai gelangt waren:

„… Als ich ankam hatte er seine besten Kleidungsstücke versetzt, Schreibmaschine usw. und hatte keinen Cent mehr in der Tasche.“ Da sie keinerlei Geld haben sind alle Bemühungen, einen kleinen Handel zu betreiben, letztlich zum Scheitern verurteilt. Während ihrer Schwangerschaft leidet sie großen Hunger, dann kann sie ihrem Säugling keine Milch bieten. Hans wird schwer krank. Während er diese Krankheit früher in Berlin medizinisch behandeln lassen konnte war ihm dies in Shanghai nicht möglich: „Eine verordnete Milchdiät war finanziell unmöglich.“ Eine Operation war unvermeidlich, eine Woche nach der OP verstirbt Hans Finkelgruen an einer Lungenembolie.

Estis Lebenssituation wird immer schwieriger. Sie vermag für einen kleinen Kundenkreis Handschuhe anzufertigen, danach arbeitet sie mit 13 Stunden pro Tag bei einer Schweizer Familie. Wegen ihrer Erkrankungen verliert sie diese sowie besagte andere Stellung in einer amerikanischen Kantine jedoch wieder: „Der Traum der amerikanischen Stellung ist im großen und ganzen ausgeträumt, fast alle Amerikaner sind wieder fort nach USA oder nach Nangkin, Chunking.“

Abschließend bittet Esti um ein aktuelles Foto, weil sie nur ein altes Foto mit einer sehr schlechten Qualität habe.

1946: „Über mein Peterle bin ich so glücklich, dass ich darüber die hässliche Emigration vergesse“

Zweieinhalb Monate später, am 10.7.1946, schreibt Esti erneut, diesmal mit Schreibmaschine, einen eine Seite langen Brief an „liebes Dorchen, lieber Gerhard“. Sie beklagt die Unzuverlässigkeit der Post; vereinzelt würden sogar „die Marken von den Beamten geklaut“. Sie berichtet über ihren nun 3;4 Jahre alten Peter, der seinem Vater so ähnlich sehe und fügt auch ein Foto bei. Sie denkt an Hans´ dritten Todestag, an dem sie „Hansls Grab“ besuchen werde: „Bei meinem letzten Besuch dort habe ich Peterle mitgenommen, damals hat der Kleine es gar nicht begreifen können, hat sich unter Sträucher gebückt und gemeint, nein da ist der Pappi nicht.“
Das „Bildchen vom kleinen Michael“ – Dorles und Gerhards Sohn  – hänge über ihren Betten, sie müsse immer wieder an ihren Mann denken: „Ich habe noch all die Briefe die Vati hierher geschrieben hatte und wenn ich diese lese kann ich nicht begreifen dass wir uns nicht wieder sehen werden“ schreibt Esti. Sie entschuldigt sich bei ihrer Schwägerin, dass sie durch ihre Beschreibungen „deine Wunden aufrühre“, aber sie habe ein so großes Bedürfnis sich mit jemandem über ihre Familie auszusprechen. Größter Trost sei ihr hierbei ihr kleiner Sohn: „Über mein Peterle bin ich so glücklich, dass ich darüber die hässliche Emigration und alle Miesigkeiten vergesse und letzten Endes dankbar bin dass ich hier bin.“

Der Briefkontakt zu ihrer Mutter Anna in Prag klappe nicht immer, aber immerhin dürfe diese nun in Prag bleiben. Ihre Mutter habe, bedingt durch ihre Jahre in den Konzentrationslagern, gute Kontakte zu ehemaligen Mithäftlingen und hoffe deshalb „über den Verband der ehemaligen politischen Häftlinge u dem sie angehört und eine K. Z. Gefährtin welche das Leben meiner Mutter rettete Tochter eines hohen Regierungsbeamten ist wird sie es wohl schaffen.“ Hierbei handelt es sich um Bela Krausova.

Estis Hauptsorge, die sie am Leben hält, gilt der Zukunft ihres kleinen Sohnes: „Für Peters Zukunft wäre wohl eine Weiterwanderung nach Australien oder Neuseeland vorzuziehen, aber ich fühle mich ausserstande unser Leben durch meiner Hände Arbeit sicherzustellen. Leider hat mich Shanghai so sehr stark gesundheitlich mitgenommen dass ich außerstande bin meine häuslichen Arbeiten außer Kochen auszuführen. Wie könnte ich es dann wagen weiter in der Welt herumzuziehen und womöglich fremden Menschen zur Last zu fallen. Meiner Mutter geht es finanziell soweit scheinbar gut sie hat ihre Ansprüche angemeldet, hat eine nette 3 Zimmer Wohnung auch die wirtschaftliche Lage dort wird die beste Europas sein, also muss Peterle eben Cechisch lernen. Vielleicht können wir Euch dann eben von dort besuchen kommen.“ Sie bedankt sich abschließend sehr und voller Schuldgefühle für das ihr zugesandte Geld: „Wie Ihr auf dem Bilde sehen könnt ist Peter gut genährt und alles was ihm früher fehlte ist reichlich nachgeholt worden. Für Frischobst ist nun wieder einmal gesorgt.“

Dezember 1946: Übersiedlung von Shanghai nach Prag

„Peter freut sich sehr nach America zu kommen. Er möchte am liebsten weiter auf der Welt herumziehen. Ich habe schon genug und möchte schon endlich dauernd mich sesshaft machen“

Fünf Monate später, im Dezember 1946 – Peter ist nun knapp fünf Jahre alt – ist die inzwischen 33-jährige, schwer herzkranke Esti mit Peter nach Prag übergesiedelt. Sie leben dort mit ihrer 55 Jahre alten, durch die KZ-Jahre schwer traumatisierten Mutter Anna zusammen, was ihr Wunsch war.

Esti ca. 1949 im Prager Sanatorium

Am 16.3.1948, anderthalb Jahre nach dem letzten mir vorliegenden Brief, schreibt Esti  ausführlich an Dorle und Gerhard in Palästina. Diese haben inzwischen selbst zwei Kinder. Ihr Wunsch, nach Palästina zu kommen, ist spürbar. Gegenüber der kommunistischen Regierung in Prag hat Esti wenig Vertrauen: Es herrsche hier „politische Hochspannung“; über die „neuesten Ereignisse“ werde gewiss weltweit diskutiert. Esti schreibt über ihre Zukunftspläne: „Leider bin ich noch immer hier, aber voraussichtlich werde ich im Laufe des Sommers von hier reisen können. Es wird ja recht hart sein die nötigen Erlaubnisse zu erhalten aber ich habe auf Grund gewisser Bez. (Beziehungen) – sie spielt auf ihre Freundschaft mit Bela an – immerhin Aussicht.“

Esti, deren Erkrankung fortschreitet, schreibt erneut ausführlich über die Entwicklung ihres Sohnes in dieser neuen, ihm unvertrauten Prager Umgebung, der neuen Sprache: „Peterle ist innerhalb eines Jahres hier um einen Kopf gewachsen. Er sieht gut und gesund aus, spricht bereits besser csechisch als wir beide. Englisch muss ich ihn allerdings täglich unterrichten“. Die Hoffnung, doch noch in die USA zu gelangen lebt weiter in ihr, „zu meinem Leidwesen ist ihm csechisch geläufiger geworden als engl(isch).“

Dass der sechsjährige Peter in Prag nun nicht mehr seinen gewohnten Reis essen kann – den es in Prag nicht gibt – verwirrt ihn anfangs sehr. Mit sechs Jahren hätte er nach Erwartung von Dorle bereits eingeschult werden sollen, was Esti jedoch um ein Jahr verschiebt. Er besucht stattdessen einen privaten Kindergarten, in dem auch englisch gesprochen wird. Den kommunistischen staatlichen Schulen misstraut Esti offenkundig zutiefst:

„Ich hoffe jedoch recht zuversichtlich, dass er kommenden Herbst hier nicht zur Schule gehen braucht. Im Übrigen ist auch Peterles Kindergarten vor kurzem auch verstaatlicht worden.“ Esti schickt Fotos von Peter; dieser „freut sich sehr nach America zu kommen. Er gibt zwar selber zu, er möchte am liebsten weiter auf der Welt herumziehen. Ich habe schon genug und möchte schon endlich dauernd mich sesshaft machen.“ Ihre Herzerkrankung, von der sie in Shanghai angenommen hatte, sie überstanden zu haben, schränkt Esti sehr ein. Sie vermag „nicht die leiseste Arbeit leisten, Treppensteigen ist ein Problem geworden und gehen kann ich nur ganz langsam.“

Esti bittet ihre Schwägerin darum, ihr die Geburtstagsdaten ihrer Kinder mitzuteilen. Sie vermag auch in Prag die Ereignisse in der Welt und insbesondere in Palästina zu verfolgen, vor allem durch die Lektüre der von den USA aus betriebenen deutschen Emigrantenzeitschrift Der Aufbau; Peter Finkelgruen sollte ein gutes  halbes Jahrhundert später für einige Jahre im Aufbau schreiben.

Esti schreibt, zwei Monate vor der Staatsgründung Israels:

„Ich lese von Zeit zu Zeit den Aufbau hier und verfolge die politischen Ereignisse in und um Palästina. Und hoffe ich mit Euch dass es nicht zum Krieg kommt. Der Weltsicherheitsrat wird mit Palästina beweisen müssen ob er ein Recht hat zu existieren. Ich habe nicht die leiseste Ahnung in welchem Teile Palästinas ihr zuhause seid. Kann ein Überfall auf Eure Siedlung, wie es bei vielen anderen der Fall ist möglich sein?“ Sie fügt noch, obwohl ihr dies schwer fällt, eine Bitte um Hilfe hinzu:
„Und nun eine recht unbescheidene Anfrage. Könnt ihr und ist es nicht mit allzugroßen Kosten verbunden einige Orangen nach hier für Peterle senden? Es ist nur eine Frage und nur deshalb, weil wir hier so gut wie keine bekommen und Peterle möchte immer Orangen oder Bananen.“ Sie beendet ihren Brief handschriftlich mit „In Liebe eure Esti“.

„Fürs Erste ich erwarte mit größter Ungeduld das Visum-Versprechen von dort“

Ein Jahr später, am 9.3.1949, schickt die inzwischen 35-jährige Esti einen weiteren Brief an ihre Schwägerin; an diesem Tag hat Peter Geburtstag, er wird sieben. Estis Gedanken kreisen nur noch um dessen Überleben in einem sicheren Land. In ihren letzten Lebensmonaten verbringt sie nach Peter Finkelgruens Erinnerungen den größten Teil ihrer Zeit schwer krank in einem Prager Sanatorium.

Hier nun ein kleiner Einschub, um diese dramatische Lebenssituation aus der Perspektive der Erinnerungen Peter Finkelgruens zu beschreiben. In Haus Deutschland (1992, S. 120) schreibt er hierzu:

„Wie lange hatte ich eine Mutter? Erst sehr spät habe ich angefangen, mich mit meiner Mutter zu beschäftigen. Nach unserer Ankunft in Prag habe ich sie nur noch wenig gesehen. Mutter war selten zu Hause. Dann lag sie im Bett. Mit großen Kissen im Rücken auf einer großen Couch in Großmutters Wohnzimmer.“

Peter vermag seine todkranke Mutter gemeinsam mit seiner Großmutter Anna nur gelegentlich zu besuchen (vgl. Finkelgruen, 1992, S. 120-123). Er hat auch kaum Gesprächspartner, mit denen er über seine Sehnsüchte und Ängste sprechen kann.

Sein zweites familienbiografisches Werk, Erlkönigs Reich (Finkelgruen 1999), lässt Finkelgruen mit einer tief berührenden Erinnerung an seine Mutter ausklingen (S. 200-206), in welcher er sich an eine gemeinsame Szene mit seiner Mutter Esti in ihrem Shanghaier Zimmer erinnert, die nachgelesen werden sollte: „Ich bin etwa drei Jahre alt. (…) Meine Mutter ruft. Ich öffne die Tür und sehe die Treppe zum Dach. Sie ist vom Tageslicht erhellt. (…) Es ist warm, aber es beginnt zu regnen. Esti sagt, jetzt können wir duschen. Ich verstehe nicht, was sie meint. Wir haben kein Bad. Nur unser kleines dunkles Zimmer. (…) Ich spüre, wie die Regentropfen auf meine Haut fallen, an meinem Körper herunter laufen. Auch Estis Körper glänzt vom Naß des Regens. (…) Ich spüre ein Wohlgefühl auf der Haut und eine Freude, weil Esti lacht. Wir hüpfen beide auf dem Dach. Wir sind ganz allein. (…) Esti, meine Mutter, ist guter Laune, und ich bin glücklich, mit ihr ganz allein zu sein.“ (S. 205f.) So endet Erlkönigs Reich.

1949: „Wenn also der hiesige Staat der Lebensgefährtin (Bestätigung der jüdischen Gemeinde vorhanden) eines Ausländers eine Rente als rassisch Verfolgte gibt, brauchte die Kwuzah nicht päpstlicher als der Papst zu sein“

Esti bemerkt im Brief vom 9.3.1949, dass sie „Wochen und Monate nicht außer Haus“ gekommen sei und nun heute, in Begleitung von Anna und Peter, die Gattin des hiesigen Jointvertreters“ – Frau Henry Levy – besucht „und noch einmal alle meine Sorgen dort durchgekäut und ein Telefongespräch mit dem Palästina-Konsulat gehabt“ habe:
„Fürs Erste ich erwarte mit größter Ungeduld das Visum-Versprechen von dort. Es genügt nicht wenn die Kwuzah Vertretung damit einverstanden ist. Es soll dort ein entsprechendes Amt geben, welches solche Fälle von Nichtjuden bewilligt und mir die Einreisegenehmigung gibt. Erst auf Grund dessen bekomme ich hier das sogenannte Vorvisum, mit diesem in der Hand muss ich erst hier um den Pass einreichen und dann erst kann ich meine Sachen packen.“
Der Joint könne ihr und ihrem Sohn die Fahrkarten und ev. Flugkarten bezahlen sowie 100 Kilo „Übersiedlungsgut“ bewilligen, dies sei eine sehr große Hilfe: „Joint ist aus Amerika angewiesen mir sowohl wie Mutter zu helfen.“

Anschließend beschreibt Esti – es war einer ihrer letzten Briefe – die schwierige Lebens- und Entscheidungssituation ihrer Mutter Anna. Diese war keine Jüdin, hatte aber ihr eigenes Leben dabei riskiert, als sie den Juden Martin Finkelgruen im von den Nationalsozialisten besetzten Prag versteckte. Esti hat erfahren, dass Doras Landwirtschaftsgemeinschaft – die Kwuzah – der Aufnahme einer Nicht-Jüdin nicht zustimmen würde bzw. könnte. Die Mitglieder des Kwuzah führten, zwei Monate vor der Staatsgründung, selbst einen Überlebenskampf und wussten um die Wahrscheinlichkeit eines bevorstehenden Krieges der fünf arabischen Armeen gegen den jungen jüdisch-demokratischen Staat:

„Es sind zwingende Gründe, welche ich Dir nicht brieflich mitteilen kann welche es nötig machen, dass Mutter mitfährt.“ Anna – diese Passage ist im Brief mit einem Kugelschreiber handschriftlich unterstrichen worden – erhalte „als die Lebensgefährtin Martins als welche sie sogar amtlich festgestellt wurde“ in Prag eine kleine Pension. Deshalb erhebt die schwer Kranke, die ihren nahenden Tod fühlt, eine moralische Forderung:

„Wenn also der hiesige Staat (gemeint ist die CSSR, RK) der Lebensgefährtin (Bestätigung der jüdischen Gemeinde diesbezüglich vorhanden) eines Ausländers eine Rente als rassisch Verfolgte gibt, brauchte die Kwuzah nicht päpstlicher als der Papst zu sein. Aber trotzdem kann ich es verstehen.“ Es gehe ihr auch nicht vorrangig „um Mutters Aufnahme dort, welche sie selbst auch nicht anstrebt“ sondern um das „Visumsversprechen“. Für ihren kleinen Sohn sieht sie im kommunistischen Prag, alleine mit seiner 51 Jahre älteren Großmutter, keinerlei Lebensperspektive. Estis Zeilen werden immer verzweifelter, so groß ist ihre Angst um ihren kleinen Sohn: „Dass Mutter niemandem zur Last fallen wird ist ganz sicher. Sie war nie von Fremden abhängig und wird es nie in ihrem Leben sein. Ich wollte ich hätte nur ein kleines Teilchen der Energie.“

Esti bittet inständig darum, irgendjemanden in Israel zu finden, der die Einreiste Annas und Peters nach Israel ermöglichen könne. Sie weiß wie langsam die verschiedenen Behörden bei Visumsgesuchen arbeiten. Verzweifelt schreibt sie:
„So sehr dankbar ich bin für Eure liebe Hilfe und Freundlichkeit so bitte ich Euch ganz inständigst Mutter die helfende Hand zu reichen, schwimmen wird sie dann schon selbst. Mutter hat doch wirklich in den allerschwersten Zeiten zu Martin gehalten. Dass es ihr nicht gelungen ist und Vater nicht mehr lebt ist ein Unglück. Sie wäre heute ebensogut seine Frau und die Hindernisse auf den hiesigen Ämtern wären nicht da.“ Sie deutet ihre Beschämung darüber an, dass sie, die sogar in Shanghai einen eigenen Kleiderladen betrieben hat, bei einer Emigration nach Israel um Hilfe für eigene Kleidung bitten müsse.

1949: „Peterle ist Feuer und Flamme und bezeugte aber schon im Laufe des Sommers große Neigung zur Landwirtschaft“

Esti hat noch immer die Hoffnung, es irgendwie selbst noch nach Palästina zu schaffen und sich dann mit ihrer Schwägerin „gründlich ausquatschen“ zu können: „Peterle ist Feuer und Flamme und bezeugte aber schon im Laufe des Sommers große Neigung zur Landwirtschaft.“ Und sie erinnert an frühe Szenen aus ihrer Kindheit, etwa als sie bei einem Besuch in Karlsbad gemeinsam „unter einer Decke lagen und Du so viel Kluges geschnackt hast.“

Estis Verzweiflung nimmt zu. Vier Monate später, am 20.7.1949, schickt sie einen handschriftlichen, nur schwer zu entziffernden Brief an Dorle; vermutlich war es ihr letzter Brief. Esti teilt mit, dass sie seit dem 29. März in einem Hospital sei. Sie deutet die Schwere ihrer Krankheit an; Anna und Peter könnten sie einmal pro Woche besuchen. Dann der mit Kugelschreiber unterstrichene Satz: „Peterle hat die 1. Klasse beendet, ein gutes Zeugnis.“ Auf der nächsten Seite: „Jetzt habe ich nur einen einzigen Wunsch: „Gesunden“.“ Sie erkundigt sich nach Dorles Kindern.

Zehn Monate später, am 1.6.1950, stirbt Esti Finkelgruen in Prag. Ein Jahr später, im Sommer 1951, gehen Anna und der neunjährige Peter in den ihnen vollständig unvertrauten jungen jüdisch-demokratischen Staat Israel. Dora und Gerhard (nun Israel) erwarten sie.

 

[1] Siehe den englischsprachigen Nachruf auf Herbert Ashe: http://www.legacy.com/obituaries/stamfordadvocate/obituary.aspx?n=herbert-ashe&pid=164190273

[2] Ein Dokumentationszentrum hat einige Dokumente, u.a. Briefe von und über Selm und Jacob Eschwege publiziert, in denen ihre Gefangenschaft in Theresienstadt dokumentiert wird. Darunter befindet sich auch eine an Klara Cohn (Turnerstraße 25, Zürich) gerichtete Postkarte von Selma Eschwege vom 29.10.1943 : Teile Dir mit dass ich gesund bin u. hoffe von Dir das Gleiche. Leider ist aber mein lb. Mann am 30. September gestorben und muss ich an das Alleinsein erst allmählich gewöhnen.“ Sie fragt auch nach, ob sie vielleicht etwas von ihrem Sohn Herbert erfahren habe.  Cohn schickte die Postkarte nach dem Krieg an Herbert Ashe weiter. Auch ihr bedauerndes Begleitschreiben ist dort veröffentlicht, wie auch ein Brief von Ashe (Stamford) vom 29.4.1988 http://digital.cjh.org:1801/view/action/singleViewer.do?dvs=1525420508676~828&locale=de_DE&VIEWER_URL=/view/action/singleViewer.do?&DELIVERY_RULE_ID=6&adjacency=N&application=DIGITOOL-3&frameId=1&usePid1=true&usePid2=true

[3] Alle in dieser Studie zitierten Briefe befinden sich im „Nachlass“ der Materialien von Peter Finkelgruen. Dieser Nachlass ist in der Stiftung Rheinisch-Westfälisches Wirtschaftsarchiv zu Köln (RWWA) archiviert. Alle zitierten Briefe sind unter der Nummer 570-56-1 aufbewahrt.

[i] Das Dokument ist im Internet in einem „NS-Archiv – Dokumente zum Nationalsozialismus“ publiziert worden  https://www.ns-archiv.de/nmt/no2001-no2500/no-2263.php