Die Mussolini-Verehrerin und -Biografien Louise Diel als Vermieterin von Peter Finkelgruen…
Die Beiträge sind auch als Buchveröffentlichung erhältlich.
Roland Kaufhold: „Mich erfüllte ein Gefühl von Stolz. Ich hatte es geschafft.“ Peter Finkelgruen: Ein halbes Jahrhundert Leben als Jude in Deutschland, BoD 2022, 244 S., Euro 12,99, Bestellen?
Von Roland Kaufhold
Sommer 1959: Es ist eine sowohl individuell als auch gesellschaftlich komplizierte Situation, die den 17-jährigen Peter Finkelgruen im Sommer 1959 dazu veranlasste, gemeinsam mit seiner Großmutter Anna von Israel ausgerechnet nach Deutschland zu übersiedeln.
Äußerlich war sein Studienwunsch der Auslöser: Weitgehend mittellos vermochte Peter Finkelgruen in Israel nicht zu studieren. Da seine Eltern Opfer der Naziverfolgung waren, hatte er aber Anspruch auf die deutsche ≫Wiedergutmachung≪. Mit diesem ≫Blutgeld≪ hätte er einen Teil seines Lebensunterhaltes als Student bestreiten können. In England, wo er entschieden lieber studiert hätte, hatte er keine Aussicht, ≫Entschädigungsgelder≪ für das deutsche Morden zu erhalten.
Finkelgruen hatte bereits als Jugendlicher verstanden, dass er von ≫den Deutschen≪ nur entschädigt würde, wenn er deren Untaten belegen konnte. Deshalb hob er alle Dokumente über seine ihm über Jahrzehnte vorenthaltene Familiengeschichte sorgfältig auf.
Eine weitere Rolle spielte der Wunsch seiner Großmutter Anna, die drei Jahre Konzentrationslagerhaft in der Kleinen Festung Theresienstadt, in Ravensbrück, Auschwitz und Majdanek überlebt hatte, wieder nach Deutschland zurückzukehren. Diesen Wunsch äußerte sie Peter Finkelgruen gegenüber zwar nie direkt, dennoch spürte er ihren Wunsch.
Nach ihrer Befreiung bzw. ihrer Flucht auf einem Todesmarsch 1945 war Anna nach Prag gegangen, weil dies die einzige Stadt war, die sie noch kannte. Auch hatte sie dort einige einflussreiche Freundinnen, mit denen sie gemeinsam Ravensbrück überlebt hatte. Nach Israel war Anna 1951 gegangen, auf den ausdrücklichen Wunsch ihrer verstorbenen Tochter Esti hin: Dort lebte Dora, die Schwester von Hans Finkelgrün, dieser hatte Esti das Schicksal ihres achtjährigen Sohnes Peter in ihren letzten Briefen ausdrücklich anvertraut.
Ob USA oder England: Beide Länder wären für Finkelgruen als Studienorte günstiger und naheliegender gewesen als Deutschland: ≫Ich hatte ein englisches Abitur abgelegt. England oder Amerika waren mir viel näher als Deutschland≪, schreibt Finkelgruen in Erlkönigs Reich.
Freiburg
Als der 17-jährige und seine Großmutter in Freiburg aus dem Zug steigen, betreten die beiden unbekanntes Terrain. In einer zentral gelegenen Straße finden sie eine Wohnung als Untermieter. Vermieterin ist eine Frau Diel. Diese stellt sich als Schriftstellerin vor und legt großen Wert darauf, ihnen das Vermieten als eine Großzügigkeit darzustellen. Dass die Finkelgruens aus Israel kamen, war ihr bekannt. Dass Peter Jude war, konnte sie deshalb annehmen.
In Erlkönigs Reich hat Finkelgruen seine Begegnungen mit Diel ausführlicher beschrieben. Diese Begegnungen mit der seinerzeit 66-Jährigen verwirren ihn. Nur schrittweise geht dem jungen Studenten auf, wo er gelandet ist, dass er nun im Land der Mörder lebt. Jedoch erst ein halbes Jahrhundert später formuliert er bewusst die biografisch-politische Brisanz dieser Begegnung und deren politisch-psychologische Tiefendimension: Die 1893 geborene Diel, die er 1959 nahezu als Erste in Deutschland kennenlernt, 14 Jahre nach der Shoah, war eine glühende Verehrerin des italienischen Duce Benito Mussolini.
≫Mit Ausnahme Deutschlands…≪
Ich glaube, es ist heute nicht mehr nachvollziehbar, was für ein Tabubruch Finkelgruens Übersiedlung von Israel nach Deutschland darstellte, im Jahr 1959. Einige Fakten, Rahmenbedingungen: 1959 gab es keinerlei direkte Verbindungen zwischen Israel und Deutschland. Nahezu alle Juden hatten Deutschland verlassen. Der junge jüdisch-demokratische Staat Israel existierte erst seit elf Jahren, war unmittelbar nach seiner international anerkannten Gründung von fünf feindlichen arabischen Staaten angegriffen worden. In den Passstempeln Israels findet sich der ausdrückliche Hinweis:
≫Für alle Länder der Welt gültig – mit Ausnahme Deutschlands.≪
Etwa 70.000 deutsche Jeckes – so wurden die aus Deutschland stammenden Juden in Israel genannt (Greif et. al. 2000) –, waren in den Jahren von 1933 bis 1939 nach Israel emigriert, darunter auch Peters Tante Dora. Dora war bereits als Jugendliche überzeugte Zionistin. Für sie war es seelisch unproblematisch, in das fremde, klimatisch heiße, ökonomisch unterentwickelte Palästina aufzubrechen. Eretz Israel war ihre Hoffnung. In Palästina wurden diese vor den deutschen Nazis geflohenen Deutschen jedoch keineswegs mit ausgeprägtem Enthusiasmus empfangen: ≫Kommst Du aus Deutschland oder aus Überzeugung≪ war ein geflügeltes Wort. Und nach Ende der Shoah emigrierte noch einmal eine größere Anzahl von Überlebenden in das seinerzeitige Palästina.
Den Begriff ≫Jeckes≪ verwendete man im jungen Staat Israel vermutlich wegen des vornehmen, überkorrekten Auftretens vieler deutscher mittelständischer Emigranten, die selbst bei der Feldarbeit, bei 40 Grad und mehr, ihre korrekte Kleidung anbehielten. Vor allem für osteuropäische Juden wurden sie zum Objekt des Spottes, mit dem diese sich für die ≫bürgerliche≪ Geringschätzung revanchierten, den sie um die Jahrhundertwende als Neueinwanderer durch alteingesessene ≫deutsche≪ Juden erfahren hatten.
Die Jeckes hielten als einzige Einwanderergruppe an ihrer eigenen Kultur und Identität fest und verweigerten die Anpassung. Dies nahm ihnen der Rest der jüdischen Gesellschaft übel. Ihre Bindung an ihre ehemalige Heimat, aus der man sie grausam vertrieben hatte, blieb auch Jahrzehnte nach der Shoah stark. Jeckes waren im Justizwesen maßgeblich an der Gestaltung des demokratischen Staates Israels beteiligt. Viele Jeckes – Schriftsteller, Journalisten – hatten in Israel mehrere deutschsprachige Zeitschriften gegründet; dennoch war deutsch die am stärksten verhasste Sprache im jungen jüdischen Staat. 1959 existierten keine direkten Beziehungen zwischen Israel und Deutschland, diplomatische Beziehungen wurden erst sieben Jahre später aufgenommen. Alle Anfragen und Anliegen von Deutschen wurden über die Botschaft Englands in Israel abgewickelt. Die ersten indirekten Kontakte zwischen Israel und Deutschland waren 1952 in Folge der sogenannten ≫Wiedergutmachungsverhandlungen≪ entstanden. Legendär ist der Ausspruch der späteren israelischen Ministerpräsidentin Golda Meir:(1) ≫Wir sollten mit den Deutschen wie Gewinner mit Verlierern verhandeln.≪
Die israelische Delegation, an der kein Vertreter der seinerzeit winzigen Jüdischen Gemeinde Deutschlands beteiligt war, lehnte es auch ab, für die Gespräche deutschen Boden zu betreten oder deutsch als Verhandlungssprache zu verwenden; die ersten Verhandlungen fanden im März 1952 im Hotel Oud Castel in Wassenaar bei Den Haag statt (Jelinek 2004, S. 167). Nach dem Luxemburger Abkommen vom 11.9.1952, gemäß dem die Bundesrepublik Israel Waren als Aufbauhilfe leisten müsse, wurde am 4.5.53 in Köln in der Subbelrather Straße 15 die sog. ≫Israelmission≪ eröffnet. Seit Mai 2013 erinnert im Jüdischen Wohlfahrtszentrum der Synagogen-Gemeinde in Köln-Ehrenfeld eine Gedenktafel an deren Geschichte.
Natürlich kam es sehr vereinzelt, aus privaten und beruflichen Gründen, zu einer Remigration nach Deutschland. Dennoch wurde diese nur ≫im Geheimen≪ vollzogen, unter schweren Schuldgefühlen. Insbesondere für in Israel aufgewachsene Kinder wurde diese Remigranten fast immer als ein abgrundtiefer Schock erlebt, als ein Verrat, eine Entwurzelung, die sie ihr Leben lang nicht mehr loswurden. Der jüdische Psychoanalytiker Sammy Speier hat dies sehr eindrücklich beschrieben. Sammy siedelte 1958, mit 14 Jahren, mit seinen Eltern von Israel nach Frankfurt am Main über:
≫Die Übersiedlung nach Deutschland wurde erwogen, dann in die Tat umgesetzt, musste jedoch geheim bleiben: Selbst Nachbarn und Freunde durften nichts davon erfahren. Sie war mit tiefster Scham verbunden.≪ –
wohl bei seinen Eltern, vor allem jedoch bei Sammy Speier:
≫Offiziell machten wir einen Ausflug nach Europa. Die Leute haben es natürlich gerochen. Für mich war es eine Zwangsemigration, darin war es eine Wiederholung. Es war mit Scham verbunden. Auswandern aus Israel! Ich war böse auf meine Eltern.≪
(Kaufhold 2012, S. 162)
Eine frühe, dunkle Angst in einem fremden Land
Peter Finkelgruen ist anfangs seelisch mit der Bewältigung der alltäglichen Anforderungen in einem ihm vollständig unbekannten Land beschäftigt. Deutsch als vertraute Muttersprache hatte er bisher nahezu nur mit seiner Großmutter sprechen können. Mehrfach hatte er zuvor in Israel erleben müssen, dass seine Großmutter, selbst eine Überlebende von Auschwitz, von Überlebenden der Shoah körperlich attackiert wurde, als sie deutsch sprach.
In Freiburg verspürt er das Gefühl einer diffusen, sprachlosen, übermächtigen Bedrohung. Einer Angst, für die er keine Worte hat. Er hat abgrundtiefe Angst vor Deutschland, vor deutschen Polizisten. Überall trifft er auf das Erbe der Nationalsozialisten, denen der größte Teil seiner Familie zum Opfer gefallen war. In einer autobiografischen Skizze hat er seine Bedrohungsgefühle im Lande der Täter – die ihn nie ganz verlassen haben – im zeitlichen Abstand von über 50 Jahren beschrieben:
≫Wer lange nach 1945 geboren und vielleicht in der Sowjetunion sozialisiert wurde, mag keine großen Ängste beim Anblick deutscher Uniformen gehabt haben, als er in die Bundesrepublik kam. Ich hatte Herzklopfen und Ängste, als ich im Sommer 1959 nach Deutschland kam. Ich musste Techniken entwickeln, mich gegen diese Angst zu wappnen. Dazu gehörte, dass ich erst lernen musste, in welchem Land, in welcher Gesellschaft ich mich befand: Deutschland war das Land, das mich ausgestoßen hatte, noch ehe ich überhaupt auf der Welt war. Deutschland hat mich nicht willkommen geheißen. Keine deutsche Regierung, seit Gründung der Bundesrepublik, hat je die Juden, die vertrieben und jene, die überlebt haben, für willkommen erklärt, sie gar gebeten, wenn sie es denn für möglich hielten, wieder nach Deutschland zu kommen. Im Gegenteil.≪ (Finkelgruen 2012)
Finkelgruen sucht nach Sicherheiten, nach Vertrauten, nach Freunden. Von sich aus hat er wirklich keinerlei Interesse daran, sein erstes Jahr in dem ihm fremden Land von beunruhigenden, verängstigenden Begegnungen beeinträchtigen zu lassen. Er sucht wirklich keine Nationalsozialisten. Deutschland ist seine Zukunft, hofft er. Hier studiert er nun, hier sieht er seine berufliche Perspektive. Er steht weitestgehend allein in der Welt. Er verfügt über zahlreiche Sprachen, mit denen er sich durchs Leben schlagen kann. Und er hat drei Pässe: Einen israelischen, einen tschechischen und einen deutschen Pass.
Vieles ist dem jungen Studenten im Deutschland der späten 1950er Jahre unvertraut. Vieles macht ihm Angst. Beim Stöbern in den Büchern seiner Vermieterin, Frau Diel, wenige Monate nach seiner Ankunft in Deutschland – sie hatte ihn zum Gespräch in ihr dunkles Wohnzimmer gebeten –, fällt ihm ein 1937 erstmals erschienenes Buch in die Hände, das seine Vermieterin über den italienischen faschistischen Führer Mussolini verfasst hatte. Der Name L. Diel war mit goldenen Lettern auf dem Buchcover eingeprägt. Mussolini. Duce des Faschismus lautet der Titel. Publikationsort war Leipzig, Paul List Verlag. Es war bereits die ≫6.–8. verbesserte und ergänzte≪ Ausgabe, erst ein Jahr nach der Erstausgabe. Benito Mussolini war zu diesem Zeitpunkt ein enger Verbündeter Deutschlands, über Mussolini und Italien hatte Peter bereits während seiner Zeit in Israel viel erfahren. Als er besagtes Mussolini-Buch in den Händen hält erinnert er sich:
≫Es gab einen Grund, weshalb ich dieses Buch eine Weile festhielt. Wenige Jahre zuvor hatte ich in einem der Antiquariate in Haifa (…)≪
– die Finkelgruen seinerzeit häufig aufsuchte, auch während der Schulzeit, auf der Suche nach Ausfluchtmöglichkeiten und neuen Begegnungen –
≫(…) ein Buch über die Erfahrungen von italienischen Antifaschisten gefunden, das mich tief beeindruckt hatte. Dieses Buch hatte vom Leben von Verbannten auf einer kleinen Insel im Mittelmeer berichtet. Es enthielt keine Berichte über entsetzliche Verfolgungen wie jene in den Konzentrationslagern, von denen Großmutter mir erzählt hatte. Ich empfand jedoch eine große Nähe zu diesen Verbannten.≪ (Erlkönigs Reich, S. 53)
Daniele, einer seiner Internats- und Schulfreunde aus Jaffa, ist Sohn eines italienischen Ingenieurs, der noch rechtzeitig vor dem italienischen Faschismus nach Palästina geflohen war. Sein Vater war früh verstorben, aber Danieles aus Guatemala gebürtige Mutter hatte ihren drei Kindern trotz ihrer schwierigen Lebenssituation eine gute Erziehung geboten. Mit Daniele, dem früh vaterlos Aufgewachsenen, vermag er sich zu identifizieren; und dieser mit dem weitgehend elternlos aufgewachsenen Peter:
≫Wir empfanden uns als Überlebende einer unnachsichtigen Verfolgung, vor der unsere Eltern geflohen waren, die unsere Väter dennoch nicht überlebt hatten. Irgendwie waren wir Teil dieser Geschichte. Unsere Existenz war noch immer abenteuerlich – wie Robinsons Überleben nach dem Schiffbruch.≪ (ebd., S. 54)
Gemeinsam sind sie Verbannte, Ausgestoßene, ≫umgeben von Feinden≪, besuchen gemeinsam eine christliche Mission, der die Juden im jungen zionistischen Staat mit wenig Interesse und Sympathie begegneten. Am Wochenende bleiben sie oft alleine im Internat zurück: ≫Daniele und ich blieben zurück, zwei für sich selbst verantwortliche Jugendliche.≪ Gemeinsam versuchen sie an einem Samstag etwas zu Essen zu finden, die Schränke sind jedoch abgeschlossen, und das Land ist arm. Ihr Hunger wächst. Sie gehen auf den Speicher, fangen im Halbdunkel, inmitten des Staubes, selbst verängstigt, eine Taube. Diese schlachten sie mit ihrem Brotmesser, mit zitternden Händen, obwohl sie über keinerlei Erfahrungen hiermit verfügen. Gemeinsam genießen sie das Gefühl, wie Robinson alleine auf der Insel überlebt zu haben ≫wie jene von den Faschisten Verbannten.≪
Hieran erinnert sich der 18-Jährige, als er das Mussolini-Buch seiner 50 Jahre älteren Vermieterin in den Händen hält. Vom Alter her hätte sie seine Großmutter sein können. Sie war die deutsche Biografin des Hitler-Verbündeten Benito Mussolini. Im Buch findet er zu seiner Überraschung sogar ein Geleitwort Hermann Görings:
≫Der gewaltige Aufstieg des neuen italienischen Imperialismus ist das Werk eines Mannes, der seinem Volke durch den Faschismus eine große Gegenwart und Zukunft schuf. Kampf, Sieg und Sendung der faschistischen Bewegung sind uns Nationalsozialisten wesensverwandt≪, heißt es dort.
Das Buch ist von einer bewundernden Darstellung Mussolinis geprägt, wie Finkelgruen bei nur flüchtiger Lektüre versteht. Er blättert es auf: Auf der ersten Seite findet er eine handschriftlich mit Tinte geschriebene, großformatige Widmung: ≫Dem Reichskanzler Hitler. Mussolini.≪ Darunter, in Fraktur: ≫Eine interessante, bisher noch unveröffentlichte deutsche Schriftprobe des Duce.≪ Beim Durchblättern fällt ihm ein Motto ins Auge: ≫Der Imperialismus ist ein ewiges und unveränderliches Gesetz des Lebens.≪ Auf S. 81 heißt es:
≫Dies >Erbe des Faschismus<, wie sein Schöpfer Mussolini es auch nennt, enthält die geistigen Grundlagen der jungen Bewegung in höchster Vollkommenheit und Geschlossenheit und soll auch in zukünftigen Zeiten als Ausgangspunkt und Richtschnur dienen. Da der Faschismus sowohl als ein politisches Glaubensbekenntnis, wie als philosophische Lebensauffassung angesprochen werden darf und auch dem Mann des Volkes gerecht wird, so kann sich jeder das herausnehmen, was er sucht und braucht. Der Faschismus passt sich der Form nach den Bedingungen des Raumes und der Zeit an und erklärt ausdrücklich, kein festes Programm zu haben, das etwa bis zum Jahre 2000 zu verwirklichen wäre.≪ In einem anderen Buch seiner Vermieterin findet Finkelgruen einen Stempel: ≫Dr. Louise Diel, Mitglied der Reichsschrifttumskammer≪ (1997, S. 57).
Der junge Student vermag dies nicht einzuordnen, zu verstehen. Diese Reichsschrifttumskammer sagt ihm nichts. Er verspürt eine Irritation, eine Beunruhigung. 40 Jahre später sollte er hierzu anmerken: ≫Es gab noch vieles, was ich lernen mußte, wenn ich verstehen wollte, wo ich mich befand. Eines war gewiss: Wir waren in Deutschland. Und zwar in der Bundesrepublik, in West-Deutschland, dort, wohin Großmutter gewollt hatte.≪ (Erlkönigs Reich, S. 57) Die ≫Mussolini-Enthusiastin≪ Louise Diel Es lohnt sich, sich näher mit der Person Louise Diel zu beschäftigen, die den Kontakt zu dem jungen Juden Finkelgruen suchte. Der Historiker Wolfgang Schieder hat 2013 ein Buch über den Mythos Mussolini. Deutsche in Audienz beim Duce verfasst. Louise Diel nimmt hierin eine zentrale Rolle ein. Ein 20 Seiten umfassendes Kapitel widmet Schieder alleine ihr: ≫Mussolinis deutsche Vertraute – Die Audienzen Louise Diels 1934–1939≪ (Schieder 2013, S. 86–105). Die 1893 geborene Louise Diel war die ≫Enthusiastin Mussolinis≪ in Deutschland, die sich ≫bewusst in den Dienst der faschistischen Propaganda≪ stellte (Schieder 2013, S. 86). Ihren Enthusiasmus für Mussolini sollte sie ihr Leben lang bewahren. Ab 1934 gewährte Mussolini der Privatperson Diel regelmäßige Audienzen. Nach September 1939 brachen die Audienzen ab, einige Nazi-Bürokraten hatten wohl intrigiert.
Diels rege Publikationen über Mussolini hielten jedoch weiterhin an. Sie legte zwischen 1934 und 1943 allein fünf deutschsprachige Duce-Hymnen vor: Mussolinis neues Geschlecht (1934), Ich zeige Dir Italien (1935) (ein Kinderbuch über Mussolini), Kampf, Sieg und Sendung des Faschismus (1937) (Die erwähnte Neuauflage trug den Titel Mussolini. Duce des Faschismus), Sieh unser neues Land mit offenen Augen (1938) sowie Mussolini mit offenem Visier (1943) (vgl. Schieder 2013, S. 382). 1934 hatte Diel auch das frauenbewegte Buch Das faschistische Italien und die Aufgaben der Frau im neuen Staat vorgelegt. Drei Jahre zuvor, 1931, hatte sie, gemeinsam mit ihrer progressiven Freundin Käthe Kollwitz (die Bilder beisteuerte), das Buch Ich werde Mutter publiziert, das von einem Historiker als die Schrift einer Feministin eingeordnet wird. Diel trat darin, wie ihre Freundin Käthe Kollwitz, für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf und für die Ehescheidung ein. Das Buch erregte Aufsehen – und erntete Spott. Kurt Tucholsky verriss es 1931 in der Weltbühne in der Rubrik ≫Auf dem Nachttisch≪ unter seinem Pseudonym Peter Panter; laut Schieder (2013, S. 88) wurde er dabei ≫ziemlich bösartig≪. Der Verriss wirkt erstaunlich modern, denn Tucholsky nimmt darin das Phänomen des ≫Fremdschämens≪ vorweg: ≫Ich habe mich bei der Lektüre immerzu geschämt. Kennen Sie das, wenn man sich schämt, weil einer auf dem Podium steckenbleibt? Frau Diel bleibt nicht stecken.≪ Tucholsky fügt noch hinzu: ≫Das Buch ist in der Empfindung sauber, an keiner Stelle kokett. (Die Frau ist verheiratet. Wäre sie es nicht, nie hätte sie den Mut besessen, dieses Buch zu schreiben.) Die dargestellten Gefühle sind wahr, genauso hat die Frau sicherlich gefühlt. Das Buch ist durchaus anständig gemeint. Und es ist von einer so erschütternden Durchschnittlichkeit…≪ Am Ende wundert sich Tucholsky über Diels Kooperationspartnerin: ≫Eines hat mir einen kleinen Schlag gegeben, das sind die Bildbeigaben des Buches. Sie stammen von Käthe Kollwitz. Ich kann gar nicht verstehen, dass sie da mitgetan hat. Immerhin: das Buch wird ein beliebtes Weihnachtsgeschenk gebildeter, aber schwangerer Mittelstandsfrauen abgeben.≪ Vier Jahre später, am 21.12.1935, nimmt sich Kurt Tucholsky, der frühe, scharfsinnige und kämpferische Kritiker des deutschen Faschismus in Göteborg das Leben.(2) ≫Unter Mitarbeit von Benito Mussolini…≪
Zurück zu Louise Diel: Im Juni 1933 unternahm sie als freie Journalistin ihre erste Italienreise, zahlreiche weitere folgten. Ihre Reiserouten besprach sie mit Mussolini persönlich: am 5.4.1934 hatte er ihr die erste Audienz gewährt; bis zum 7.10.1939 folgten 20 weitere (Schieder, S. 90). Sie hatte als Deutsche eine einzigartige Sonderstellung und besprach mit dem von ihr verehrten italienischen Duce die weiteren vier Bücher sowie die zahlreichen Zeitungsbeiträge und Vorträge. Ihr Ende 1934 publiziertes Buch Mussolinis neues Geschlecht trug dank ihres Insistierens den Untertitel ≫Unter Mitarbeit von Benito Mussolini.≪ In der italienischen Ausgabe fehlt dieser Untertitel. Das erwähnte Buch Kampf, Sieg und Sendung des Faschismus war im wesentlichen eine Biografie Mussolinis und äußerst erfolgreich: 1940 wurde es in der 48.–75.tausendsten Auflage als Sonderausgabe gedruckt. Diel muss als Publizistin eine bekanntere Persönlichkeit in Deutschland gewesen sein. Selbst Relativierungen oder winzigste kritische Anmerkungen zu Mussolini sparte sie in all ihren Publikationen aus. Sie vermochte Mussolini sogar Ende der 30er Jahre noch regelmäßig zu besuchen, als dieser kaum noch Gäste aus Deutschland empfing. Immer wieder brach sie zu Italienreisen auf, wurde hierbei von italienischen Behörden unterstützt, ≫gerade so, als ob sie zum faschistischen Führungskader gehörte≪, so Schieder (S. 93).
1937, offenkundig in Folge von Machtkämpfen und Intrigen innerhalb der deutschen Nazibürokratie, begann Diels Abstieg. 1938 geriet sie ins Visier des mächtigen deutschen NS-Amtes Rosenberg. Aus Rücksichtnahme auf seine deutschen Bündnispartner rückte auch Mussolini schrittweise von seiner glühenden Verehrerin ab. Ihr regelmäßiges Honorar von 2500 Lire, das sie seit wohl 1934 aus Italien bezog, floss weiterhin. 1940 und 1941 versuchte Diel noch zweimal, eine private Audienz bei Mussolini zu erhalten, was ihr jedoch verweigert wurde. 1943 erschien ihr letztes Mussolini-Buch, dieses vermochte sie Mussolini jedoch nicht mehr persönlich zu übergeben. Erreicht hat es Mussolini dennoch, über die italienische Botschaft von Berlin. Am 18.2.1944 dankte er in einem handschriftlichen Brief der ≫sehr geehrten Signora und Freundin≪; er zeigte sich berührt, dass sie ihm ≫ihr Talent und ihre Bemühungen gewidmet≪ habe (ebd., S. 105). Acht Monate später trat Mussolini das letzte Mal öffentlich auf, im Teatro Lirico; am 28.4.45 wurde er bei seiner Flucht von Partisanen in Verhängung eines Todesurteiles erschossen.
Der mysteriöse Bankier Tuchler
Diese Geschichte von Finkelgruens ersten zwei Jahren in Deutschland führt zu Menschen, deren Bedeutung für die Geschichte des Zionismus der 1930er Jahre sowie die Frühgeschichte der Beziehungen zwischen Deutschland und Israel bis heute nicht ganz klar ist: Zum Ehepaar Kurt und Gerda Tuchler und dessen Beziehung zu Leopold von Mildenstein, einem SS-Offizier im Sicherheitsdienst. 1960 erhielt die Mussolini-Verehrerin Diel Besuch aus Israel, offenbar ein alter Bekannter: ≫Er käme aus Israel, und sie dächte, sie sollte uns bekannt machen. Der Besucher saß auf der Chaiselongue. Ein älterer Herr in einem eleganten Anzug. Seine Gesichtshaut war gebräunt. Solche Bräune kannte ich aus Israel. Mit gelangweiltem Misstrauen sah er mich an. Frau Dr. Diel stellte ihn mir als Herrn Bankier Tuchler aus Israel vor, einem alten Bekannten, der jetzt häufiger in Deutschland sei. Wegen der Wiedergutmachung, raunte sie verschwörerisch, als handele es sich um ein unanständiges Geheimnis.≪ (Erlkönigs Reich, S. 50)
Finkelgruen stellte sie ihrem israelischen Gast als angehenden Diplomaten vor, der mit ihrem Sohn Helmut befreundet sei: ≫Ich reichte Herrn Tuchler die Hand, sprach auch ein, zwei Sätze Hebräisch, er aber wechselte sofort wieder ins Deutsche, fragte, ob wir, meine Großmutter und ich, unsere Wiedergutmachungsangelegenheiten schon geregelt hätten. Ich antwortete ausweichend, und er wandte seine Aufmerksamkeit wieder ganz seiner Gastgeberin zu.≪ (ebd., S. 50f.) 2011 wurde die Beziehung des Ehepaars Tuchler mit den Mildensteins durch den vielfach ausgezeichneten Dokumentarfilm Die Wohnung des israelischen Filmemachers Arnon Goldfinger ins kollektive Gedächtnis gerufen – mit weiterhin mehr offenen Fragen als Antworten. 2007 war Gerda Tuchler im Alter von 98 Jahren in Tel Aviv verstorben. Zahlreiche Verwandte, Kinder und Enkel Gerdas – ≫eine Tochter, 12 Enkel, 29 Urenkel≪(3) –, darunter auch ihr Enkel Arnon Goldfinger, begannen mit der Entrümpelung der zentral in der Tel Aviver Gordon Street gelegenen Wohnung, in der Gerda 70 Jahre gelebt hatte. Die Wohnung war überfüllt mit Erinnerungen aus der Berliner Lebensphase Gerda Tuchlers – ≫84 Handtaschen, 104 Schals, 92 Paar Handschuhe≪ (Goldfinger) –, darunter eine riesige Bibliothek deutschsprachiger Bücher. Deutsch blieb die einzige Gerda Tuchlers, hebräisch lernte sie nicht. Ihre in Israel geborenen und aufgewachsenen Kinder und Enkel wussten nichts mit diesem Erbe, diesen Berliner Erinnerungen anzufangen. Vielleicht wollten sie seelisch auch nichts damit zu tun haben; sie hatten im bedrohten jüdischen Staat andere Sorgen und Wertschätzungen. Sie waren Sabres. Die tödliche Illusion einer deutsch-jüdischen Gemeinschaft war nicht mehr ihre Sache.
Arnon Goldfinger wurde bei den im Film dokumentierten Aufräumarbeiten neugierig. Er befragte auch seine Mutter Hannah darüber, was sie über das Wirken ihrer eigenen Mutter Gerda und deren Beziehung zu dem Nationalsozialisten Mildenstein wusste. In seinem Artikel im Zeit Magazin gibt Arnon Goldfinger die Eindrücke seiner Treffen mit Oma Gerda als Kind und Jugendlicher wieder: ≫Großmutter, immer elegant gekleidet, geleitete mich erhabenen Schrittes ins Wohnzimmer. Wir setzten uns, ich aufs Sofa, sie in den Sessel, links und rechts an der Wand zwei imposante, von einem Künstler gemalte Porträtbilder: eine hübsche Frau mit schwarzem Haar, Großmutter Gerda; und, mit strenger Miene und durchdringendem Blick, Opa Kurt, seligen Angedenkens. Dann, bei Tee, Apfelstrudel oder Schweizer Schokolade, wurde das Gespräch eröffnet. Trotz all der Jahre in Israel beherrschte Großmutter Gerda die hebräische Sprache nicht, und ich, typisches Kind des Landes Israel, wollte kein Deutsch lernen. So fanden unsere Gespräche auf Englisch statt. Manchmal vergaß ich für einen Moment, dass wir uns im Nahen Osten befanden.≪ (≫Ihr Freund, der Feind≪, Zeit Magazin, Nr. 21/2012) Als sein Großvater Kurt, der deutsche Zionist, 1978 im Alter von 83 Jahren in Tel Aviv verstarb, war Arnon 15 Jahre alt. Bei der Beerdigung wurde fast nur deutsch gesprochen. Der 1894 in Stolp geborene Kurt Tuchler war bereits als junger Mann überzeugter Zionist – und zugleich deutscher Patriot. Er war in der Jüdischen Jugendbewegung engagiert, gehörte zu den Mitbegründern von Blau Weiß. Mit Walter Benjamin war Tuchler befreundet, seit sie sich bei einer Sommerfrische im Küstenort Stolpmünde kennengelernt hatten. Sie fuhren gemeinsam nach Paris und pflegten einen regen, leidenschaftlichen Briefwechsel. Tuchler vertrat hierin wohl die zionistische Utopie, Walter Benjamin den utopischen, antinationalen Marxismus. Nach dem Studium (Jura und Volkswirtschaft) arbeitete der im Ersten Weltkrieg mit zwei Eisernen Kreuzen (erster und zweiter Klasse) ausgezeichnete Tuchler als Amtsrichter in Berlin. Kurt Tuchler saß im Vorstand der Zionistischen Vereinigung für Deutschland (ZVfD) und nahm als Delegierter an Zionistenkongressen teil. Unmittelbar nach seiner Rückkehr von seiner Palästinareise mit von Mildenstein erhielt der deutsche Jude und Richter Tuchler die amtliche Mitteilung seiner Enthebung aus dem Staatsdienst. Die Tuchlers erkannten die Notwendigkeit zur Flucht rasch: 1936 reisten sie nach Palästina aus – wo 1963 auch ihr Enkel Arnon Goldberg geboren wurde…
Bei seinen Filmarbeiten durchbrach Goldberg die familiär erworbenen ≫jeckischen Anstaltsregeln≪: Er öffnete alle Briefe seiner verstorbenen Großmutter, findet zahlreiche Fotos. Darunter befindet sich auch ein Foto ≫(…) auf dem Großvater aufrecht und stolz dasteht, eine Schärpe, bestickt mit dem Davidstern, um die Brust, in der Hand einen Säbel der zionistischen Verbindung, in der er aktiv war.≪ (Goldfinger) Beim Aufarbeiten des familiären Erbes findet Arnon Goldfinger weitere Überraschungen, so einen Brief aus der berühmten Wiener Berggasse 19, von Sigmund Freuds Sohn Ernst: ≫Ich forsche weiter und finde einen Brief mit einer Adresse, die mir bekannt vorkommt: >Berggasse 19, Wien<. Als ich sie entziffere, kann ich meine Aufregung kaum verbergen – das Haus von Sigmund Freud. Der Name des Absenders ist Ernst, Freuds jüngster Sohn, Vater des Malers Lucian Freud. Im September 1914 stellten Ernst und mein Großvater, zwei jüdische Studenten an der Münchner Universität, Überlegungen an, ob sie sich als Freiwillige zur kaiserlichen Armee melden und am Krieg teilnehmen sollten. Ernst berichtet, sein Vater sei dagegen, aber sein ältester Bruder habe beschlossen, zur Artillerie zu gehen. Einen Monat später schreibt Ernst, er werde sich die Haare abrasieren und an die Front gehen. Auch mein Großvater meldet sich als Freiwilliger bei der Artillerie und wird an die Ostfront geschickt.≪ (Goldfinger 2012a) Der Angriff : ≫Ein Nazi fährt nach Palästina≪
Dann macht Arnon einen weiteren Fund, der ihn erst einmal zusammenzucken lässt. Es kostet ihn Überwindung, ihn sich näher anzuschauen: Zwölf zerbröselnde Exemplare der Goebbelschen Nazizeitung Angriff, überfüllt mit Symbolen der Nazis. Darunter findet er auch Exemplare der mit fetten Lettern hervorgehobenen Artikelserie ≫Ein Nazi fährt nach Palästina≪, verfasst von einem LIM – die Initialien des SS-Mannes Leopold Edler von Mildenstein. Vor der Ausreise der Tuchlers nach Palästina, vermutlich auch zu deren Vorbereitung, kam es 1933 zu ihrer mythenumwobenen Reise mit dem 1902 in Prag geborenen SS-Mann und früheren Korrespondenten der Berliner Börsenzeitung Leopold von Mildenstein nach Palästina. Mildenstein war im multinationalen Österreich-Ungarn aufgewachsen, woraus wohl eine Aufgeschlossenheit für die Rechte und nationalen Selbstbestimmungen von Minderheiten erwachsen war. Der Nationalsozialist Mildenstein hatte regelmäßig an Zionistenkongressen teilgenommen, wo er wohl Tuchler kennenlernte (Meier 2002). Irgend etwas muss die beiden verbunden haben, nicht nur von ihren jeweiligen politischen Interessen her sondern vor allem auch seelisch. Ihre Freundschaft blieb auch nach dem Ende der Nazizeit für Jahrzehnte bestehen. Tuchler schlug Mildenstein eine gemeinsame, längere Reise nach Palästina vor, wohl in der Hoffnung, in ihm einen Mitstreiter für die zionistische Sache zu finden. Wohlgemerkt, Anfang des 20. Jahrhunderts war der Zionismus – also die Utopie der Übersiedlung einer großen Zahl insbesondere junger Juden in das ferne, ökonomisch unterentwickelte und klimatisch schwer erträgliche Palästina – insbesondere für bürgerliche, assimilierte deutsche Juden ein Unding. Bestrebungen ihrer Kinder, in das ferne, unterentwickelte Land überzusiedeln und dort mittels handwerklicher und bäuerlicher Tätigkeit das fantasierte Land ihrer Erzählungen, ihrer Gebete, Eretz Israel, aufzubauen, empfanden viele als Bedrohung.
Uri Avnery, der querköpfige, extrem linke israelische Publizist (und äußerst beliebte Kronzeuge ausgewiesener deutscher Antisemiten, die es vorziehen, sich als ≫Antizionisten≪ zu bezeichnen), hat dies bezogen auf seine eigene Familiengeschichte eindrücklich beschrieben. Mit der ≫Machtergreifung≪ am 30.1.1933 erhielt die zionistische Bewegung in Deutschland einen überraschenden Aufschwung. Die ZVfD wurde zu einer der einflussreichsten jüdischen Strömungen. Die deutliche Bedrohung durch den Nationalsozialismus und die lange vor 1933 täglich erlebte rassistische Diskriminierung ließen die zionistische Idee, die Übersiedlung nach Palästina, in das Heilige Land, als realistische Perspektive erscheinen. Unmittelbar nach der ≫Machtergreifung≪ bemühte sich der ZVfD deshalb intensiv um eine ≫Verständigung mit dem neuen Regime über die zionistische ≫Lösung der Juden Frage≪ (Meier 2002, S. 76). Allerdings gab es innerhalb des ZVfD hierzu sehr unterschiedliche Positionen, die von der strikten Ablehnung solcher Gespräche, bis hin zum Versuch einer Anerkennung der deutschen Juden nach internationalem Recht durch die Nationalsozialisten reichten (vgl. Meier ebd.). Die ungleichen ≫Freunde≪ Tuchler und Mildenstein fuhren also im Frühjahr 1933, begleitet von ihren Ehefrauen, mit dem Zug von Prag nach Triest, wo sie das Schiff Martha Washington nach Haifa bestiegen. Mildenstein, der in der NSDAP bereits als ≫Nahostexperte≪ galt, wollte sich ein eigenes Bild vom zionistischen Leben in Palästina machen. Die Fotos, die hierbei entstanden, machen den Eindruck einer Vergnügungsfahrt. Der Berliner Zionist Tuchler wollte dem ≫Nationalsozialisten von Mildenstein den Aufbau der ≫nationalen Heimstätte≪ des jüdischen Volkes in Palästina zu zeigen. Er wollte ihn überzeugen, ≫(…) [dass die] Lösung der Judenfrage≪ in der Auswanderung der deutschen Juden nach Palästina liegt≪ (Meier 2014) Er wollte die ≫Edelnazis≪ – im Gegensatz zum ≫Pöbelantisemitismus≪, wie er sich in Zeitschriften wie Der Stürmer oder der SA zeigte – von einer ≫rationalen≪ Lösung≪ der ≫Judenfrage≪ überzeugen: Die Juden sollten in möglichst großer Zahl Deutschland ≫freiwillig≪ verlassen und nach Palästina emigrieren.(4)
Ein Jahr später, in der Zeit vom 26.9.–9.10.1934, publizierte Mildenstein über diese Reise eine zwölfteilige Artikelserie in Goebbels Propagandazeitschrift Der Angriff ; diese trug den irritierenden Titel ≫Ein Nazi fährt nach Palästina≪. Gekennzeichnet waren diese Beiträge mit dem Kürzel LIM. Dass sie für Leopold von Mildenstein standen, also für die Anfangsbuchstaben seines Nachnamens, gemäß hebräischer Schreibweise von rechts nach links, dürfte nur eine winzige Minderheit der Leser dieses nationalsozialistischen Propagandablattes gewusst haben. Zwölf Exemplare dieser nationalsozialistischen Zeitung sollte Gerda Tuchler, die Mitreisende, bis zu ihrem Tode in ihrem Schrank aufbewahren. Das Entdecken dieser 80 Jahre alten Zeitungsausgaben in der Wohnung seiner soeben verstorbenen Großmutter in Tel Aviv war der Impuls für Arnon Grünbergs eindrücklichen Kinofilm. Mit Erscheinen der Reportage verbreitete Der Angriff zu Werbezwecken eigens eine Medaille: Auf der einen Seite prangte ein Hakenkreuz und auf der anderen – ein Davidstern. Im ≫offiziellen≪ Magazin der NSDAP, dem Hetzblatt Völkischer Beobachter, wurde parallel hierzu die Artikelserie beworben. Die Jüdische Rundschau hebt in einem Kommentar vom 28.9.34, zwei Tage nach Erscheinen des ersten Beitrages, die ≫ungewöhnliche Eindringlichkeit≪ der Vorankündigung dieser Serie hervor: ≫Die Voranzeigen lassen erkennen, dass diese Publikation als etwas Ungewöhnliches gewertet wird, sozusagen als ein Ereignis von politischer und journalistischer Pikanterie≪ (Meier 2002, S. 78)
Zu diesem Zeitpunkt existierte bereits, darauf sei hingewiesen, seit einem Jahr das zwischen dem Reichswirtschaftsministerium, der Jewish Agency und der ZVfD abgeschlossene Haavara-Abkommen (25.8.1933), das Kapitaltransfers zwischen Deutschland und Palästina regelte und in Folge dessen zu diesem Zeitpunkt bereits 15.000 eher wohlhabende Juden nach Palästina emigrieren und dabei zumindest einen Teil ihres Besitzes retten konnten, was auch mittellosen deutschen Juden die Übersiedelung nach Palästina ermöglichte. Das Abkommen war naheliegenderweise auch innerhalb jüdischer Institutionen und im Ausland sehr umstritten. Es wurde von vielen als ≫Verrat am jüdischen Volk≪ empfunden (vgl. Meier 2004). Die Nationalsozialisten erlangten hierdurch die Möglichkeit, die Vertreibung der Juden zu steuern. In seinen Artikeln hebt Mildenstein den Fleiß, den Idealismus der nach Palästina emigrierten Zionisten und frühen Siedler hervor. Die wirtschaftliche Stärke Palästinas imponierte dem Nationalsozialisten. Erste Eindrücke von Palästina beschreibt Mildenstein seinen Lesern so: ≫Hier liegen Schiffe aller möglichen Nationen (…) Aber auch zwei deutsche Frachter, sofort erkennbar am lustig flatternden Hakenkreuzwimpel, sind hier zu finden. Deutschland steht an zweiter Stelle unter den Importländern.≪ (Meier 2002, S. 80)
Er beschreibt einen Purimumzug in Tel Aviv, in dem Karnevalswagen die Odyssee des jüdischen Volkes bis zur Wiedervereinigung in Palästina darstellen: Die ≫dennoch≪ mit Optimismus erwartete Zukunft symbolisiert eine grüne Raupe, auf deren Körper große rote Hakenkreuze aufgemalt sind. Sie besuchen auch den 1928 von 33 aus Russland und Polen stammenden Zionisten gegründeten Kibbuz Givat Brenner sowie in Ben Shemen eine Kinderkolonie. Die Araber, denen Mildenstein auf ihrer Reise begegnete, belegte dieser hingegen projektiv mit abwertenden Ressentiments, die man in Deutschland bisher den Juden, insbesondere den Juden aus den Schteteln in Osteuropa, zugewiesen hatte (vgl. Meier 2002, 2014). Die Reise nach Palästina und seine Artikelserie im Angriff festigten Mildensteins Ruf als ≫Nahostexperte≪. Seine Karriere als Nationalsozialist ging erfolgreich weiter. 1935 machte ihn Reinhard Heydrich zum Leiter des Judenreferats im SD-Hauptamt in der Abteilung II/112. Mildenstein holte seinen Nachfolger Adolf Eichmann ins Amt, der Mildensteins einschlägige Kenntnisse in Sachen Juden wenig später im ≫Eichmannreferat≪ nutzte. Als ihm in in Jerusalem der Prozess gemacht wurde, erwähnte Eichmann seinen ehemaligen Vorgesetzten mehrfach: ≫Er war der Einzige im Hauptamt des Sicherheitsdienstes, der umfassende und objektive Antworten auf die Judenfrage geben konnte.≪ (…) ≫Er wusste mehr als seine Vorgesetzten.≪ (…) ≫Ich betrachtete ihn als meinen Meister.≪ (Goldfinger 2012a) Im Kinofilm sehen wir das umfängliche Fotoalbum, in dem die Tuchlers ihre gemeinsame Reise nach Palästina dokumentiert und das sie gleichfalls aufbewahrt haben. Und wir sehen Auszüge aus der Befragung Eichmanns in Jerusalem, in dem sich Eichmann mehrfach auf Mildenstein als Ideengeber, als ≫Vater des Gedankens≪, die Juden aus Deutschland zu verdrängen, bezog. 1938 wechselte Mildenstein als Referent zu Goebbels, dann wurde er Abteilungsleiter der Nahostabteilung.
Im gleichen Jahr erschien seine Artikelserie unter dem Titel Rings um das brennende Land am Jordan als Buch. In Herbert Hagens ≫Judenreferat≪ stießen seine Beobachtungen jedoch auf Misstrauen; Hagen verfasste eine überwiegend sehr negative Beurteilung der Texte. Während seiner Tätigkeit in Goebbels’ Nahostabteilung schwenkte Mildenstein auf pro-arabische Propaganda um. Die zuvor so stark abgewerteten Araber erschienen nun nützlich, um gegen England sowie gegen die Juden in Palästina vorzugehen, was vielen von ihnen nicht unrecht war. Auch als Publizist war Mildenstein weiterhin tätig. Nach dem Krieg war er wohl, so schließt sich der Kreis, Mitglied der FDP und für die Kontakte zu ägyptischen Propagandadienststellen und amerikanischen Geheimdienstkreisen zuständig. Von 1958–1960 gab er die Orient-Informationen heraus… Das Erstaunliche und vielleicht Beunruhigende: Die ≫Freundschaft≪ des einflussreichen Nationalsozialisten mit dem vertriebenen, nur mit Glück überlebenden Juden hielt auch nach Ende der Nazizeit und nach Gründung des Staates Israel an – obwohl auch Gerda Tuchlers Mutter zu den Opfern der Shoah gehörte. Auch nach Kriegsende, nachdem die Shoah öffentlich bekannt geworden war, vor, während und nach dem Eichmann-Prozess, packten die Tuchlers regelmäßig ihre Koffer und verreisten mit festlicher Kleidung jährlich für zwei, drei Monate – nach Deutschland. Bei jeder Rückkehr nach Israel, bei der sie von ihren Kindern und Enkeln feierlich empfangen wurden, brachten die Tuchlers in Israel geächtete deutsche Produkte, Köstlichkeiten mit – für Israelis im jungen jüdischen Staat ein absoluter, geradezu traumatischer Tabubruch. Und 1960 besuchten die Tuchlers die Mussolini-Verehrerin Diel – und diese stellte Kurt Tuchler dem 18-jährigen Peter Finkelgruen vor… Edda Milz, geborene von Mildenstein Arnon Goldfinger stößt bei seinen Recherchen auf einen Briefumschlag aus dem Jahre 1974, der Brief darin fehlt, doch der Name der Absenderin ist klar zu entziffern: Edda von Mildenstein. Der Brief stammte aus Wuppertal. Nach mehreren schlaflosen Nächten nimmt Goldberger allen Mut zusammen, ruft die Telefonnummer der Wuppertaler Anschrift an: Er spricht mit Edda Milz, geborene von Mildenstein. Dann besucht er sie, sein Film Die Wohnung entsteht… Die Wuppertalerin Edda Milz fungiert im Film als die bildungsbürgerliche Verkörperung der kollektiven deutschen ≫Unschuld≪ oder aber des nicht-Wissen-Wollens. Vielleicht aber auch, so scheint es mir, als Verkörperung des stolzen Trotzes, ≫den Juden≪ historisch betrachtet kein Unrecht angetan zu haben. Beim Ansehen von Goldfingers Film Die Wohnung hatte ich bezüglich der Persönlichkeit bzw. der Rolle von Edda Milz recht ambivalente Empfindungen, mit teils äußerst unangenehmen Gefühlanteilen. Milz sagte im Film zwar scheinbar offenherzig über ihren Vater aus, aber vieles entsprach offenkundig ≫nicht ganz≪ der Wahrheit, und man möchte kaum glauben, dass sie ihre eigenen Darstellungen selbst geglaubt hat. Dennoch: Edda Milz stellte sich für den Film zur Verfügung, durchbrach hiermit das Schweigen, was für sie gewiss auch eine Belastung dargestellt hat. In der Endphase der Filmarbeiten erkrankte sie schwer.
Arnon Goldfinger äußert in einem Interview mit dem Tagesspiegel selbst seine Unsicherheit, wie er Edda Milz’ ihm gegenüber an den Tag gelegte Freundlichkeit, ihren Wunsch nach Begegnungen, verstehen soll. Sein Film war nicht nur in Deutschland – dem Land der Enkel und Urenkel der Mörder – eine Sensation, sondern auch in Israel: Selbst vier Monate dem Filmstart versammeln sich an einem Freitagabend in der Tel Aviver Cinematheque 280 mehrheitlich ältere Besucher, viele mit weißen ≫Goldlocken≪, um den Film zu sehen (Tagesspiegel, 21.5.2014). Als Arnon Goldfinger das Journalistenpaar Jehuda Koren und Elat Regev besucht, die in den 1980er Jahren in Israel einen Zeitschriftenbeitrag über die Artikelserie Mildensteins publiziert hatten, ist diesen noch 20 Jahre später das Gespräch in Großmutter Gerdas Wohnung, bei Kaffee, Keksen und Kuchen, noch gut in Erinnerung. Sie erinnern sich an die sehr angespannte Atmosphäre, die während des Gespräches vorherrschte. Mit irritiertem Erstaunen bemerkten sie, wie ≫menschlich, fast freundschaftlich≪ Gerda über die Mildensteins sprach. Nie bezeichnete Gerda Tuchler diese als Nazis. Für sie waren sie wirkliche Freunde. Erst spät hat Gerda begonnen, von der Ermordung ihrer Mutter durch die Deutschen gesprochen. Zwischen den Eheleuten Tuchler blieb der schmerzhafte Verlust wohl ein Tabu. Jens Hagen: Der Nazisohn in der Kölner APO Um weitere erstaunliche Kontinuitäten zu erwähnen, die sich auch im Leben Finkelgruens wiederspiegeln: Mildensteins Nachfolger als Leiter des ≫Judenreferats≪ war der SS-Sturmbannführer Herbert Hagen (1913–1999) – dem Gertrud Seehaus und Finkelgruen 40 Jahre später, 1978, beim Kölner Prozess gegen Lischka, Hagen und Heinrichsohn im Gerichtssaal begegneten. Hagens Sohn wiederum, der Schriftsteller und politisch sehr ≫links≪ orientierte Jens Hagen (1944–2004), engagierte sich ab den 1960er Jahren in Köln im Umfeld der APO als Journalist und Schriftsteller. In der eher überschaubaren linken Kölner Szene traf sich Jens Hagen auch mit Henryk M. Broder und Fred Viebahn. In den 60er Jahren waren sie befreundet, publizierten u.a. in der linken, von 1968 bis 1984 bestehenden Zeitschrift Spontan. Ende der 60er Jahre schrieben sie für Broders Zeitschrift Bubu und Viebahns Spaßzeitung eieapopeia ≫jeder für seinen Teil verantwortlich, aber Rücken zu Rücken gedruckt≪; Hagen hatte dort ≫seine kleine >Jensimaus<-Kolumne<≪.(5)
Als Hagen in der doktrinären DKP aktiv wurde – also endgültig als braver Sohn das Erbe seines Nazi-Vaters unter neuen Vorzeichen antrat – begann die Freundschaft zu bröckeln. Diese Wendung nicht weniger Linker mit NS-Familienbiografie nach der 68er-Zeit hat Peter Schütt,(7) 1968 selbst Mitbegründer der DKP, unter Bezugnahme auf Jens Hagen und Bernhard Vesper, als einen Prozess ≫von der Selbstreinigung zur Selbsterhöhung≪ beschrieben (Die Welt, 2.5.1988).(6) Hagens gemeinsam mit Günter Wallraff verfasstes Buch Was wollt ihr denn, ihr lebt ja noch (1974) fand eine breitere Rezeption.
Erst als Erwachsener will Hagen von der nationalsozialistischen Vergangenheit seines Vaters – als Sturmbannführer der SS und als einer der Hauptverantwortlichen für die Deportation von 70.000 französischen Juden in die deutschen Vernichtungslager – erfahren haben; beim nur 29 Verhandlungstage dauernden Lischka-Prozess (1979/80) war Jens Hagen 35 Jahre alt.
Peter Finkelgruen erinnert sich an die Begegnungen mit Hagen während des Lischka-Prozesses, den er regelmäßig besuchte. Jens Hagen kurvte während der Prozesstage um das Kölner Gerichtsgebäude herum, war jedoch nicht in der Lage, dieses zu betreten. Nach den Prozessen ging er gemeinsam mit Finkelgruen und Broder in eine Kneipe und quetschte sich stets zwischen sie. In den Gesprächen betonte er, dass sein Vater ihn zum Demokraten erzogen habe.
Helmut Diel
Mit Luise Diels wenig älterem Sohn Helmut hatte Finkelgruen ebenfalls ambivalente Gespräche. Helmut studierte ebenfalls und schloss 1960 seine Promotion über die Geschichte der Frankfurter Allgemeinen Zeitung ab. Es war die Zeit, als Adolf Eichmann vom Mossad gefangen genommen und in Jerusalem vor Gericht gestellt wurde – eine Zäsur in Israels Geschichte. Finkelgruen erinnert sich so:
≫Er [Helmut] erkundigte sich bei mir immer wieder mit großem Interesse nach der politischen Situation in Israel. Ich meinerseits versuchte Fragen über Deutschland zu stellen, in der Hoffnung, Tatsachen zu erfahren, die es mir ermöglichen konnten, mich besser zurechtzufinden.
Es war Frühjahr 1960, die Zeit, als Adolf Eichmann gefangen und nach Israel gebracht worden war. Ich hatte einen Fernseher gekauft, damit Großmutter die Berichte über den Prozess sehen konnte. Auch mit Helmut, dem Sohn von Frau Dr. Diel, versuchte ich darüber ins Gespräch zu kommen. Er bemühte sich eifrig, mein wachsendes Misstrauen Deutschland gegenüber zu besänftigen. Dieses Misstrauen beruhte damals weniger auf faktischen Kenntnissen, sondern war diffus. Jedenfalls verhinderte es, dass ich mich sorglos und vertrauensvoll in Deutschland zu Hause fühlte. Ansonsten beschäftigte mich der Alltag. Das Bemühen, beispielsweise, mein englisches Abiturzeugnis anerkannt zu bekommen.≪ (Erlkönigs Reich, S. 52f.)
Ein Epilog
Im Januar 2014 nahm der inzwischen pensionierte Mussolini-Experte Prof. Wolfgang Schieder – der 1935 Geborene hatte von 1991 bis 2000 als Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Kölner Universität gelehrt und war nach seiner Emeritierung nach Göttingen gezogen – brieflich Kontakt mit Finkelgruen auf. Anlass war seine Lektüre von Finkelgruens Erlkönigs Reich, in dem dieser seine Begegnungen mit Diel geschildert hatte.
Er selbst habe 1955/56 in Freiburg studiert. Finkelgruens Beschreibungen seiner Begegnungen mit Diel habe er mit ≫großer Verblüffung≪ zur Kenntnis genommen. Dieser ≫eigenartigen, faschismusfanatischen Frau≪ habe er in seinem letzten Buch Mythos Mussolini ein ≫ganzes Kapitel≪ gewidmet. Grundlage hierfür war ihr Nachlass, den er bei Helmut Diel frei benutzen durfte, da dieser seiner Mutter gegenüber heute ≫äußerst distanziert gegenübersteht.≪ Durch die Aufarbeitung des Archivs habe er ≫ein kritisches Bild dieser Propagandistin des italienischen Faschismus entwerfen≪ können.(7)
In seinem Antwortschreiben dankt Finkelgruen für den Brief und hebt die ≫elektrisierende Wirkung≪ hervor, die insbesondere der Film Die Wohnung von Goldfinger in ihm hervorgerufen habe. Die filmische Erinnerung an den ≫Bankier Tuchler≪ rief in ihm die Erinnerungen an seine Begegnung mit Tuchler in Diels Wohnung wieder wach.
In einer weiteren Mail Schieders an Finkelgruen (10.8.2014) beschreibt Schieder die komplexe Beziehung der Protagonisten; seine Einschätzung entspricht der meinen: Tuchler sei offenkundig ein enger Freund Diels gewesen. Für ihre Entnazifizierung habe er ihr 1947 ≫einen der üblichen Persilscheine geschrieben≪, in der ihr bescheinigt wurde, ≫dass sie und ihr Mann bis 1936 mit jüdischen Familien umgingen.≪ Seit 1927 hatten die beiden Familien in Gatow an der Havel benachbarte Ferienhäuser.
Auch Schieder hebt die Besonderheit dieser familienbiografischen filmischen Dokumentation hervor, auch dass sie nicht irgendwie versöhnlich ende, sondern auch die im Film präsente Wuppertaler Tochter des Leopold von Mildenstein letzten Endes als eine problematische Person erscheinen ließe, die zumindest Schwierigkeiten mit ≫der Wahrheit≪ habe.
Mildensteins Karriereknick im Nazisystem – er wurde 1936 offenkundig auf Betreiben Heydrichs entlassen – nutzte dieser in der Nachkriegszeit dazu, um sich als ein Opfer darzustellen. Er benutzte also die Strategie der Selbstviktimisierung, die im Nachkriegsdeutschland die dominierende Form der ≫Vergangenheitsbewältigung≪ war.
Dieser Art der ≫Vergangenheitsbewältigung≪ begegnete Finkelgruen in den 1980er Jahren im Schicksal der Edelweißpiraten wieder: Sie, die wenigen Widerständigen, die Unangepassten, galten auch 40 Jahre nach Kriegsende in Köln als die ≫Schuldigen≪, die Übeltäter, die Kriminellen. Sie galt es zu bekämpfen, im Interesse der Fortschreibung der weiterhin nationalsozialistisch geprägten Geschichtsverklärung. Nichts hatte sich geändert. Eben deshalb verfasste Finkelgruen 1981 seine 2020 als Buch erschienene Edelweißpiraten-Studie ≫Soweit er Jude war…≪
[„Mich erfüllte ein Gefühl von Stolz. Ich hatte es geschafft“ – Peter Finkelgruen wird 80]
Literatur
Diel, L. (1938): Mussolini. Duce des Faschismus, Leipzig: Paul List Verlag
Finkelgruen, P. (1997): Erlkönigs Reich. Hamburg: Rowohlt
Finkelgruen, P. (2012): Israel – freiwillige Geisel?. In: Kaufhold, R. & B. Nitzschke (Hg.) (2012): Jüdische Identitäten nach dem Holocaust in Deutschland. Themenschwerpunktheft der Zeitschrift Psychoanalyse – Texte zur Sozialforschung, Heft 1/2012.
Finkelgruen, P. (2020): „Soweit er Jude war…“ Moritat von der Bewältigung des Widerstandes. Die Edelweißpiraten als Vierte Front in Köln“. Herausgeber: Roland Kaufhold, Andrea Livnat und Nadine Engelhart. Books on Demand, Norderstedt 2020. https://www.bod.de/buchshop/soweit-er-jude-war-peter-finkelgruen-9783751907415
Goldfinger, A. (2012a): Film „Die Wohnung“: Ihr Freund, der Feind, Die Zeit. Internet: http://www.zeit.de/2012/21/Deutsch-Juedisches-Familiengeheimnis
Goldfinger, A. (2012b): The Flat, documentarian Arnon Goldfinger, DP/30: The Oral History of Hollywood: https://www.youtube.com/watch?v=1vZLL9JbTrs&t=804s
Greif, G., C. McPershin & L. Weinbaum (Hg., 2000): Die Jeckes: Deutsche Juden aus Israel erzählen. Köln: Böhlau Verlag.
Jelinek, Y. A. (2004): Deutschland und Israel 1945-1965: ein neurotisches Verhältnis. In: Studien zur Zeitgeschichte, Band 66, Oldenbourg Verlag.
Kaufhold, R. (2003): Uri Avnery: Ein Porträt. In: Uri Avnery (2003): Ein Leben für den Frieden. Heidelberg (Palmyra), S. 258 – 287; sowie in psychosozial Nr. 93, H. 3/2003, S. 107 – 122.
Kaufhold, R. (2012): Der Psychoanalytiker Sammy Speier (2.5.1944 – 19.6.2003): ein Leben mit dem Verlust. Oder: „Kehrt erst einmal vor der eigenen Tür!“. In: Kaufhold, R. & B. Nitzschke (Hg.) (2012): Jüdische Identitäten nach dem Holocaust in Deutschland, in: Psychoanalyse – Texte zur Sozialforschung H. 1/2012, S. 96-112; Internet haGalil 2016: http://www.hagalil.com/2016/05/sammy-speier/
Kaufhold, R. (2013a): Im KZ-Drillich vor Gericht: Ein Sammelband beschreibt, wie Serge und Beate Klarsfeld Schoa-Täter aufspürten und der Gerechtigkeit zuführten, Jüdische Allgemeine, 6.7.2013.
Kaufhold, R. (2013b): „Ich erinnere mich an diesen Deutschen ganz genau“ – Erinnerungen an den Lischka-Prozess, haGalil, 29.5.2013: http://buecher.hagalil.com/2013/05/lischka-prozess/
Kaufhold, R. (2019): Die Unangepassten Vor 40 Jahren verfasste Peter Finkelgruen ein Buch über die Kölner Edelweißpiraten. Nun wird es im Internet erstmals veröffentlicht, Jüdische Allgemeine, 6.10.2019: https://www.juedische-allgemeine.de/kultur/die-unangepassten/
Kaufhold, R. (2020): Die „Kölner Kontroverse“? Bücher über Edelweißpiraten (1980 – 2019), in: Finkelgruen (2020), S. 217-342.
Klein, A. (Hg., 2013) unter Mitarbeit von Judith Weißhaar: Der Lischka-Prozess. Eine jüdisch-französisch-deutsche Erinnerungsgeschichte, Berlin: Metropol Verlag.
Meier, A, (2002): „Ein Nazi fährt nach Palästina“ Der Bericht eines SS-Offiziers als Beitrag zur „Lösung der Judenfrage“, Jahrbuch für Antisemitismusforschung 11, Berlin: Metropol Verlag.
Meier, A, (2004): Das Haavara-Abkommen. In: Zukunft braucht Erinnerung. Internet: http://www.zukunft-braucht-erinnerung.de/das-haavara-abkommen/
Meier, A. (2014): Die Artikelserie „Ein Nazi fährt nach Palästina“, Bundeszentrale für politische Bildung, 18.11.2014. Internet: https://www.bpb.de/geschichte/zeitgeschichte/die-wohnung/195248/die-artikelserie-ein-nazi-faehrt-nach-palaestina
Schieder, W. (2013): Die Audienzen Louise Diels 1934-1939. In: Schieder, W. (2013): Mythos Mussolini. Deutsche in Audienz beim Duce. München: Oldenburg Verlag, S. 86-105.
Tucholsky, K. (1931): Auf dem Nachttisch, in: Die Weltbühne 27,2 (1931, S. 857f.), in: Gesammelte Schriften (1907-1935), Internet: http://www.textlog.de/tucholsky-louise-diel.html
[1] Golda Meir war von 1969 – 1974 israelische Ministerpräsidentin. Peter Finkelgruen war in den 1970er Jahren der erste deutschsprachige Journalist, dem Golda Meir ein, auf hebräisch geführtes, Interview gewährte.
[2] Nähere Informationen und Fotos finden sich hier: http://www.stadt-koeln.de/politik-und-verwaltung/internationales/60-jahre-erste-mission-des-staates-israel-deutschland
[3] Bisher hatte ich es als gesichert betrachtet, dass Tucholsky Suizid begangen habe. Nun lese ich, dass Tucholskys Biograf Michael Hepp (Hepp 1993: Kurt Tucholsky: Biografische Annäherungen, Rowohlt) bereits 1993, unter Verweis auf einen fehlenden Abschiedsbrief und einen „unklaren Obduktionsbericht“, Zweifel an der Selbstmordthese hat. Auch eine versehentliche Überdosierung oder aber eine Ermordung Tucholskys erscheine als möglich. Vertiefendes hierzu findet sich auch auf diesem Blog: https://kurttucholsky.wordpress.com/wenn-tot-werde-ich-mich-melden/
[4] Vor diesem historischen Kontext wirkt es besonders verstörend bzw. eindrücklich, dass sich die zentrale politische Devise der Israel-Boykott-Bewegung heute in der Losung vereint: Juden raus aus Palästina…
[5] Siehe das Kapitel über den Lischka-Prozess in diesem Buch.
[6] Persönliche Mitteilung von Fred Viebahn, e-mail vom 19.4.2017.
[7] Der 1939 geborene Peter Schütt machte noch weitere beachtliche weltanschauliche Wendungen durch: Anfangs hatte er seine Literatur ganz in den Dienst der kommunistischen Ideologie gestellt, was ihm den zweifelhaften Ruf des „Hofdichters der DDR eintrug. 1988 wurde der inzwischen 49-Jährige aus dem DKP-Parteivorstand ausgeschlossen. Nach seiner Heirat mit einer Iranerin konvertierte er 1990 zum schiitischen Islam und absolvierte 1996 eine Pilgerfahrt nach Mekka. Im Alter wanderte er, wie durchaus nicht wenige Vertreter der APO-Generation, ins Lager der äußerten, „wertkonservativen“ Rechten und wurde 2015 Redakteur der sehr rechten Zeitschrift Mut. Man könnte sich an den bekennenden Antisemiten Horst Mahler erinnert fühlen.
[i] Brief Schieders an Finkelgruen vom 9.1.2014; weiterhin mehrere Mails zwischen Finkelgruen un d Schieder: 23.1.2014, 24.1.2014 und 10.8.2014