Neun mutig gelebte Jahrzehnte

Von Gertrud Seehaus

Die Beiträge sind auch als Buchveröffentlichung erhältlich.

Roland Kaufhold: „Mich erfüllte ein Gefühl von Stolz. Ich hatte es geschafft.“ Peter Finkelgruen: Ein halbes Jahrhundert Leben als Jude in Deutschland, BoD 2022, 244 S., Euro 12,99, Bestellen?


Lieber Ralph Giordano,

ich musste alte Tagebücher von mir hervorkramen, um nachzulesen, wann genau ich Dich in dem einzigen Single-Häuschen des Mishkenot Sha’ananim-Komplexes in Jerusalem abgelöst habe. Es war der 1. Oktober 1990, und Du hattest die Monate zuvor dort gelebt, um Material und Eindrücke für Dein Buch über Israel zu sammeln. Am 8. Oktober saß ich auf der breiten Fensterbank des Häuschens, sah Rauchwolken über dem Tempelberg aufsteigen, hörte Schüsse und Schreie und dann eine schier unendliche Phalanx von Ambulanzen. Es war eine der vielen Auseinandersetzungen, die im Lauf der Jahrzehnte immer wieder zwischen Palästinensern und Israelis stattfinden sollten. Dieses ist als Tempelberg-Massaker in die Geschichte eingegangen und sollte 21 Menschen das Leben kosten. Die Stadt und die Zeitungen waren voller Berichte, und mein und meines Mannes arabischer Freund Maher kam ein paar Tage später zu mir und weinte, weil zwei Freunde von ihm tot waren.

Lieber Ralph, ich weiss, wie sehr Du Israel liebst und wie sehr Dich solche Ereignisse vermutlich auch erschüttert haben. Auch ich liebe Israel, in dem ich sechs besonders glückliche Jahre meines Lebens verbracht habe, und wie Du wünsche ich inständig, dass dieses Land bestehen bleibt. Die Jahre, die mein Mann Peter und ich in den Achtzigern des letzten Jahrhunderts dort verbracht haben, endeten mit der ersten Intifada, und die Hoffnung, die aufgrund einer temporären politischen Aufhellung, die es ja immer wieder gab, Anfang und Mitte der achtziger Jahre geherrscht hatte, war vorbei.

In dem besagten Häuschen war ich bis kurz vor dem Ausbruch des ersten Irakkrieges, als rund um mich herum – auch für die arabische Bevölkerung Jerusalems – bereits Gasmasken verteilt wurden. Ich kannte Gasmasken aus meiner Kindheit. Später, als ich Dein Buch Erinnerungen eines Davongekommenen las, dachte ich an diese Jerusalemer Vorkriegstage, und es wurde mir klar, dass Du im Deutschland der Kriegs- und Nazijahre in Hamburg nichts zu Deinem Schutz hattest, bestimmt keine Gasmaske. Wer wollte damals einen Juden vor Gas schützen?

Lieber Ralph, wir sind uns über die Jahre durchaus oft begegnet, bei Professor Klug, bei uns, beim PEN, bei Lesungen, aber ich glaube, wir hatten nie ein politisches Gespräch, obwohl es immer auch um Politisches ging. Ich erinnere mich an ein Zusammentreffen, das mir symptomatisch erschien, weil es mir viel über die eigene Gesellschaft, die deutsche, sagt. Es war auf einer PEN-Tagung. Du, der immer daran interessiert war, dass die deutsche Gesellschaft sich über sich selbst klar sein sollte, ohne Illusionen, die Du nicht verzeihst, lasest ein anonymes Schreiben von kaum zu überbietender Scheußlichkeit vor. Der Anonymus bedrohte Dein Leben und schilderte, wie und womit er Dir zu Leibe rücken wollte. Es war sehr still in dem großen Raum. Dann ging man zu anderen Redebeiträgen über, ohne auf das einzugehen, was Du vorgelesen hattest. Es war, als hätte jemand, verzeih den Ausdruck, auf den Tisch gekotzt, und man müsse das ganz schnell vergessen machen.

Ja, Du brauchtest Mut für viele Dinge, die Du gesagt hast. Du wolltest die Gesellschaft, deren Teil Du bist, immer kennen, in ihren moralischen und politischen Grenzen, in ihren Wahrnehmungen und Verleugnungen. Damit hast Du viel für jeden von uns getan. Dasjenige Deiner Bücher, das mich am meisten erschüttert hat, waren die Erinnerungen eines Davongekommenen. Ich weiss noch, wie ich die Zähne zusammenbeißen musste bei der Schilderung des Rattenloches, in dem Ihr unmittelbar vor Kriegsende auf Befreiung oder Tod warten musstet.

Danke, lieber Ralph, für die Tatsache, dass Du unverdrossen daran mitgearbeitet hast, dieses kranke Deutschland, unsere moralisch so beschädigte Heimat, wieder in bessere Bahnen zu lenken. Das ist wahrlich keine Selbstverständlichkeit. Danke, lieber Ralph, auch für Deinen Einsatz, wann immer man Dich brauchte für eine Sache, die Unterstützung nötig hatte. Danke für Deine neun so mutig gelebten Jahrzehnte, an denen Du uns hast teilnehmen lassen.

Nicht zuletzt, lieber Ralph, herzlichen Glückwunsch zu Deinem so gelungenen Leben und dem heutigen Geburtstag!

Deine Gertrud Seehaus

Beitrag aus: Peter Finkelgruen (Hg., 2013): Jubeljung, begeisterungsfähig. Zum 90. Geburtstag von Ralph Giordano.

[„Mich erfüllte ein Gefühl von Stolz. Ich hatte es geschafft“ – Peter Finkelgruen wird 80]

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