Der Ochsenfrosch – eine ungehaltene Rede

Die Beiträge sind auch als Buchveröffentlichung erhältlich.

Roland Kaufhold: „Mich erfüllte ein Gefühl von Stolz. Ich hatte es geschafft.“ Peter Finkelgruen: Ein halbes Jahrhundert Leben als Jude in Deutschland, BoD 2022, 244 S., Euro 12,99, Bestellen?


Von Peter Finkelgruen

Der Titel von John Osbornes Stück »Blick zurück im Zorn« ist in den Jahrzehnten seit der Uraufführung 1956 in London Teil auch unseres allgemeinen Sprachgebrauchs geworden. Lieber Ralph, es ist der Inhalt des von Dir 31 Jahre später veröffentlichten Buches, »Die Zweite Schuld oder von der Last ein Deutscher zu sein«, der bei mir den Reflex des zornigen Rückblicks auslöst. Der Zorn darüber, was die Täter, die es sich nach dem Morden haben gut gehen lassen, den Opfern noch Jahrzehnte nach dem Dritten Reich zugemutet haben. Das war für mich das Kernthema – und ist es bis heute geblieben. Was Du darüber geschrieben hast, war der rote Faden, der sich durch die Jahre meiner Existenz in diesem Land hindurchzog.

Ein Kapitel betraf den Mord an meinem Großvater Martin Finkelgrün in der Kleinen Festung Theresienstadt und die Tatsache, dass dieser Mord von der Justiz in Nordrhein Westfalen nicht verfolgt wurde. Es war ein elf Jahre währendes Kapitel, das im Februar 1989 begann, als ich in Prag den Namen des Mörders erfuhr und erst im Mai 2001 endete, als der frühere SS-Mann Anton Malloth in München als Mörder verurteilt wurde.

In diesem Jahrzehnt des Kampfes, lieber Ralph, bist du ein Stück des Weges mit mir gegangen. Daran möchte ich jetzt aus Anlass deines 90. Geburtstages erinnern. Du warst nie ein Mann, der einem Streit aus dem Weg ging, wenn er ihn für begründet und notwendig hielt. So hast Du, nachdem mein erstes Buch »Haus Deutschland oder die Geschichte eines ungesühnten Mordes« 1992 erschienen war, eine Rezension in der Frankfurter Rundschau veröffentlicht.

Du hast dabei den Skandal, der so sehr Beleg für die von Dir beschriebene »Zweite Schuld« war, beim Namen genannt und den Oberstaatsanwalt Klaus Schacht von der Zentralstelle für die Bearbeitung nationalsozialistischer Massenverbrechen bei der Staatsanwaltschaft Dortmund als »emotionslosen Ochsenfrosch« tituliert.

Es kam nicht, wie wir naiverweise gehofft hatten, dazu, dass die Staatsanwaltschaft den SS-Mann wegen Mordes anklagte, sondern der sich beleidigt fühlende Oberstaatsanwalt verlangte wegen der in meinem Buch getroffenen Feststellungen Schmerzensgeld und Dich, Ralph, zeigte er bei der Staatsanwaltschaft Frankfurt wegen Beleidigung an.

In meinem Regal stehen heute zwei prall gefüllte Aktenordner mit der Aufschrift »Ochsenfrosch«, Zeitungsartikel aus beinahe allen deutsche Printmedien, Berichte von Rundfunk- und Fernsehsendungen, Unterschriftlisten mit den Namen von mehr als 1000 Menschen, die sich mit Dir solidarisierten, Appelle schreibender Kollegen, Anfragen von NRW-Landtagsabgeordneten und Solidaritätsanzeigen in diversen Zeitungen. Alles Belege für ein anderes Deutschland, das es damals auch gab, das es auch weiterhin gibt und von dem Du immer betont hast, dass es Dich ermutigt hat in deinem Kampf, der nicht erst mit Deinen Berichten vom Auschwitz-Prozess im Jahre 1958 begann.

Ich werde den 15. April 1994 nicht vergessen, den Tag, an dem Du von der Staatsanwaltschaft in Frankfurt/Main um 9:00 Uhr morgens im Raum 13, I. Stock, Gerichtsgebäude E, des Amtsgerichts Frankfurt /Main erscheinen musstest – angeklagt wegen Beleidigung. Der Gerichtssaal war überfüllt. Presse und anderes Publikum drängelten sich in den Saal. Ich durfte nicht hinein, war ich doch als Zeuge in der Strafsache Ralph Giordano mit dem Aktenzeichen 50 Js 8089.8/93-918 Ls geladen. Ich habe den Gerichtssaal nie von innen zu sehen bekommen. Nach einer knappen Viertelstunde gingen die Türen auf, und das Publikum strömte heraus. Lachend und kopfschüttelnd schoben sie sich an mir vorbei. Wenige Minuten später erfuhr ich, was geschehen war. Der Anwalt, der die Nebenklage, also den Oberstaatsanwalt Schacht, vertrat, verlas zu Beginn der Verhandlung eine gewundene Erklärung, in der er bekannt gab, dass er den Strafantrag gegen Herrn Giordano zurückzöge. Natürlich wurde sofort darüber spekuliert, was zur Einsicht des klagenden Oberstaatsanwalts geführt haben mochte. Ich jedenfalls stand da, eine schriftlich vorbereitete Erklärung in der Hand, die ich als Zeuge im Prozess gegen dich abzugeben gedachte. Ich habe sie damals nicht abgeben können. Die wesentlichen Teile dieser Aussage, lieber Ralph, will ich Dir nun nicht mehr vorenthalten: Es fällt mir schwer, als Zeuge in diesem Prozess auszusagen.

Ich bin Zeuge der Verteidigung des Angeklagten Ralph Giordano. Ralph Giordano hat eine Besprechung meines Buches »Haus Deutschland oder Die Geschichte eines ungesühnten Mordes« in der Frankfurter Rundschau vom 9. Februar 1993 veröffentlicht. Wegen dieser Besprechung hat ihn die Frankfurter Staatsanwaltschaft angeklagt. Hier liegt der erste Grund für die Schwierigkeit, die ich mit meiner Aussage in diesem Prozess habe. Ralph Giordano hat nichts anderes getan als mein Buch zu besprechen. Die Vorstellung, Ralph Giordano bräuchte eine Verteidigung empfinde ich als absurd … Ralph Giordano hat sich, nichts anderes getan, als mein Buch zu besprechen. Ralph Giordano hat sich, nicht anders als andere Rezensenten und wie ich selbst beim Schreiben meines Buches empört … Seine Empörung reihte sich ein in die Empörungen von Zuhörern bei zahlreichen öffentlichen Lesungen, die ich in den letzten anderthalb Jahren halten durfte. Andere Rezensenten des Buches waren in ihren Urteilen teilweise noch härter. Ralph Giordanos Empörung hat jedoch eine eigene, eine besondere Qualität.

Hier empörte sich einer, der den Häschern der Gestapo und der SS mit Glück entronnen war, darüber, daß ein anderer glücklicherweise Überlebender die Erfahrung macht, daß auf eine juristisch – bürokratische Art und Weise die gerichtliche Verhandlung über die brutale Ermordung seines Großvaters verhindert wird.

Die Staatsanwaltschaft Frankfurt klagt von allen Rezensenten just diesen einen Überlebenden eines strafrechtlichen Vergehens an. Keinen anderen. Keinen von all den anderen, die sich über diesen Skandal ausgelassen haben und deren Meinung dem Leitenden Oberstaatsanwalt Klaus Schacht beinahe täglich hätte in den Ohren klingeln müssen. Keinen von jenen, deren Meinung die Handlungsweise des Leitenden Oberstaatsanwalts Klaus Schacht in einen historischen, einen politischen und einen gesellschaftlichen Zusammenhang gestellt haben. Einen Zusammenhang, der ihm und ähnlichen Juristen, seien sie Richter, Staatsanwälte oder Rechtsanwälte, klar machen müsste, was sie dieser deutschen Gesellschaft antun.

Dass stattdessen Ralph Giordano von Staats wegen angeklagt wird, ist für mich eine Beleidigung. Eine besonders verletzende Beleidigung – ist doch der Hintergrund dafür die Ermordung meines Großvaters Martin Finkelgrün in der Kleinen Festung Theresienstadt durch den auf Kosten der Stadt München in einem Altersheim bei München lebendem ehemaligen SS-Mann, den Staatenlosen Anton Malloth.

Es mussten erst Dutzende andere Rezensenten, Hunderte von Zuhörern und Tausende von Lesern zu in Form und Inhalt gleicher Meinung und entsprechendem Urteil kommen, ehe der Leitende Oberstaatsanwalt Klaus Schacht sich zu einer Strafanzeige aufraffte, ehe dann die Frankfurter Staatsanwaltschaft beschloss, von Amts wegen, also für den Staat Bundesrepublik Deutschland, Anklage gegen Ralph Giordano zu erheben. Für mich ist diese Anklage, nicht nur eine Beleidigung. Sie ist auch eine Bedrohung. Bedroht sie doch Ralph Giordano, mich selbst und alle anderen Überlebenden der nationalsozialistischen Verfolgung mit strafrechtlichen Sanktionen, wenn wir es wagen, unsere Gefühle, unsere Meinung kundzutun. Unsere Gefühle der Trauer um die Ermordeten. Unsere Gefühle der Wut darüber, wie sehr die Mörder über Jahrzehnte geschont wurden, während ganze Behörden mit Stellenplänen und Haushaltsmitteln etabliert wurden, um sie vor Gericht zu bringen – was sie dann viel zu selten auch taten und viel zu oft zu verhindern suchten.

Dass diese Wut, die Empörung ungewünscht ist, ja von strafrechtlicher Verfolgung bedroht werden soll, kann wohl an niemand besser exemplifiziert werden als an Ralph Giordano, dem Autor des Buches »Die Zweite Schuld«. Und von da an, an jedem, der es wagen sollte seinem Unmut, seiner Trauer und seiner Wut Ausdruck zu verleihen …

In den letzten Wochen finde ich mich durch den Leitenden Oberstaatsanwalt Klaus Schacht, Leiter der Zentralstelle im Lande Nordrhein-Westfalen für die Bearbeitung von nationalsozialistischen Massenverbrechen bei der Staatsanwaltschaft Dortmund, bedroht und unter Druck gesetzt.

Nachdem der Termin für diese Gerichtsverhandlung gegen Ralph Giordano feststand und ebenso, daß ich als Zeuge hier aussagen sollte, erhielt ich von den Anwälten des Leitenden Oberstatsanwalts Klaus Schacht, den Anwälten Krekeler, Manthey und Partner in Dortmund, die Forderung, 5000,– DM Schmerzensgeld für den leitenden Oberstaatsanwalt Klaus Schacht zu zahlen. Ich hätte, so die Rechtsanwälte, das Persönlichkeitsrecht des Herrn Oberstaatsanwalt verletzt. Ich möchte hier zu Protokoll geben, dass meine Großmutter Anna Bartl, die Frau, die meinen ermordeten Großvater Martin Finkelgrün in Prag versteckt hatte und dafür eine 3-jährige Reise durch Theresienstadt, Ravensbrück, Majdanek und Auschwitz antreten durfte, genau den Betrag von 5000,– DM als Haftentschädigung erhalten hatte. Aus diesem Geld hat sie die Reise von Israel nach Deutschland für uns beide bezahlt. Und nun habe ich gelernt, wie viel das verletzte Persönlichkeitsrecht des Leiters einer Zentralstelle zur Verfolgung von NS Verbrechen wert ist. Vorausgesetzt, sein Persönlichkeitsrecht ist verletzt … Dass der Oberstaatsanwalt, der nun wegen Beleidigung eine Bestrafung von Ralph Giordano fordert, in einem Brief an meine Rechtsanwälte höhnisch die Frage stellte: » … bitte ich auch um Aufklärung, wie nach Ihrer Ansicht weiter verfahren werden (soll) … « bewies mir die Sensibilität, das Feingefühl und die Empfindsamkeit des Leiters der Zentralstelle für die Verfolgung nationalsozialistischer Massenverbrechen bei der Staatsanwaltschaft Dortmund. Dieser Oberstaatsanwalt fühlt sich ganz schnell in seinem Persönlichkeitsrecht verletzt, und um derartige Verletzungen abzuwehren, setzt er das ihm verliehene Amt so ein, daß man nicht mehr weiß, ob es Herr Klaus Schacht oder der leitende Oberstaatsanwalt, Leiter der Zentralstelle für die Verfolgung nationalsozialistischer Massenverbrechen bei der Staatsanwaltschaft Dortmund ist, der da spricht.

So hat er, nach Erscheinen der Anzeige von dreißig AutorInnen in der Frankfurter Rundschau vom 9. Januar 1993 den in Dortmund lebenden Schriftsteller Max von der Grün, der die Anzeige mit unterschrieben hat, angerufen und ihn zu einem Gespräch in die Staatsanwaltschaft gebeten. Als Max von der Grün diese »Einladung« ablehnte, weil er, wie er sich Herrn Klaus Schacht gegenüber ausdrückte »private Gespräche nicht in Diensträumen« zu führen pflege, klagte Klaus Schacht in einem Interview mit der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung, Herr Max von der Grün habe eine »Verabredung ohne Absage platzen lassen«. Das war die Reaktion des Mannes, der in einem Brief behauptet, in meinem Buch sei die Beweislage »bewußt entstellt und unvollständig dargestellt «, und der nun die Bestrafung von Ralph Giordano fordert, … Soweit, lieber Ralph Giordano, Auszüge der nicht vorgetragenen Aussage von mir im Prozeß der Frankfurter Staatsanwaltschaft vom 15. April 1994 gegen Dich.

Wenige Tage zuvor wurde eine gemeinsame Erklärung des Tschechischen Zentrums des Internationalen P.E.N., des PEN Zentrums deutschsprachiger Autoren im Ausland, dessen Ehrenmitglied Du bist und des P.E.N. Zentrums Bundesrepublik Deutschland veröffentlicht. In dieser Erklärung wurde der Prozess gegen Dich in den zeitlichen Kontext gestellt, in dem er stattfand.: »Wenn jetzt Verfolgte des Nationalsozialismus vor Gerichte gestellt werden, während die Verfolger mit staatlicher Schonung und Förderung rechnen können, so reiht sich dies ein in die bedrohliche Entwicklung, die mit den Namen Bitburg, Hoyerswerda, Rostock, Solingen und Lübeck verbunden ist. Es ist eine Zeit, in welcher der Vorsitzende des Zentralrates der Juden in Deutschland straflos beleidigt werden kann und die Verhöhnung von in Konzentrationslagern
Ermordeter durch Urteil des Bundesgerichtshofes sanktioniert wird.«

Die Zweite Schuld, lieber Ralph Giordano, wirkte damals noch immer nach. Es erhoben sich aber warnende und mahnende Stimmen. Stimmen, die protestierten. In einem wie zwanghaft wiederkehrendem Schema ist dem auch heute so. Dein Engagement und deine Kampfbereitschaft soll in Zukunft eine Ermutigung für uns sein.

Beitrag aus: Peter Finkelgruen (Hg., 2013): Jubeljung, begeisterungsfähig. Zum 90. Geburtstag von Ralph Giordano.

[„Mich erfüllte ein Gefühl von Stolz. Ich hatte es geschafft“ – Peter Finkelgruen wird 80]