Radikaldemokraten und Liberale unter einem Dach

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Vor 40 Jahren wurde in Köln das Liberale Zentrum (LZ) gegründet…

Von Roland Kaufhold

Heute erscheint es als kaum noch vorstellbar: Der Liberalismus war in den 1970er Jahren eine Speerspitze des gesellschaftlichen Veränderungswillens. Viele junge Linksliberale und Radikaldemokraten waren nach der 1968er-Zeit bewusst in die eher kleine FDP eingetreten, um rechtsstaatliche Prinzipien und gesellschaftliche Partizipationswünsche, ganz in der radikaldemokratisch-linksliberalen Tradition der Weimarer Deutschen demokratischen Partei (DDP), einzufordern.

1971 hatte der damalige FDP-Generalsekretär Karl-Herrmann Flach eine knapp 100seitige Streitschrift „Noch eine Chance für die Liberalen“ vorgelegt. Zeitgleich verabschiedeten die FDP die legendären Freiburger Thesen. An all dies erinnerten sich 85 überzeugte Linksliberale anlässlich des 40. Geburtstages des – ihres – Liberalen Zentrums in Köln. Es sind große Namen des Linksliberalismus wie Gerhart Baum, Hildegard Hamm-Brücher, Ulrich Klug, Helga Schuchard, Ingrid Matthäus-Maier oder Burkhard Hirsch, die mit dem Liberalen Zentrum Köln verbunden sind.

1950er Jahre: Interessenvertreter der Altnazis

Dies alles war bemerkenswert, war doch die FDP die Partei, die bis weit in die 1970er Jahre hinein als ein Interessenvertreter der ehemaligen Nationalsozialisten galt. Der rechtsradikale „Naumann-Kreis“ (u.a. Zogelmann, Six, Ott, Best, Achenbach) versuchte bereits Anfang der 1950er, die NRW-FDP zu unterwandern. Hierbei war er durchaus erfolgreich. Der 1909 geborene NRW-MdB Ernst Achenbach, in der Nazizeit aktiv an der Judenverfolgung beteiligt, setzte sich als „Deutschnationaler“ über Jahrzehnte hinweg konsequent für einen strafrechtlichen Schutz ehemaliger Nazitäter ein. Dies entsprach auch seinem wohlverstandenen Eigeninteresse. 

Ingrid Matthäus-Maier, Foto: Solveig Braecker

Hiergegen begehrten viele junge Linksliberale und Radikaldemokraten auf, traten bewusst in die FDP ein. Die jungen, kämpferischen FDP-MdBs Helga Schuchardt und Ingrid Matthäus-Maier waren deren prominenteste Symbolfiguren.

In Köln, wo die Auseinandersetzungen zwischen dem rechten und dem linken Flügel der FDP besonders ausgeprägt waren, entstand 1978 das Liberale Zentrum in der Roonstraße, schräg gegenüber der Synagoge gelegen. In diesen wohnlichen Räumen mit der Theke fanden zehn Jahre lang unzählige Diskussionsveranstaltungen statt, die Spuren in der Geschichte Kölns hinterlassen haben. Nun wurde in einer Festveranstaltung an dessen bemerkenswerte Geschichte erinnert.

„Meine Entscheidung für die „Sozialliberalen“ war eine Kopfentscheidung“

Auch der 1942 in Shanghai als jüdisches Flüchtlingskind geborene Journalist Peter Finkelgruen stieß in Köln zur FDP wie auch zum Liberalen Zentrum. Dort arbeitete er mit Gerhart Baum und Ulrich Klug zusammen – um nur die Prominentesten zu nennen –, woraus lebenslange Freundschaften erwuchsen. Im Juni 1970 kandidierte er bei der NRW-Landtagswahl in einem Kölner Wahlkreis für die FDP, auch um die sozialliberale Regierung Brandt/Scheel zu stärken. Die FDP hatte Finkelgruen jedoch bereits 1976 nach der „Traube Affäre“ (Werner Maihofer) wieder verlassen. Seine damaligen Motive beschreibt er heute so: „Meine Entscheidung für die „Sozialliberalen“ war eine Kopfentscheidung. Die Adenauer-CDU und das Fördern der alten NS-Kader empfand ich als unerträglich. Um die CDU durch eine Alternative zu ersetzen, war es nötig die Liberalen zu einem potentiellen Koalitionspartner für die SPD und die sich anbahnende neue Ostpolitik zu entwickeln. Mit zahlreichen Gleichgesinnten wurde dieses Projekt angegangen.“

Seine Motive entsprachen denen Tausender junger Linksliberaler und Radikaldemokraten, die sich ab den späten 1960er Jahren der FDP anschlossen. Sie wussten, welche Auseinandersetzungen auf sie warteten. Spaß machte dies eher nicht. Das parteiunabhängige Liberale Zentrum Kölns hingegen war ein soziokultureller, lebendiger Ort, an dem man sich wohl fühlte. Die nun neu geschaffene Website des LZ mit den umfangreichen Veranstaltungen vermittelt einen Eindruck hiervon.

1978 bis 1988

Die Räumlichkeiten des Liberale Zentrums existierten in der Roonstraße zehn Jahre lang. Von Anfang an bewusst als parteiunabhängiges gemeinnütziges Projekt geplant versammelte es einen großen Kreis politisch und kulturell Interessierter. Solidarität, Menschenrechte, Toleranz, Aufklärung über NS-Prozesse, Meinungsfreiheit, Entspannungspolitik – diese Themen wurden in bis zu fünf Veranstaltungen pro Woche debattiert.

In der Vereinssatzung hieß es demgemäß:

„Wir wollen die Demokratisierung unserer Gesellschaft fördern, Grundrechte und Freiheiten verbürgen, kritisches Bewußtsein und Verantwortungsbewußtsein schaffen, wirtschaftliche und soziale Gerechtigkeit anstreben und Gleichberechtigung und Selbstverwirklichung erreichen.“

Michael Kleff und Gerhart Baum bei der Eröffnung des LZ, Foto: Michael Kleff

„Wir sahen uns in gewisser Weise als eine Fortsetzung des 1967 gegründeten Republikanischen Clubs“, erinnert sich Axel Lange, 1976 Vorsitzender der Kölner Deutschen Jungdemokraten (DJD). In den letzten Jahren haben Axel Lange und Klaus Trapp das LZ wie auch dessen erinnernde Website wieder zum Leben erweckt.

Axel Lange mit Manfred Wagner, Ausstellungseröffnung, Foto: Solveig Braecker

In einer regelmäßigen Veranstaltungsreihe unter dem Titel „Initiativen stellen sich vor“ waren Organisationen wie Amnesty International, die Deutschen Jungdemokraten (DJD), der ADFC, Schwulen- und Lesbenorganisationen und die Kölner Exilgruppe von Solidarność im LZ zu Gast.

Aber auch die Anzahl der kulturellen Veranstaltungen war imposant: In 14 Jahren gab es in Köln rund 260 Veranstaltungen, getragen von 100 zahlenden Mitgliedern. Nahezu die gesamte linksliberale „Prominenz“ trat dort auf, von Rudolf Augstein, dem streitbaren Kölner Juraprofessor und Politiker Ulrich Klug über Gerhart Baum, Hildegard Hamm-Brücher, Burkhard Hirsch, Ingrid Matthäus-Maier und Helga Schuchardt. Treibende Motoren waren u.a. der Musikjournalist Michael Kleff und Wolfgang Grenz; 2011 war der Kölner Jurist Wolfgang Grenz Generalsekretär von amnesty international

Wolfang Grenz, 2011 Generalsekretär von amnesty international, bei der Eröffnung des LZ, Foto: Michael Kleff

Einige wenige politische Veranstaltungen – neben den ca. 200 Kulturveranstaltungen – seien erwähnt. Im Mai 1979 diskutierten Otto Schily und Andreas von Schoeler über „Rechtsstaat in Theorie und Praxis“; wenige Tage später sprachen die Jungdemokraten mit dem WDR- und späteren Tribüne-Redakteur Heiner Lichtenstein über „Verjährung von Nazi-Verbrechen“. Im September 1979 sprach Helmut Frenz von ai über Chile, zwei Monate später diskutierte man über „Gibt es in der Bundesrepublik Flüchtlinge zweier Klassen?“. Im Dezember sprachen die Jungdemokraten und der linksliberale Juraprofessor Ulrich Klug über „Die harte Wirklichkeit des Strafvollzugs“.

Ulrich Klug bei der Eröffnung des LZ, Foto: Michael Kleff

Im April 1981 diskutierten Jürgen Flimm, Alice Schwarzer und Günter Verheugen über „Politik – Monopol der Parteien?“ und im Mai traten zahlreiche Musiker gemeinsam auf, die alle mit dem LZ eng verbunden waren, darunter Karl-Heinz Hense, Die Liberalbern (politisches Kabarett), Heinz-Peter Katlewski und Konrad Beikircher. Im Mai 1981 sprach der in Köln lebende jüdische Soziologe Alphons Silbermann über Antisemitismus; im September referierte Helga Schuchardt über „Die politische Situation in der Türkei“, wenige Tage später wurden künstlerische Objekte u.a. von Sammy Maedge zu „Kennzeichen J“ ausgestellt. Im November 1981 sprach Günter B. Ginzel  über „Neonazismus und Ausländerfeindlichkeit“. Im September 1981 trat der seinerzeit in Köln lebende jüdische Gelehrte und Psychologe Yizhak Ahren zum Thema „Flüchten oder Standhalten? Zur politischen Situation der Juden in der Bundesrepublik“ auf. Mit ihm diskutierten Peter Finkelgruen, der Journalist Rafael Lewenthal und der Rechtsanwalt und Exil-Pen Schriftsteller Wilhelm Unger. Die Liste ließe sich beliebig fortsetzen.

Konrad Beikircher, Foto: Michael Kleff

Vergessene Geschichten…

Rund um das Liberale Zentrum sind unzählige, heute vergessene Geschichten entstanden: Der blindwütige Terror der RAF prägte die gesellschaftliche Atmosphäre der 1970er und 80er Jahre. Es waren linksliberale Kölner Juristen und Politiker wie Ulrich Klug und Gerhart Baum, die sehr früh vor den  Gefahren einer überzogenen Reaktion auf die terroristische Bedrohung hinwiesen. Gerhart Baums Familie – Baum war seit 1972 Kölner Bundestagsabgeordneter und seit 1978 Bundesinnenminister – wurde über Jahre durch die terroristische Bedrohung geprägt. Öffentlich, im LZ, trat Baum immer wieder für einen Dialog mit dem dialogbereiten Teil der Terroristen auf: „Es sind unsere Kinder, der Terror ist Teil unserer deutschen Geschichte“, betonte der streitbare Linksliberale. Für Franz-Josef Strauß verkörperte Baum geradezu „die linke Gefahr“; im eindrucksvollen Film „Wir wollten die Republik verändern – Der Liberale Gerhart Baum“ (2012) ist dies in Erinnerung gerufen worden.

1980 traten Gerhart Baum, Ulrich Klug und das FDP-Mitglied und Spiegel-Chef Rudolf Augstein mit dem seinerzeitigen RAF-Unterstützer Horst Mahler auf. Und 1987 diskutierte Baum in einer Veranstaltung in der Reihe „LZ unterwegs“ mit dem RAF-„Freigänger“ Klaus Jünschke. Letzterer war 1972 als RAF-Terrorist „der ersten Generation“ festgenommen worden. 1988 wurde er begnadigt, er hatte sich glaubwürdig vom Terrorismus „distanziert“. Heute verbindet die beiden eine lockere Freundschaft, Jünschke arbeitet seit Jahrzehnten im Köln-Ossendorfer Gefängnis Ossendorf, wo er früher selbst einsaß. Bei der Diskussion am 16.11.1987 trat auch der „Antizionist“ Gerd Albartus, ehemaliger Häftling wegen Terrortaten der Revolutionären Zellen, auf. Danach verschwand er: Nach seiner Freilassung hatte Albartus für die taz und den WDR gearbeitet. Nach seinem Auftritt im LZ reiste er nach Damaskus zu den Terroristen Carlos und Weinrich. Diese ermordeten ihren ehemaligen „Genossen“. 

Die Gründung der Liberalen Demokraten scheiterte

Nach der 1982er „Wende“ der FDP trat die Mehrzahl der Linksliberalen – insgesamt sollen es 20.000 Parteimitglieder gewesen sein – aus der FDP aus. Die Gründung der „Liberalen Demokraten“ misslang, weil kein Prominenter, kein Bundestagsabgeordneter dabei mitmachte. Viele gingen zur SPD (Matthäus-Maier, Verheugen, Andreas von Schoeler, Christoph Strässer, Wolfgang Albers) und den Grünen (Claudia Roth, Irmingard Schewe-Gerigk, Roland Appel), viele blieben aber auch parteilos (Helga Schuchardt, Heiner Bremer, Volker Perthes, Wolfgang Grenz, Michael Kleff, Peter Finkelgruen). Einige wenige Linksliberale wie Gerhart Baum und Burkhard Hirsch blieben in der FDP, mussten schwere Demütigungen durchleben bis die FDP sie wieder als linksliberale „Aushängeschilder“ duldete. Unvergessen der weitere Lebensweg der Urliberalen Hildegard Hamm-Brücher, die 1982 gegen Kohl stimmte  und dennoch in der FDP blieb. 1994 kandidierte sie für die FDP für das Amt des Bundespräsidenten. 2002 trat sie, nach 54 Jahren Mitgliedschaft, aus Protest gegen Möllemanns antisemitischer Kampagne aus der FDP aus. Sein Antisemitismus lag außerhalb ihrer großen Toleranzschwelle.

Eindrucksvoll blieb für mich die 1939 geborene Helga Schuchardt: Von 1972 bis 1983 hatte sie dem Bundestag angehört, hatte immer wieder starken innerparteiischen Pressionen standgehalten und Minderheitenpositionen vertreten. 1983 trat sie aus und wurde als Parteilose dennoch später in SPD-Regierungen Kultursenatorin in Hamburg und Niedersachsen. Zugleich war sie die erste offen lesbisch lebende Ministerin. Als Volker Beck Ende 2016 von den Grünen als Abgeordneter „gestürzt“ wurde, erinnerte ich mich in meinem zornig-ironischen Beitrag auch wieder an Helga Schuchardt.

Einzelne Jüngere wie der heutige Kölner MdB Matthias W. Birkwald traten später den Linken bei. 1988 schlossen sich die Räume des LZ in der Roonstraße, danach ging es noch sechs Jahre im Bürgerhaus Stollwerk weiter.

2005 wurde die Internetseite mit der imposanten Geschichte des LZ aufgebaut, und seit 2010 finden wieder gelegentliche Veranstaltungen statt. „Wir alle sind Teil einer liberalen Familie, auch wenn wir unterschiedliche Wege gegangen sind“, betonte Gerhart Baum in seiner Grußbotschaft an die 85 erschienen Gäste. Gemeinsam hätten sie das Land seit den 1960er Jahren als „Reformliberale“ verändert, hob Gerhart Baum hervor.

Und Axel Lange betonte in seiner lebendigen Begrüßungsrede zum LZ-Jubiläum: „Wir haben gesellschaftliche Konflikte im Dialog gelöst.“

Hanspeter Knirsch, 1976 Bundesvorsitzender der Jungdemokraten, vermochte in seiner Rede den Geist der damaligen Aufbruchstimmung wieder in Erinnerung zu rufen. Die Linksliberalen und Radikaldemokraten, die 1978 das Liberale Zentrum in Köln aufgebaut hatten, betonten immer wieder, dass Freiheit nicht nur die Freiheit von Abhängigkeiten, von Reglementierungen bedeuten dürfe, sondern auch die Freiheit zur Partizipation, zur Demokratisierung, zur Teilhabe. Diese soziale Dimension des Liberalismus, dieser radikale Veränderungswille wurde jedoch ab den späten 1970er Jahren vom wirtschaftsliberalen, vom sehr konservativen Flügel der FDP ganz gezielt zerstört. In konzertierten Unterwanderungs- und Verdrängungsprozessen setzte der Lambsdorff-Flügel das Ende der sozialliberalen Koalition sehr gezielt durch. Die 1982er „Wende“, der Koalitionsbruch von Lambsdorff und Genscher war ein lange vorbereiteter „Putsch“. Das Herausdrängen der Linksliberalen und Radikaldemokraten war Kalkül. Die Freiburger Thesen sollten endgültig eliminiert werden.

Und Michael Kleff führte in seiner Einführungsrede zum 40. Geburtstags des Liberalen Zentrums aus: „Schon 1980 schrieb Rudolf Breidenbach in der Zeitschrift Neues Rheinland über das Liberale Zentrum: „Wenn im Umfeld politischer Parteien soziale, kulturelle und politische Kommunikation beschworen wird, hat man es meistens mit bloßer verbaler Forderung oder bestenfalls Strohfeuer zu tun. Von Kontinuität ist selten die Rede; zu oft und zu schnell wechseln in den Parteien die ‚Macher‘, die eine Aktion mit langem Atem durchziehen können. In Köln macht eine ‚Initiative‘ von sich reden, der bessere Chancen innewohnen. ,Alternative Kultur‘ hat hier eine Spielwiese, die Aufmerksamkeit verdient.““

Michael Kleff fügte als Handlungsaufforderung hinzu: „Ich glaube, wir brauchen eine solche Spielwiese heute wieder – und zwar mehr denn je!“

Dem kann ich nur zustimmen.

Eine kürzere Version diese Beitrages von Roland Kaufhold ist im Neuen Deutschland, 27.8.2018, unter dem Titel „Adresse der Linksliberalen. In Köln erinnerte eine Festveranstaltung an die Gründung des Liberalen Zentrums vor 40 Jahren“ erschienen.

1 Kommentar

  1. Es ist ein guter und ausführlicher Bericht. Allerdings muss ich anmerken, das Michael Kleff und Wolfgang Grenz Mitglieder der Liberalen Demokraten Kreisverband Köln waren und nicht parteilos. Sie traten erst später aus. Von der Gründung des Kreisverbandes Köln der Liberalen Demokraten bis zu seiner Auflösung war ich Kreisschatzmeister.
    Heute bin ich Vorsitzender der Liberalen Demokraten Рdie Sozialliberalen Рim Bezirk K̦ln.
    Mit freundlichem Gruß
    Günter Pröhl
    Postfach 71 05 11
    50 745 Köln.

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