Im Juni 1967 saß ich als 15-Jähriger vor dem Fernseher, um gebannt den Westnachrichten über den Krieg im Nahen Osten zu folgen – der Krieg, der später der Sechstagekrieg genannt wurde. Nachdem die ägyptische Regierung die Meerenge von Tiran für israelische Schiffe gesperrt hatte, 1000 Panzer und 100.000 Soldaten an der Grenze stationierte, reagierte Israel mit einem Präventivschlag. In sechs Tagen besetzten die israelischen Truppen den Gazastreifen, die Halbinsel Sinai, das Westjordanland, die Golanhöhen und Ostjerusalem…
Von Wolfgang Frindte
Moshe Dajan, der Mann mit der schwarzen Augenklappe, war damals israelischer Verteidigungsminister und in den Nachrichtenmedien ebenso präsent wie der damalige Generalstabchef und spätere israelische Ministerpräsident Yitzhak Rabin. Am dritten Tag des Krieges nahmen die israelischen Truppen den Tempelberg ein und hissten dort die israelische Flagge. Moshe Dayan befahl, die israelische Flagge wieder einzuziehen und die „Heiligste Stätte des Judentums“ mit der al Aqsa Moschee und dem Felsendom der Verwaltung der muslimischen Behörden zu übergeben. Vor allem aber: Die Klagemauer (oder auch die westliche Mauer, im hebräischen: ha-kotel ha-ma’arawi, umgangssprachlich nur: Kotel), also der einzig erhaltene Rest des letzten jüdischen Tempels, war wieder frei zugänglich. Wenige Stunden, nachdem die israelischen Truppen Ostjerusalem besetzt hatten, wurde am Kotel vom Militärrabbiner der Schofar geblasen, die aus dem Horn eines Widders gefertigte Posaune. Von 1949 bis 1967 gehörte die Westmauer des letzten Tempels, also der Kotel, zu Jordanien. Nach über neunzehn Jahren konnten nun Juden wieder an der Klagemauer beten und ihre Feste feiern. Der israelische Historiker Tom Segev nannte den Sechstagekrieg „Israels zweite Geburt“.
All das sah ich in diesen Tagen im Westfernsehen und begeisterte mich am Vormarsch der israelischen Truppen, an General Moshe Dajan, am Sechstagekrieg und an der Befreiung der Klagemauer. Im Staatsbürgerkundeunterricht, in dem wir über die „Aggression des imperialistischen Staates Israel gegen die arabischen Bruderstaaten“ diskutieren sollten, bekam ich für meine Begeisterung einen Tadel. Und am Ende des Schuljahres stand auf dem Zeugnis eine gar nicht rosige Note im Fach Staatsbürgerkunde. Übrigens: Staatsbürgerkunde hieß jenes Unterrichtsfach in der DDR, in dem die Schülerinnen und Schüler ihren „Klassenstandpunkt“ entwickeln und festigen sollten.
Dass ich von meinem Lehrer auch noch zum Friseur geschickt wurde, um meine „Gammlerhaare“ kürzen zu lassen, war ärgerlicher. Meinen Bruder traf es noch härter. Er leistete zu dieser Zeit seinen Wehrdienst bei der Nationalen Volksarmee und sollte „Feindflugzeuge“ aus dem imperialistischen Ausland beobachten. Nach dem Sechstagekrieg unterlag dieser Bereich einer besonders strengen politischen Kontrolle. Im Politunterricht versuchte mein Bruder nun ebenfalls begeistert über die siegreichen Angriffe der israelischen Luftwaffe auf ägyptische Militärflugzeuge zu diskutieren und erhielt dafür drei Monate Ausgangsverbot.
Wie auch immer: Spätestens im Jahre 1967 wurde Israel für mich zum Sehnsuchtsort. Meine Neugier auf Israel, mein Verständnis für die Konflikte im Nahen Osten, meine Sympathie und Zuneigung für den Staat Israel und seine Bewohner – all das wurde im Juni 1967 geweckt.
In den vergangenen drei Jahrzehnten war ich mindestens einmal im Jahr in Israel; dienstlich oder privat, allein oder mit Kollegen und Kolleginnen, mit Töchtern und mit meiner Frau; hin und wieder nur eine Woche oder 14 Tage, später auch mal drei Monate. Anfangs wohnte ich in Hotels oder Ferienwohnungen in Jerusalem oder Tel Aviv. Auch im Kibbutz Lotan, im Negev, habe ich in dieser Zeit übernachtet. Ab 1996 genoss ich die Gastfreundschaft von Miriam Rieck in Haifa. Sie war mir nicht nur Kollegin und Freundin, sondern vor allem mütterliche Ratgeberin.
Immer dann, wenn ich Hilfe, Unterstützung oder nur einen Rat brauchte, konnte ich mich auf Miriam Rieck verlassen. Miriam Rieck starb am 22. Juni 2017 im Alter von 88 Jahren.
Nach dem Tod meiner mütterlichen Freundin, die 1936 mit ihren Eltern nach Palästina flüchtete, kam mir die Idee, nun endlich von meinen Erlebnissen in Israel zu erzählen. Es ist ein Patchwork aus Reiseberichten, Fotos, erlebten und erzählten Geschichte, Impressionen und Reflexionen über das Leben in Israel.
Krieg, Terror, aber auch fröhliches Miteinander und lautes Durcheinander gehören zum Alltag des Landes. Davon handeln die Texte. Ich erzähle von meinen Erlebnissen in Jerusalem – Yerushalayim, von meinen Reisen nach Haifa und meinen Kolleg/innen an der dortigen Universität, von Tel Aviv – der weißen Stadt am Meer, vom Kibbutz Lotan im Süden und vom Durst im Negev, von Gefiltem Fisch und armenischen Weinbrand, von neuen Antisemiten und alten Populisten in Deutschland sowie von kleinen und großen Propheten.
Die Fotos haben meine Frau Ina und ich aufgenommen. Die an verschiedenen Stellen zu findenden witzigen Ausrutscher stammen – falls sie mir nicht erzählt wurden – aus dem herrlichen Buch „Witze der Juden“ von Salcia Landmann (1998).
In den kommenden Wochen werden die Stationen dieses israelischen Tagebuchs hier auf haGalil erscheinen.
Wolfgang Frindte ist Sozialpsychologe und war Professor für Kommunikationspsychologie am Institut für Kommunikationswissenschaft der Universität Jena. Von 1998 bis 2005 war er Gastprofessur für Kommunikations- und Medienpsychologie am Institut für Psychologie der Leopold-Franzens-Universität Innsbruck und 2004 Fellow am Bucerius Institut der Universität Haifa. Zu seinen Buchveröffentlichungen gehören u.a. „Inszenierter Antisemitismus“ (2006), „Inszenierter Terrorismus“ (2010, mit Nicole Haußecker), „Der Islam und der Westen“ (2013), „Muslime, Flüchtlinge und Pegida“ (2017, mit Nico Dietrich) und „Halt in haltlosen Zeiten“ (2020, mit Ina Frindte).
Teil 1: Jerusalem
Jerusalem – Yerushalayim: Eine Spiegelstadt
Gespräche über Fremde, Freunde und Frieden
Juli 1994 – Wieder in der Altstadt
Teil 2: Tel Aviv
Die weiße Stadt am Meer
Mit Miriam Rieck zu einem Hauptquartier von Etzel
Jaffa – die ältere Schwester
Teil 3: In den Norden
Haifa und ein gemeinsames Projekt
Haifa und Bahai
Fellow am Bucerius Institut der Haifa Universität
Teil 4: Im Süden
Massada, Kibbuz Lotan und Gespräche über Frieden
Massada, Bet She’an, Lost in the Desert und Timna
Eilat, Sinai und Kant
Teil 5: „Für alles ist eine Zeit…“
Palmsonntag in Jerusalem
Pessach in Haifa