Fellow am Bucerius Institut der Haifa Universität

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Ende 2003 wurde eine Umfrage der Europäischen Union mit 7500 Bürgerinnen und Bürgern der damals 15 Mitgliedstaaten veröffentlicht. Die große Mehrheit der EU-Bürger/innen (59%) und sogar 65% der deutschen Bundesbürger/innen glauben, dass Israel – vor Iran, Nordkorea oder ähnlichen Staaten – die größte Bedrohung für den Weltfrieden darstelle…

Von Wolfgang Frindte
Aus meinem israelischen Tagebuch

Die Veröffentlichung der Befunde schockierte die Öffentlichkeit und führte zu ausgeprägten Meinungsverschiedenheiten zwischen der Führungsspitze der EU und der israelischen Regierung. Wenig später kam die EU-Führung erneut in Verlegenheit: Das „Europäische Zentrum zur Beobachtung von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit“ (EUMC, heute: „Agentur der Europäischen Union für Grundrechte“) in Wien hatte im Februar 2002 eine Untersuchung über den Antisemitismus in Europa in Auftrag gegeben. Das EUMC hatte die Veröffentlichung der Studie bis dato zurückgehalten und dies mit methodischen Bedenken begründet. Anfang Dezember wurde die Studie dann unautorisiert im Internet veröffentlicht (siehe auch: haglil.com). Die Umfrage hatte ergeben, dass hinter antisemitischen Straftaten in Europa in großem Maße islamische und pro-palästinensische Gruppen stehen. Hinter diesen Straftaten stünden aber nicht nur antisemitische Vorurteile, sondern vor allem anti-israelische Einstellungen, die nicht zuletzt mit den gegenwärtigen Entwicklungen des Palästinensisch-Israelischen Konflikts verbunden seien. Kritik an Israel sei überdies in einem breiten politischen Spektrum anzutreffen und zeige sich im „klassischen“ Antisemitismus der Rechten ebenso bis wie in der anti-jüdisch/anti-israelischer Kritik der Linken und der Globalisierungsgegner bis hin zu den anti-israelischen Muslimen, die ihre Wut an Juden ausließen.

Vor diesem Hintergrund erhielt ich Ende 2003 eine Einladung vom Bucerius Institute, an der Universität in Haifa mehrere Vorträge über neuere Entwicklungen der Fremdenfeindlichkeit und des Antisemitismus in Deutschland zu halten. Auch wegen der Möglichkeit, auf diese Weise die israelischen und palästinensischen Partner zu treffen, mit denen ich gerade ein trilaterales Forschungsprojekt vorbereitete, habe ich die Einladung gern angenommen. Überdies ist Israel im März ein grünes, blühendes und wunderschönes Land.

Das Bucerius Institute, das meine Reise unterstützte, wird von der gleichnamigen deutschen Stiftung gefördert. Gerd Bucerius, der Gründer und erste Herausgeber der Wochenzeitung „DIE ZEIT“ rief 1971 die gemeinnützige Stiftung ins Leben. Auch die Friedrich-Schiller-Universität profitiert von der Förderpolitik der Stiftung, zum Beispiel durch die im Jahre 2001 eingerichtete Professur für Ziviles Recht. Das ebenfalls Jahre 2001 gegründete Bucerius Institute an der Universität Haifa bemüht sich, durch intensiven Wissenschaftleraustausch zwischen deutschen und israelischen Doktoranden, Habilitanden und Professoren Brücken zwischen Deutschland und Israel zu bauen. Vorlesungsreihen – zum Beispiel zu Migrations- und Integrationsfragen, zu Hannah Arendt und dem Problem des Europäischen Anti-Amerikanismus – sowie Gastvorträge, Workshops und Tagungen sollen Einblicke in die politische und gesellschaftliche Wirklichkeit der Bundesrepublik vermitteln. Geleitet wurde das Bucerius Institute im Jahre 2004 von Yfaat Weiss, einer profunden Kennerin der deutsch-israelischen Beziehungen. Heute, also im Jahre 2020, ist Yfaat Weiss Direktorin des Dubnow-Instituts und Professorin für Neuere Geschichte an der Universität Leipzig.

Ich reiste also im Februar 2004 nun zum dreizehnten Mal nach Israel. Und es wurde mein bis dahin eindrucksvollster und widersprüchlichster Aufenthalt. Ich kam eine Woche vor Purim in Israel an. Die Vorbereitungen auf das karnevalähnliche Fest waren unübersehbar. Purim geht bekanntlich auf das biblische Buch Esther zurück. Dort wird erzählt, wie Königin Esther die Juden in Persien vor der Vernichtung durch den bösen Priester Haman bewahrte. Das Fest lehrt, dass diejenigen, die Hass verbreiten, schließlich vernichtet werden. Aber dazu später mehr.

Vom Flughafen in Lot fuhr ich, wie immer, wenn ich in Israel ankomme, zunächst nach Jerusalem. Und da sah ich die neue Mauer. In der Nähe von Beit Lakiyeh und Beit Daky, im Nordwesten Jerusalems, eigentlich dort, wo ausländische Touristen aus Sicherheitsgründen nicht sein sollten, waren die Arbeiten an der „separation fence“ im vollen Gange. Ein Zaun, an einigen Stellen acht Meter hoch und gespickt mit elektronischen Sensoren soll Israel von den palästinensischen Gebieten trennen. Zum Teil schneidet die neue Grenzanlage tief in palästinensisches Gebiet.

Am 8. März 2004, zehn Tage nach meiner Ankunft, demonstrierten hier im Nordwesten Jerusalems mehrere Hundert palästinensische Bewohner gemeinsam mit israelischen und ausländischen Friedensaktivisten gegen den Bau der Mauer, wobei zehn Palästinenser verwundet wurden. Zur gleichen Zeit verhinderten Polizisten in Tel Aviv einen Bombenanschlag eines palästinensischen Selbstmordattentäters.

Als ich abends nach meinem Ausflug nach Jerusalem in Haifa ankam und in der Wohnung von Miriam Rieck meine alten Freunde zur Sabbatfeier traf, diskutierten wir bis spät in die Nacht über Sinn und Zweck des Grenzzauns. Der Ostdeutsche, der nach Israel gekommen war, um über Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus in Deutschland zu sprechen, avancierte zum mauererfahrenen Experten. Was sollte ich, der vor allem die Bilder vom Fall der Berliner Mauer im Kopf hat, sagen? Ich konnte mir wahrlich nicht vorzustellen, dass es in Israel einmal ein Ereignis wie eben dieses am 9.11.1989 in Deutschland geben könnte. Juden und Araber, die sich wie Brüder und Schwestern (wenn auch später in mannigfache Familienzwistigkeiten verstrickt) glücklich in die Arme nehmen, weil ein Grenzzaun fällt und zwei Länder vereinigt werden, gehört im Nahen Osten weder zu den wünschbaren noch denkbaren Optionen.

Die Unterschiedlichkeit der Auffassungen und Meinungen, die die Israelis zur politischen Lage in ihrem Land äußern, ist keine, an der sich Alt und Jung, oder gar linke und rechte Politikpositionen scheiden lassen. Ein plausibles Kriterium für diese Meinungsverschiedenheiten, denen ich auch in den wissenschaftlichen Diskussionen begegnet bin, lässt sich kaum finden.

Meir Michaelis, geboren in Berlin, pensionierter Professor für Geschichte und bekannt durch zahlreiche Bücher und Artikel über Antisemitismus und Shoa (z.B. Michaelis, 1998), antwortete, als ich ihn nach den Gründen für die besagte Meinungsvielfalt fragte, mit folgendem Witz: „Was ist der Unterschied zwischen Gott und den Juden? Gott weiß alles und die Juden wissen alles besser“.

Natürlich traf ich auch auf sehr unterschiedliche und kontroverse Meinungen, als ich meine Forschungsergebnisse über Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus den wissenschaftlichen Kollegen und Kolleginnen vorstellte. 

Benjamin Beit Hallahmi, damals Professor am Department of Psychology an der Universität Haifa, sah in unseren Befunden einen Hinweis darauf, dass der israelisch-palästinensische Konflikt quasi ein neues Feld für antisemitische Ersatzhandlungen eröffnet habe. Man müsse durchaus von Antisemitismus sprechen, wenn z.B. „die Israelis“ bzw. „die Juden“ mit „den Nazis“ gleichgesetzt würden.

Und Meir Miachaelis betonte, dass der Antisemitismus in Deutschland ein Problem der Deutschen sei und nicht eines der Juden. Wenn Politiker Parallelen zwischen Israel und Nazi-Deutschland zu ziehen versuchten bzw. die Juden als Tätervolk bezeichneten, so sei das ein Zeichen dafür, dass es in Deutschland wieder möglich sei, giftige politische Lügen zu verbreiten. Meir Michaelis verabschiedete mich mit dem jiddischen Satz: Zay gezunt und a gliklekhe rayze!

Purim

„Mojsche, was soll eigentlich das P im Namen Haman?“ „Im Namen Haman ist doch gar kein P.“ „Wieso ist keins drin?“ „Was soll denn ein P im Namen Haman?“ „Das frag ich doch gerade.“

Purim, das Fest, das an die Rettung der Juden, die nach der Zerstörung des ersten Tempels nach Persien entführt wurden erinnert, habe ich öfter in Israel mitfeiern dürfen, in Haifa, im Kibbutz Lotan und in Jerusalem. Mein eindrucksvollstes Purimfest habe ich aber in Jerusalem, Yerushalayim, erlebt. Deshalb müssen wir kurz einen Ausflug zurück in die Heilige Stadt Davids unternehmen. Obwohl ich die Absicht hatte, allein von Haifa nach Yerushalayim zu fahren, um betrunkene Israelis zu fotografieren (warum, das wird sogleich erklärt), geht es wieder einmal nicht ohne Miriam Rieck. Wir folgen einer Einladung ihrer jüngsten Tochter. Ich lerne die erwachsenen und halberwachsenen Kinder von Miriams Tochter, deren Schwiegertöchter und Schwiegersöhne, die Enkel und trinkfeste (männliche) Nachbarn kennen. Die meisten meiner neuen Bekannten sind bunt gekleidet, tragen karnevaleske Kostüme und sind ziemlich lustig. Ein Schwiegersohn von Miriams Tochter spielt auf einem elektrischen Klavier amerikanische Schlager, etwas verfremdet zwar, aber gar nicht so übel. Männer und Frauen sitzen an getrennten Tischen. Die Männer tanzen. Und der Alkohol fließt in Strömen. Ich fühle mich an die schon legendäre Aufführung von Sergei Michalkows „Der Hase im Rausch“ durch Eberhard Esche erinnert. Die Eingeweihten wissen schon, was ich meine: „Und gradezu in Strömen floss der Wein, Die Nachbarn gossen ihn sich gegenseitig ein.“ Es blieb ja nicht beim Wein. Einer der Nachbarn, ein Neurologe, versuchte mir nicht nur immer wieder die Geschichte von Esther und Hamas zu erzählen, wobei die mit am Tische sitzenden Männer bei Erwähnung des Namens Haman laute Geräusche machten und mit den Fäusten auf den Tisch schlugen. Nein, der nachbarliche Neurologe schenkte mein Weinglas ständig nach und bot mir dazu auch noch Whisky an.

Aufgenommen und verfremdet im März 2011

Nun muss man wissen, dass es sieben Pflichten gibt, die ein gläubiger Juden zu Purim erfüllen muss: Das vollständige Lesen des Buches Ester, Geschenke an Freunde und Verwandte, Geschenke an Bedürftige, natürlich das Lesen der Thora, das Gebet über das Wunder der Errettung, kein Fasten und keine Trauerreden, dafür aber Festmahlzeiten, Freude und reichlichen Alkoholgenuss mit vielen Trinksprüchen auf das Leben („l’Chaims“) bis man nicht mehr zwischen dem Guten und dem Bösen unterscheiden kann.

Kaum ein Versuch, die Juden als Juden zu vernichten, kam bisher ohne Inszenierung aus. Meist schlägt die Inszenierung aber auch auf die Akteure der Inszenierung zurück. So auch der Versuch Hamans, des geistlichen Oberhaupts am Hofe des persischen Königs Ahasveros. Hamas Name wurde zum Symbol der Judenfeindschaft. Über die Geschichte berichtet das Buch Esther, über dessen historische Zuverlässigkeit sich freilich gut streiten lässt. Ahasveros, eigentlich Artaxerxes (möglicherweise 464 bis 424 v. u. Z.), hatte die schöne Jüdin Esther, die als Waise von ihrem Vetter Mordechai aufgezogen worden war, zu seiner Frau genommen, ohne von ihrer jüdischen Herkunft zu wissen. Mordechai weigerte sich, nachdem er ein Mordkomplott gegen Ahasveros aufgedeckt hatte, vor Haman, dem Oberpriester, die Knie zu beugen, ihm also die Ehrerbietung zu erweisen. Haman, der wiederum vom Jüdischsein Mordechai erfahren hatte, wurde voller Grimm und beschloss daraufhin, „alle Juden, die im ganzen Königreich des Ahasveros waren, zu vertilgen“ (Esther, 3: 6-7). Der genaue Zeitpunkt wurde durch das Los bestimmt – daher auch der Name Purim (= Lose). Mit der Behauptung, dass die Juden den König und seine Gesetze missachteten, gelang es Haman den König zu einem Erlass zu überreden, der die Vernichtung der Juden vorsah.

„Und die Schreiben wurden gesandt durch die Läufer in alle Länder des Königs, man solle vertilgen, töten und umbringen alle Juden, jung und alt, Kinder und Frauen, auf einen Tag, nämlich am dreizehnten Tag des zwölften Monats, das ist der Monat Adar, und ihr Hab und Gut plündern“ (Esther, 3: 13-14).

Auch Mordechai erfuhr vom Erlass und setzte alles daran, seine Ziehtochter Esther von der geplanten Ermordung der Juden zu informieren. Ihr gelang es schließlich, den Perserkönig zu überzeugen, seinen Erlass zu widerrufen. Haman wurde am Galgen gerichtet und der König ließ den Erlass umkehren; die Juden durften nun sich an ihren Feinden im ganzen Reich rächen; sie töteten „fünfundsiebzigtausend von ihren Feinden; aber an die Güter legten sie die Hände nicht“ (Esther, 9: 17). Mordechai und Esther erklärten das Purimfest daraufhin zum Feiertag der jüdischen Errettung.

„Mordechai schrieb alles auf, was geschehen war. Er schickte Schreiben an alle Juden in allen Provinzen des Königs Artaxerxes nah und fern und machte ihnen zur Pflicht, den vierzehnten und den fünfzehnten Tag des Monats Adar in jedem Jahr als Festtag zu begehen. Das sind die Tage, an denen die Juden wieder Ruhe hatten vor ihren Feinden; es ist der Monat, in dem sich ihr Kummer in Freude verwandelte und ihre Trauer in Glück. Sie sollten sie als Festtage mit Essen und Trinken begehen und sich gegenseitig beschenken, und auch den Armen sollten sie Geschenke geben.“ (Esther, 9:20-22)

Purim ist so zum Erinnerungsfest an die Errettung des jüdischen Volkes aus drohender Gefahr in der persischen Diaspora geworden. In der Synagoge wird aus diesem Anlass aus der Festrolle des Buches Esther vorgelesen und immer wenn der Name Haman fällt, darf so viel Krach wie möglich mit Tuten und Rasseln gemacht werden. Hamans Name wurde zum Symbol der Judenfeindschaft und die von Haman geplante Ermordung kann als eines der ersten historisch nicht verbürgten Beispiele der inszenierten Judenvernichtung gelesen werden. Aus Grimm über die verweigerte Huldigung durch den einen Juden Mordechai werden falsche Bilder über die Juden konstruiert und verbreitet, um so die Vernichtung begründen zu können.

Wie auch immer, die Geschichte von Haman illustriert, dass die Judenfeindschaft eine Geschichte hat, die älter ist als das Christentum.

Kurz und gut: Die Stimmung war ausgelassen. Irgendwann gab auch der Neurologe auf, mir immer wieder die Geschichte von Haman und Esther zu erzählen. Und ich musste aufhören, dem Alkohol zuzusprechen. Miriam und ich wollten ja nach Haifa zurück. Das taten wir dann auch kurz vor Mitternacht. Auf der Straße herrschte immer noch eine ausgelassene Stimmung. Junge Leute tanzten auf der Straße und klopften auf mein Auto. Ich fahre unter Alkohol! Kann es dafür nachträglich noch eine deutsche Strafe geben. Ich werde alles abstreiten. Immerhin kommen wir wohlbehalten und guter Stimmung in Haifa an. Be happy it’s Adar!

Der Tag danach – Israel wartet auf Terrorangriffe der Hamas

Der 23. März 2004 war der bisher wärmste Tag im Jahr. In Haifa wurden 28 Grad Celsius gemessen. Temperaturen, um in einem der vielen Cafés in Haifas „Deutschem Viertel“ zu sitzen und den Kaffee im Freien zu genießen.

Aber nicht nur die Cafés, auch die Supermärkte und andere öffentliche Einrichtungen waren wie leergefegt. Es war der Tag, nachdem die israelische Armee den Hamas-Führer, Scheich Ahmed Yassin, getötet hatte. Und es war wieder ein Tag danach, ein Tag nach Terror und Gewalt. Nervosität, Gespanntheit und Angst vor neuen Anschlägen bestimmten einmal mehr den israelischen Alltag – eine Woche vor Pessach. Wann werden Hamas oder andere Terrorgruppen zurückschlagen?

März und April sind normalerweise die schönsten Monate in Israel. Der Carmel, auf dem auch Haifas wunderschöne Universität steht, grünt und blüht. In der Luft liegt der Duft von Mandelbäumen.

Eigentlich wollte ich am 23. März vormittags meinen Kollegen Nabil in Hebron besuchen, um mit ihm die Planungen für ein Forschungsprojekt zu besprechen, dass sich mit Terror- und Kriegsbedrohungen beschäftigen sollte und als Kooperationsprojekt zwischen Deutschland, Israel und Palästina geplant war. Aus dem Ausflug in die Westbank wurde nichts. Mein Weg von Haifa nach Hebron endete an der „grünen“ Linie, die längst keine grüne mehr ist, sondern hochgesichert das israelische Kernland von den palästinischen Gebieten trennt. Auch der schriftliche Nachweis meiner Herkunft und meiner friedlichen Absicht überzeugte die israelische Grenzpolizei nicht. Ich blieb draußen oder – je nach Perspektive drinnen – um meiner Sicherheit willen. Mein Kollege aus Hebron durfte auch nicht rein oder – wiederum je nach Perspektive – raus. Unser Kontakt beschränkte sich auf das Gespräch via Handy.

Am Nachmittag fuhr ich nach Haifa zurück, um mit israelischen Studierenden ein Seminar über Fremdenfeindlichkeit abzuhalten. Ich nahm den Weg über die neue Autobahn Nr. 6, ein Highway, an dem ein Mautsystem problemlos und störungsfrei funktioniert. Israel ist eben auch ein Hightech-Land. Auf der Höhe von Netanya sieht man rechter Hand eine andere High-Tech-Errungenschaft. Der neue Grenzzaun, an einigen Stellen acht Meter hoch, gespickt mit elektronischen Sensoren, soll Israel von den palästinensischen Gebieten trennen. Ob er auch Sicherheit bringt?

Auch an der Haifa Universität angekommen, spürte ich die Nervosität und Gespanntheit. Die Einlasskontrollen waren um ein mehrfaches schärfer, und die Gespräche mit meinen Freunden und Kollegen drehten sich nur um die Ereignisse des Vortages und ihre möglichen Folgen. Die Reaktionen in Israel auf die Tötung Yassins sind so gegensätzlich wie das Land selbst. Die wohl gemäßigtste Kritik lautete wohl: Musste das vor Pessach sein, dem Fest der Erinnerung an die Befreiung der Israeliten aus Ägypten.

Mein Freund Rick von der Haifa Universität, meint, Yassins Ermordung sei nichts anderes als die Einladung an die palästinensischen Terroristen, mit ihrem Terror fortzufahren. Es werde weiter Blut fließen. „Eine große Dummheit und schlimmer als ein Verbrechen“, kommentiert der Aktivist Uri Avnery von Gush Shalom. Der Auffassung Sharons, Israel sei im Krieg und müsse sich mit kriegerischen Mitteln um seine Sicherheit kümmern, teilen in Israel offenbar nur wenige.

Auch die Studierenden meines abendlichen Seminars waren einheitlicher Meinung. Ähnlich wie ihre Kommilitonen der Hebrew University in Jerusalem, die am Nachmittag auf dem Campus ihrer Universität „Frieden ja, Besatzung nein“ forderten, sahen meine Studierenden in der Ermordung Yassins keine Lösung für den Frieden. Nicht die Fremdenfeindlichkeit oder der Antisemitismus in Deutschland und Europa, sondern eine alte, fast vergessene Idee stand im Mittelpunkt unserer Diskussionen: die Idee vom Zwei-Nationen-Staat. Diese Idee wurde vor allem in den 1920er Jahren von Intellektuellen der neu gegründeten Hebrew University in Jerusalem entwickelt und vertreten. Diese Gruppe, der „Brith Shalom“ (Friedensbund), setzte sich für ein bi-nationales Palästina ein, konnte sich letztlich gegen die herrschenden Richtungen innerhalb des Zionismus aber nicht durchsetzen. Zwei Nationen, die Juden und die Palästinenser, in einem Staat kann ich mir gegenwärtig auch nicht vorstellen. Umso erstaunter war ich, wie vehement einige meiner Studierenden diese Idee als mögliche Friedenslösung vertraten.

Der Tag danach blieb, Gott sei Dank, ohne Terror und Gewalt.  Aber wie viele Tage danach wird es noch geben müssen, bis Frieden ist?

Im nächsten Teil: Nach Süden – Massada, Kibbuz Lotan und Gespräche über Frieden

Wolfgang Frindte ist Sozialpsychologe und war Professor für Kommunikationspsychologie am Institut für Kommunikationswissenschaft der Universität Jena. Von 1998 bis 2005 war er Gastprofessur für Kommunikations- und Medienpsychologie am Institut für Psychologie der Leopold-Franzens-Universität Innsbruck und 2004 Fellow am Bucerius Institut der Universität Haifa. Zu seinen Buchveröffentlichungen gehören u.a. „Inszenierter Antisemitismus“ (2006), „Inszenierter Terrorismus“ (2010, mit Nicole Haußecker), „Der Islam und der Westen“ (2013), „Muslime, Flüchtlinge und Pegida“ (2017, mit Nico Dietrich) und „Halt in haltlosen Zeiten“ (2020, mit Ina Frindte).

Bild oben: Vortrag im Bucerius Institute (Frühjahr 2004)

Literatur

Arendt, Hannah (1963, 1990). Eichmann in Jerusalem. Leipzig: Reclam.
Arendt, Hannah (1989). Nach Auschwitz. Essays & Kommentare 1. Berlin: Edition TIAMAT.
Landmann, Salcia (1997). Die klassischen Witze der Juden. Berlin: Ullstein.
DER SPIEGEL, 26.4.1982; Quelle: http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-14347080.html; aufgerufen: 20.05.2020.
Eitinger, L. (2011). The Psychological and Medical Effects of Concentration Camps and Related Persecutions on Survivors: A Research Bibliography. Vancouver: UBC Press.
Frindte, W. (Hrsg.). (1999). Fremde Freunde Feindlichkeiten – Sozialpsychologische Untersuchungen. Opladen: Westdeutscher Verlag.
Frindte, W., Rieck, M. & Carmil, D. (2002). Xenophobia among Israeli Arabic and Jewish high school students. 25.International Congress of Applied Psychology, Singapore, 7. – 12.7.2002.
Fromm, E. (1980). Die Kunst des Liebens. Frankfurt/Berlin: Ullstein.
Hagalil.com. Die Studie zum Antisemitismus in der EU. Quelle: https://www.hagalil.com/antisemitismus/europa/antisemitismus-studie.htm; aufgerufen: 29.05.2020.
Michaelis, M. (1979). Mussolini and the Jews: German-Italian Relations and the Jewish Question in Italy, 1922-1945. Oxford: Clarendon Press.
Ovid. Metamorphosen. Quelle: https://lateinon.de/uebersetzungen/ovid/metamorphosen/pan-syrinx-689-712/; aufgerufen: 21.05.2020.
Rieck, M. (1994). The psychological state of Holocaust survivors‘ offspring: An epidemiological and psychodiagnostic study. International Journal of Behavioral Development17(4), 649-667.
Rieck, Miriam (Ed.) (2009). Social interactions after massive traumatization. Berlin: Regener.
Rieck, Miriam (Ed.) (2012). The Holocaust: Its traumatic and intergenerational effects in comparison to other persecutions, its interpretations in different theories and its reflections in the arts. Berlin: Regener.
www.unterwegsunddaheim.de. Von Haifa nach Akko. Quelle: http://www.unterwegsunddaheim.de/2015/06/von-haifa-nach-akko; aufgerufen: 20.05.2020.