Die Hauptgebäude der Universität liegen als israelische Exklave auf dem Skopusberg im heutigen Ostjerusalem. Auf dem Foto aus dem Jahre 2012 sind Teile der israelischen Sperranlagen zu erkennen, deren Bau im Jahre 2002 begonnen wurde und die auf einer Gesamtlänge von mittlerweile 750 Kilometer das Westjordanland von Israel abtrennen. Eröffnet wurde die Universität aber schon im Jahre 1925…
Von Wolfgang Frindte
Aus meinem israelischen Tagebuch
Albert Einstein, Martin Buber und Chaim Weizmann gehörten zu den frühen Befürwortern der Universität. Der 1933 aus Deutschland in die USA emigrierte Ahnherr der modernen Sozialpsychologe, Kurt Lewin, sollte der erste Professor für Psychologie an der Hebrew Universität werden. Sigmund Freud, der Begründer der Psychoanalyse, machte das aber in einem Brief vom 5. Dezember 1933 an den damaligen Kanzler der Universität Judah Leon Magnes zunichte. Während Sigmund Freud heute auch Nichtpsychologen mehr als bekannt ist, erinnert sich kaum jemand an den großen Sozialpsychologen. Das ist schade; sind doch alle modernen Methoden und Techniken des Managementtrainings, der Gruppendynamik, der Konfliktbewältigung und des – wie es Neudeutsch heißt – Change Managements ohne die Arbeiten von Kurt Lewin nicht denk- und machbar.
Dan, mein Kollege von der Hebrew Universität, empfängt mich am Haupteingang der Universität und nach einem Sicherheitscheck, bei dem ich meinen Rucksack leeren muss, gehen wir zunächst in Dans Büro. Kaffee, Wasser und Saft warten und ein unvergleichlicher Blick auf die Stadt. Auf dem Tisch stehen leckere Kekse, Marzipankekse, wie mir mein Gastgeber verrät.
Anschließend treffen wir uns in einem Konferenzraum mit zirka 10 Kolleginnen und Kollegen, um über Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus im neuen Deutschland, über den Nahostkonflikt, die Intifada (es war die erste) und über die Möglichkeiten eines großen Friedens zu diskutieren.
Drei Jahre nach der Wende in Deutschland breitete sich Anfang der 1990er Jahre eine Welle fremdenfeindlicher Gewalt über ganz Deutschland aus. Meine israelischen Kollegen haben das sehr wohl wahrgenommen. Sie wissen Bescheid über die zum Teil pogromähnlichen Ausschreitungen gegen Unterkünfte von Flüchtlingen und Vertragsarbeitern im September 1991 in Hoyerswerda, im August 1992 in Rostock-Lichtenhagen, sowie gegen Wohnhäuser libanesisch- und türkischstämmiger Deutscher im Oktober 1991 in Hünxe, im November 1992 in Mölln und im Mai 1993 in Solingen. Auch über die Zuwanderung von Tausenden Jüdinnen und Juden aus der ehemaligen Sowjetunion nach Deutschland sind meine Kollegen gut informiert.
Unsere Diskussion kreist aber vor allem über die Chancen des Oslo-Abkommens. Wenige Tage vor meiner Ankunft in Israel, am 13. September 1993, unterzeichneten Shimon Peres als israelischer Außenminister und Mahmud Abbas, der zu dieser Zeit Außenminister der PLO war, in Washington die „Prinzipienerklärung über die vorübergehende Selbstverwaltung“. Auch Yitzhak Rabin, Jassir Arafat und Bill Clinton waren anwesend, ebenso der US-amerikanische und der russische Außenminister. Mit der Erklärung, später bekannt als „Oslo I“, erkannten sich Israel und die PLO offiziell aneinander an, und Arafat, Rabin und Peres erhalten dafür 1994 den Friedensnobelpreis.
Meine israelischen Kolleginnen und Kollegen sprechen euphorisch und zustimmend über das Abkommen. „Land für Frieden“ ist der Slogan, der so etwas wie die „dritte Geburt“ des Staates Israel anzuzeigen scheint. Die Kolleginnen und Kollegen wollen natürlich meine Meinung zum Abkommen hören, bin ich doch – ob meiner ostdeutschen Herkunft und meiner nunmehr deutsch-deutschen Gegenwart – so etwas wie ein Spezialist für friedliche Einheit.
Ich frage nach den Gebieten, also dem Land, das die Israelis für einen Frieden zurückzugeben bereit sind und wieviel Fremdheit ein jüdischer Staat vertrage. Was werde mit dem von den Palästinensern eingeforderte Rückkehrrecht für alle Palästinenser, die 1948 Israel verlassen haben oder – auch das gab es – vertrieben wurden, einschließlich deren Nachkommen? Könnte Israel unter diesen Umständen noch ein jüdischer Staat sein?
Mit meinen Fragen habe ich nun doch ein ziemliches, vorsichtig ausgedrückt, kommunikatives Durcheinander provoziert. Was wird dann aus dem Kotel? Dürfen wir dann nicht mehr zur Westmauer? Und wie sieht es mit dem Golan aus? Stehen dort oben dann wieder syrische Geschütze und Panzer? Das Durcheinander ist ziemlich heftig. So, wie ich später noch andere Diskussionen in Israel erlebt habe. Kontrovers und laut. Ein jüdisches Tohuwabohu, Balagan eben. Meist – wie auch hier auf dem Skopusberg – kommen die Diskutanten zu keiner Übereinstimmung.
Um etwas Ruhe in die hitzige Diskussion zu bringen, erinnert eine Kollegin an den großen Soziologen Zygmunt Bauman, der nach dem er 1968 aus Polen geflohen war, einige Zeit an den Universitäten in Tel Aviv und Haifa gelehrt hat. Wer oder was ist ein Fremder oder Fremde und wieviel Fremdheit hält eine Gesellschaft aus? Das seien Fragen, die auch Bauman umgetrieben haben. Ja, ich stimme dem zu, kenne auch einige seiner ins Deutsche übertragene Bücher.
Bauman wurde 1925 im polnischen Posen geboren, war im Zweiten Weltkrieg Offizier der „Polnischen Streitkräfte in der Sowjetunion“ und lehrte nach einem Soziologiestudium an der Warschauer Universität. Nach dem Sechstagekrieg im Nahen Osten denunzierte der Generalsekretär der Vereinigten Polnischen Arbeiterpartei, Wladyslaw Gomulka, im Juni 1967 die polnischen Juden als „fünfte Kolonne in unserem Land“. Daraufhin entließ General Wojciech Jaruzelski in den nachfolgenden Monaten alle Offiziere jüdischer Herkunft aus der Armee. Entlassen wurden auch Professoren, Ärzte, Parteifunktionäre und Verlagsmitarbeiter. Auch Zygmunt Bauman verlor seine Anstellung an der Universität. Er emigrierte zunächst nach Israel und wechselte 1971 auf einen Lehrstuhl für Soziologie an die britische Universität Leeds.
Und so wird unsere Diskussion zunächst sehr akademisch. Wir diskutieren über die zwei Perspektiven, aus denen man nach Bauman die Fremden betrachten und beobachten könne: Zum einen aus der Perspektive des Flaneurs, des Spaziergängers und des Touristen. Der Flaneur spaziere durch fremde Reviere, erlebe die anderen ebenso fremd wie sich selbst in dieser Region und ziehe aus dem Spaziergang Lustgewinn oder – wie ich in der letzten Nacht – Angst vor möglichen Straßenräubern.
Diese Perspektive ändere sich, nach Bauman dann, wenn der Fremde sich genauso mobil verhalte wie die Einheimischen als Touristen in fremden Regionen. „Der Fremde ante portas“, so bezeichnet Bauman die zweite Perspektive. Jetzt – im Umbruch der Moderne – stünden die Fremden nunmehr ante portas und begehren Einlass. Das, was den Einheimischen in ihren eigenen Lebensräumen bisher als wertvoll erschien, werde nun mit anderen, fremden (kulturellen) Werten konfrontiert. Das sei im heutigen Israel so und vermutlich auch im vereinten Deutschland, stellen meine Kolleginnen und Kollegen fest.
Und was folgt daraus, so meine Frage an meine israelischen Kollegen. Die Antwort: Der Fremde ante portas erzeuge Unsicherheiten, die bewältigt werden müssen. Die Einheimischen könnten zu dem Schluss kommen, dass alle, jeder und auch sie selbst unter gewissen Umständen Fremde sein können bzw. die Fremden auch in ihrer fremden Not verstanden werden wollen. Im 5. Buch Moses gebe es dafür den Begriff „ger“, sagt Dan.
Ich habe später nachgelesen und zwar in der Verdeutschung von Martin Buber und Franz Rosenzweig. Da findet sich u.a. der bekannte Satz: „Biege nicht das Recht eines Gastsassen, einer Waise, beschlagnahme nicht das Gewand einer Witwe, gedenke, dass du Knecht warst in Ägypten, ER dein Gott dich von dort abgegolten hat, darum gebiete ich dir diese Sache zu tun“ (Moses 5, Reden, 24,17; in der Übersetzung von Buber und Rosenzweig, 1987, S. 538). „Gastsasse“ ist die von Buber und Rosenzweig bevorzugte Übersetzung von „ger“; auch als „Fremdling“ übersetzbar.
Allerdings gebe es in den alten Büchern – so eine meiner Kolleginnen – weitere Differenzierungen, um den Fremdling zu charakterisieren: so den nåkhrî (נָכְרִי), den tôšāv (תּוֹשָׁב), den zār (זָר), und eben den ger (גֵּר). Der nåkhrî sei der, der mit seiner Karawane das Land durchziehe und keine dauerhafte Beziehung zu Land und Leuten pflege. Ihm werde die traditionelle Gastfreundschaft entgegengebracht, nicht mehr und nicht weniger. Beim tôšāv handele es sich um eine Person, die sich an einem Ort niedergelassen habe, aber nicht aus diesem Ort stamme und kein volles Bürgerrecht besitze. Als zār werde hin und wieder der feindliche Fremde bezeichnet. Die gerim hingegen seien jene Fremde, denen man – falls ich es richtig verstanden habe – den Daueraufenthalt im Lande erlaubt. Auch die zum Judentum konvertierten Personen werden heutzutage gerim genannt.
Demzufolge können die Einheimischen angesichts der Fremden, die da ante portas stehen, auch die eigenen, mehr oder weniger gerechtfertigten Lebensräume bedroht sehen und mit Angst reagieren. Oder die Einheimischen könnten auch darauf bestehen, dass sich die Fremden, die es wagen, an ihre Haustüre zu klopfen, sich bitteschön anpassen und die Regeln der Einheimischen akzeptieren. Andernfalls müssen sie (die Fremden) eben mit der Fremdenfeindlichkeit rechnen. Und schließlich haben die Einheimischen auch die Möglichkeit, im Fremden den Gegner und Feind zu sehen, den man mit Gewalt darin hindern muss, das einheimische Land zu betreten.
Erneute Nachfrage: Wo ist da noch Licht am Ende eines Tunnels? Um den Fremdenfeindlichkeiten, den Antisemitismen, Antizionismen, Islamophobien und Rassismen zu entgehen, müssten wir – so die Argumentation der israelischen Kollegin – unser Denken und Fühlen und vor allem unsere gesellschaftlichen Strukturen grundlegend ändern. Israel und das frühere Palästina haben seit Ende des 19. Jahrhunderts viele Einwanderungswellen, Alijot im Plural und Alija im Singular, von Jüdinnen und Juden aus aller Welt erlebt. Alija bedeutet im Hebräischen Aufstieg und meint die Rückkehr von Juden ins Gelobte Land. Zuerst kamen Juden aus Russland, Polen und Rumänien, dann Verfolgte aus dem Nazi-Deutschland. Nach der Staatsgründung folgten Einwanderer aus Ägypten, dem Jemen, aus Nordafrika, aus Äthiopien und aus der Sowjetunion. Die spektakulärsten Geschichten ranken sich um die geheimen Evakuierungen der äthiopischen Juden in den Jahren 1984/1985, 1991 und zwischen 2011 und 2013. In diesen Jahren wurden innerhalb weniger Nächte mehrere Tausend Juden aus Äthiopien nach Israel ausgeflogen. Die Aktionen hatten so klingende Namen wie „Operation Moses“ (1984/1985), „Operation Salomon“ (1991) und „Operation Taubenflügel“ (2011 bis 2013).
Zwischen 1989 und 1993 wanderten zudem mehr als 450.000 Juden aus der Sowjetunion ein. Inzwischen, also zum Zeitpunkt, an dem ich dieses Buch niederschreibe, stammen zirka 20 Prozent der heutigen israelischen Bevölkerung, die mehr als 8 Millionen umfasst, aus der ehemaligen Sowjetunion. Russischsprachige Juden bilden die größte Minderheit in Israel. Sie haben mittlerweile großen Einfluss auf die Kultur, Kunst, Wissenschaft und vor allem auf die Politik des Staates Israel. Und auch im öffentlichen Raum ist das Russische nicht zu überhören und nicht zu übersehen.
Mit den Einwanderungen, ergänzt Dan, kamen auch fremde Welten, fremde Kulturvorstellungen und neue Farben nach Israel. Neben den weißen Juden aus Europa folgten die dunkelhäutigen aus Nordafrika, aus Äthiopien oder aus dem Jemen. Allein während und nach dem Unabhängigkeitskrieg flohen mehr als eine halbe Millionen Juden aus den benachbarten arabischen Ländern. Mehr oder minder gut haben sich die Eingewanderten mittlerweile in Israel integriert, aber auch die heimische Kultur, Politik und Gesellschaft geändert. Keinesfalls ohne Probleme, aber überwiegend zum Vorteil für das ganze Land.
„Du solltest“, wendet sich eine Kollegin an Dan, „die immer noch vorhandenen Probleme und Konflikte zwischen den Aschkenasim und Sephardim, zwischen europäischen, marokkanischen, jemenitischen und äthiopischen Juden nicht unerwähnt lassen“. Ohne Probleme sei die jüdisch-israelische Gesellschaft auch heute nicht. Und, entgegnet ein anderer Kollege, man dürfe auch nicht vergessen, dass nach 1948 etwa 800.000 Araber den neuen Staat Israel verlassen haben; entweder, weil sie von den arabischen Führern zur Flucht aufgefordert oder weil sie von uns, den Israelis vertrieben wurden. „Heute“, so fährt der Kollege fort, „leben in Israel mehr als eine Millionen Araber“. Sie haben zwar die israelische Staatsangehörigkeit, besäßen seit der ersten Wahl zur Knesset im Jahre 1949 das aktive und passive Wahlrecht, vollkommen gleichberechtigt seien sie indes nicht. Wie also mit den israelischen Arabern und den Palästinensern im Gazastreifen oder im Westjordanland umgehen?
Um den Frieden mit den Palästinensern in Zukunft garantieren zu können, ergänzt Dan, müsse sich die israelische Gesellschaft in den nächsten Jahren deshalb ganz anderen Herausforderungen stellen. „Und das heißt?“, frage ich. Er, so Dan, könne nur für Israel sprechen. „Die Konsequenz und das Licht am Ende des Tunnels müssen zwei Staaten sein, ein jüdischer in den Grenzen vor dem Sechstagekrieg 1967, und ein palästinensischer. Vielleicht ist das Oslo-Abkommen ein Anfang“.
Die Diskussion wird daraufhin wieder sehr hitzig. Zwei Staaten seien eine Lösung, seien keine Lösung, können nur Zwischenlösungen sein. Israel sei ein jüdischer Staat und das müsse so bleiben. Und so weiter und so fort. Mir brummt der Kopf angesichts der kontroversen Argumente. Ein Konsens ist nicht in Sicht. Vielleicht ist der auch gar nicht nötig. Möglichweise liegen im Streit die Mittel der Lösung. Trotz der unterschiedlichen Meinungen sind sich meine israelischen Kolleginnen und Kollegen in einem aber einig; das Abkommen von Oslo könnte der Beginn eines Friedens im Nahen Osten sein. Und am Ende, bevor mich ein Taxi wieder ins Hotel bringt, gibt es noch ein gemeinsames Essen in einem Restaurant in Campusnähe. Die Speisen versuchen italienisch auszusehen und zu schmecken. Der israelische Wein ist besser. Wir trinken einen Mount Hermon Cabernet Sauvignon aus dem Jahre 1991. Alle vertragen sich.
Dan und ich, treffen uns in dieser Woche noch zwei Mal, um über Projektideen zu sprechen. Realisiert wird eine der Ideen erst Jahre später.
Von der Praxis eines eiligen Touristen
Am Tag vor meiner Abreise wandere ich noch einmal durch die Altstadt, besuche den Kotel darf zwei israelische Soldatinnen fotografieren und stecke einen Wunschzettel meiner Töchter in die Spalten zwischen den großen Steinen der Klagemauer.
Dann weiter zur Grabeskirche. Die Zeit ist knapp. Ein kurzer Besuch der Kirche muss aber sein. Ich bin ein braver Tourist und eiliger Flaneur. Über dem Eingang der Kirche sehe ich die sagenhafte Leiter, über die ich schon bei Amos Elon gelesen habe:
„Die Griechisch-Orthodoxen bestimmen über – oder ‚besitzen‘, wie oft behauptet wird – siebzig Prozent der Grabeskirche. Armenier, römische Christen, Kopten, Syrer und Äthiopier teilen sich den Rest. Im Innern der Basilika herrscht, wie seit Jahrhunderten, noch immer ein eifersüchtig überwachtes Reglement und eine genau festgelegte Aufteilung zwischen den großen und kleinen Anteilseignern – wann und wo jede Glaubensgemeinschaft saubermachen, eine Messe lesen, Reparaturen ausführen, eine Glühbirne ersetzen, einen Nagel in die Wand schlagen, eine Tür öffnen oder schließen darf. Die wackelige kleine Holzleiter, die in einer bekannten Lithographie von David Roberts aus dem Jahr 1842 schräg an einem Fenster im zweiten Stock lehnt, lehnt noch heute im selben schiefen Winkel am selben Fenster an der westlichen Kirchenfassade. Sie wird nie benützt. Sie gehört den Griechisch-Orthodoxen und kann daher nicht entfernt werden“ (Elon, 1999, S. 287).
Auch so kann man symbolische Kirchenpolitik betreiben. Leitern spielen in der jüdischen und christlichen Religion überhaupt eine besondere Rolle. Am bekanntesten ist sicher die Leiter Jakobs, die ihm, Jakob, zeigen sollte, „wie die Welten miteinander verknüpft sind, wie alle Dinge miteinander zusammenhängen, die himmlischen mit den irdischen, die irdischen mit den himmlischen“ (Micha Josef bin Gorion, 1914, S. 414). Die Leiter symbolisiert also die Brücke oder auch das Medium zwischen Himmel und Erde. Als Tugendleiter, über deren Stufen der der Mensch zur Vollkommenheit und also zu Gott gelangt, spielt sie auch im Christentum eine wichtige Rolle.
Der Grund, warum die kleine Holzleiter noch immer über dem Eingang zur Kirche steht, dürfte allerdings eher ein profaner zu sein. Sie wurde offenbar von Mönchen im 19. Jahrhundert benutzt, um auch außerhalb der offiziellen Öffnungszeiten in die Kirche zu gelangen. Warum nun aber auch das Innere der Kirche ein Abstellplatz für diverse Leitern zu sein scheint, ist mir bis heute unklar. So finde ich in einem alten Bildband über „Das Heilige Land“ aus dem Jahre 1990 ein Foto, auf dem neben dem Salbungsstein beim Eingang zur Kirche eine Treppenleiter zu sehen ist. Ist es jene Leiter, die auch heute noch dort steht?
Vor der Kirche stehen zwei als osmanische Soldaten verkleidete Männer. Gehören sie zu den muslimischen Familien Joudeh und Nusseibeh, die seit dem 12. Jahrhundert den Zugang zur Grabeskirche hüten? Die eine Familie hat den Schlüssel zur Kirchentür, die andere Familie darf diese öffnen und schließen. Dass es nun gerade Muslime sind, die die Schlüssel- und Schließgewalt an der Grabeskirche haben, geht wohl auf ein Dekret des Sultans Saladin zurück, eben jener, der gegen die Kreuzritter kämpfte und siegte.
Eilig, weil in Zeitnot und typisch touristisch, gehe ich an der Grabkammer vorbei, in der der Leichnam Christi abgelegt worden sei, umrunde ich das Innere der Kirche, bewundere und fotografiere die eindrucksvolle Kuppel und werde von einem älteren Franziskanermönch auf Englisch angesprochen: Dies, und er verweist in die Höhe, sei der Nabel der Erde. Von hier aus gehe der Friede in die Welt. Mag sein, denke ich, mag sein. Er fragt mich auch, woher ich komme. Ich gebe ihm artig Antwort: aus Jena in Deutschland. Er: Vienna, aber das liege doch nicht in Deutschland. Ich: Nein, JENA, in der Mitte Deutschlands, früher in der DDR. Er: Ja, ja, Jerusalem, die Ewige Stadt, liege auch in der Mitte, aber in der Mitte der Welt.
Vielleicht, so denke ich, liegen da auch die Ursachen der Probleme. Jerusalem spiegelt den Nucleus der Weltkonflikte wider. Nicht mehr und nicht weniger. Hier scheinen sich die Ursachen und Folgen dieser Konflikte auf überschaubarem, aber keinesfalls beherrschbarem Raum zu konzentrieren. Vielleicht finden sich in der Stadt aber auch die Lösungen dieser Konflikte. Man muss nur bereit sein, diese Lösungen auch zu suchen.
Über die Via Dolorosa laufe ich zum Löwentor und sehe den Ölberg. Ich schaue auf den Garten Getsemani, in dem Jesus mit seinen Vertrauten am Abend vor seiner Kreuzigung saß, und auf die Kirche der Nationen. Von den muslimischen Friedhöfen – in der Nähe des Goldenen Tors – blicke ich auf die schöne russisch-orthodoxe Maria-Magdalena-Kirche, die Zar Alexander III. im Andenken an seine Mutter erbauen ließ.
Ich erkenne den großen jüdischen Friedhof, von dem man einen beeindruckenden Blick auf die Jerusalemer Altstadt hat. Hier werde ich auch in den nachfolgenden Jahren noch öfter sitzen und über G’tt, die Welt, die Meinen und mich nachdenken.
Salcia Landmann (1997) erzählt in „Die klassischen Witze der Juden“ folgende etwas makabre Geschichte:
Am Pier von New York redet ein alter, zerlumpter Jude auf den Kapitän eines nach Israel fahrenden Schiffes ein: „Herr Kapitän, haben Sie ein Mitleid mit einem sterbenden Juden! Nehmen Sie mich um Gotteslohn mit nach Israel, damit ich begraben sein kann im Lande meiner Väter!“ Der Kapitän erbarmt sich und nimmt den Bittsteller mit. Bei der Ausfahrt aus Haifa steht derselbe Mann wieder am Pier und fleht, der Kapitän möchte ihn doch wieder nach New York zurückbringen. „Wissen Sie“, erklärt er, „mein Leiden hat sich gebessert. In Israel sterben – ja. Aber leben?!“
Ich möchte, dass man in Israel nicht nur sterben, sondern auch in Frieden leben kann. Ich werde wiederkommen. Nächstes Jahr in Jerusalem. In Erinnerung bleibt mir vor allem der große Optimismus, mit dem nicht nur meine Kollegen an der Hebrew Universität angesichts der Osloer Vereinbarungen in die Zukunft schauten. Mit diesem Optimismus im Kopf und im Herzen fliege ich nach einer Woche ins herbstliche Deutschland zurück.
Im nächsten Teil: Juli 1994 – Wieder in der Altstadt
Wolfgang Frindte ist Sozialpsychologe und war Professor für Kommunikationspsychologie am Institut für Kommunikationswissenschaft der Universität Jena. Von 1998 bis 2005 war er Gastprofessur für Kommunikations- und Medienpsychologie am Institut für Psychologie der Leopold-Franzens-Universität Innsbruck und 2004 Fellow am Bucerius Institut der Universität Haifa. Zu seinen Buchveröffentlichungen gehören u.a. „Inszenierter Antisemitismus“ (2006), „Inszenierter Terrorismus“ (2010, mit Nicole Haußecker), „Der Islam und der Westen“ (2013), „Muslime, Flüchtlinge und Pegida“ (2017, mit Nico Dietrich) und „Halt in haltlosen Zeiten“ (2020, mit Ina Frindte).
Bild oben: Hebrew University, aufgenommen 2012
Literatur
Allport, W. Gordon (1954). The nature of prejudice. Reading: Addison-Wesley.
Bernstein, Fritz (1980, Original: 1926). Der Antisemitismus als Gruppenerscheinung. Königstein/Ts.: Jüdischer Verlag.
Bin Gorion, Micha Josef (1914). Die Sagen der Juden. Frankfurt a. M.: Rütten & Loening.
Buber, Martin & Rosenzweig, Franz (1987). Die fünf Bücher der Weisung (Verdeutschung). Heidelberg: Lambert Schneider.
Elon, Amos (1999. Jerusalem – Innenansicht einer Spiegelstadt. Hamburg: Wunderlich Verlag.
Gur, Batya (2000). In Jerusalem leben – Ein Requiem auf die Bescheidenheit. Frankfurt a. M.: Schöffling und Co.
Herzog, Chaim & Gichon, Mordechai (2000). Die biblischen Kriege. Augsburg: Bechtermünz.
Kant, Immanuel (1977, Original: 1795). Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf. Werke in zwölf Bänden. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
Landmann, Salcia (1997). Die klassischen Witze der Juden. Berlin: Ullstein.
Oz, Amos (2008). Eine Geschichte von Liebe und Finsternis. Berlin: Suhrkamp.
Rosten, Lea (2002). Jiddisch – eine kleine Enzyklopädie. München: Deutscher Taschenbuchverlag.