EINEM ehemaligen israelischen Armeestabschef, einer Person mit begrenzter Intelligenz, wurde erzählt, dass eine gewisse Person ein Atheist sei. „Ein jüdischer Atheist oder ein christlicher Atheist?“ fragte er…
Uri Avnery, Tel Aviv
Lenin wurde einst in seinem Schweizer Exil nach der Parteizugehörigkeit eines neu gewählten Mitglieds der Duma gefragt: „Oh, er ist nur ein Dummkopf!“ behauptete sein Assistent. Lenin antwortete ungeduldig. „Ein Dummkopf, in welcher Beziehung denn?“
Ich bin versucht, eine ähnliche Frage gegenüber Leuten zu stellen, die angepriesen werden, als wären sie unserm Konflikt gegenüber neutral. „Neutral, wem gegenüber?“
DIE FRAGE kam mir in den Sinn, als ich einen israelischen Dokumentarfilm über die US-Unterhändler sah, die während der letzten gut 40 Jahre versuchten, Frieden zwischen den Palästinensern und uns zu vermitteln. Aus irgendeinem Grund waren die meisten von ihnen Juden. Ich bin mir sicher, dass sie alle treue amerikanische Bürger waren, die bei jeder Vermutung, sie würden einem fremden Land dienen, wie z.B. Israel, ernsthaft beleidigt wären. Sie glaubten ehrlich, sie seien in unserm Konflikt neutral.
Aber waren sie neutral? Sind sie neutral? Können sie es sein?
Meine Antwort ist: nein, sie konnten es nicht.
Nicht weil sie unehrlich waren. Nicht weil sie bewusst einer Seite dienten. Gewiss nicht, daran darf man gar nicht denken
Sondern aus einem viel tieferen Grund. Sie sind mit der Geschichte nur der einen Seite aufgewachsen. Sie haben von Kindheit an nur die Geschichte und Terminologie der einen Seite –unserer Seite – verinnerlicht. Sie konnten sich so gar nicht vorstellen, dass die andere Seite ein anderes Narrativ mit einer anderen Terminologie hat.
Dies hindert sie nicht daran, neutral zu sein. Neutral für eine Seite.
Übrigens gibt es in dieser Hinsicht keinen großen Unterschied zwischen amerikanischen Juden und anderen Amerikanern. Sie haben von Kindheit an gewöhnlich dieselbe Geschichte und Ideologie gehört, die sich auf die hebräische Bibel gründet.
NEHMEN WIR das letzte Beispiel. John Kerry bringt den Entwurf eines Planes für die Lösung des Konfliktes mit.
Er wurde sorgfältig von einem Expertenstab vorbereitet. Und was für ein Stab! 160 engagierte Personen!.
Ich will nicht fragen, wie viele von ihnen jüdische Landsleute sind. Allein die Frage hat einen antisemitischen Hauch. Jüdische Amerikaner sind wie alle anderen Amerikaner. Loyal gegenüber ihrem Land, neutral in unserm Konflikt
Neutral, wem gegenüber?
Nun lasst uns den Plan ansehen. Unter vielen anderen Vorkehrungen sieht er vor, dass israelische Truppen im palästinensischen Jordantal stationiert sind. Eine vorläufige Maßnahme. Für nur 10 Jahre. Danach wird Israel entscheiden, ob seine Sicherheitsbedürfnisse damit getroffen worden sind. Wenn seine Antwort negativ ist, werden die Soldaten dort solange bleiben, wie es nötig ist – nach israelischem Urteil.
Für neutrale Amerikaner klingt dies ganz vernünftig. Die Palästinenser bekommen einen freien und souveränen Staat. Das Jordantal wird Teil dieses Staates sein. Wenn die Palästinenser ihre lang ersehnte Unabhängigkeit erreicht haben, warum sollten sie sich um solch eine Bagatelle Probleme machen? Wenn sie keine militärische Aktion gegen Israel vorhaben, warum sich darüber Gedanken machen?
Logisch für den, der ein Israeli ist oder ein Amerikaner. Aber nicht für einen Palästinenser.
Für einen Palästinenser besteht das Jordantal aus 20% ihres mutmaßlichen Staates, der im Ganzen aus 22% des Gebietes besteht, das sie als ihr historisches Heimatland betrachten. Und weil sie – nach ihren Erfahrungen – glauben, dass es sehr wenig Chancen gibt, dass Israel sich je von einem Stück Land freiwillig zurückziehen wird, das es einmal übernommen ha. Und weil die dauernde militärische Kontrolle des Tales den Israelis erlauben würde, den Staat Palästina von jedem Kontakt mit der arabischen – ja sogar mit der ganzen – Welt abschneiden würde.
Und da gibt es noch etwas wie den nationalen Stolz und die Souveränität.
Man stelle sich mexikanische – oder gar kanadische Soldaten vor, die auf 20% des USA-Gebietes stationiert wären. Oder französische Soldaten kontrollieren 20% Deutschlands. Oder russische Truppen 20% von Polen. Oder serbische Truppen in Kosowo.
Unmöglich, würde man sagen. Warum nehmen amerikanische Experten für selbstverständlich, dass Palästinenser anders sind? Dass ihnen dies nichts ausmachen würde?
Weil sie eine bestimmte Vorstellung von Israelis und Palästinensern haben.
DERSELBE Mangel an Verständnis herrscht natürlich in den Beziehungen zwischen den beiden Seiten selbstvor.
Am letzten Tag des Jahres 2013 musste Israel 26)palästinensische Gefangene entlassen, die seit vor dem Oslo-Abkommen 1993 gefangen waren. Dies war ein Teil des Vorverständnisses, das John Kerry vor Beginn der gegenwertigen Verhandlungen erreicht hatte.
Jedes Mal, wenn so etwas geschieht, gibt es einen Aufschrei in Israel und Freude in Palästina. Nichts erklärt die psychische Kluft zwischen beiden Völkern klarer als diese gegensätzlichen Reaktionen.
Für die Israelis sind diese Gefangenen abscheuliche Mörder, ekelhafte Terroristen mit „Blut an ihren Händen“. Für die Palästinenser sind sie Nationalhelden, Soldaten für die geheiligte palästinensische Sache, die mehr als 20 Jahre ihres jungen Lebens für die Freiheit ihres Volkes geopfert haben.
Tagelang berichteten alle israelischen Medien mehrmals am Tag über Demonstrationen von betroffenen israelischen Müttern, die große Fotos ihrer Söhne und Töchter, von Ehemännern und –Ehefrauen in ihren Händen trugen und ihrem Schmerz gegen die Entlassung ihrer Mörder hinausschrien. Direkt danach kommen Szenen aus Ramallah und Nablus von den Müttern der Gefangenen, die die Fotos ihrer Lieben umklammert hielten: sie tanzten und sangen vor Erwartung über ihre Ankunft.
Viele Israelis schrecken bei diesem Anblick zurück. Aber die Editoren und Moderatoren wären erstaunt, wenn man ihnen gesagt hätte, dass sie absichtlich die Leute gegen die Gefangenenentlassung und – indirekt gegen die Friedensverhandlungen aufstacheln würden. Warum? Wie? Es ist doch ein ehrlicher Bericht!
Die Bibel erzählt uns: dass nachdem König Saul im Krieg gegen die Philister getötet wurde, König David sagte: „Sagt‘s nicht denen in Gath, verkündet’s nicht auf den Gassen in Ashkalon, dass sich nicht freuen die Töchter der Philister und nicht frohlocken die Töchter der Unbeschnittenen.“ (2.Sam.1.20)
Benjamin Netanjahu ging in dieser Woche noch weiter. Er hielt eine Rede und denunzierte die palästinensische Führung. Wie können sie nur diese Demonstration der Freude organisieren? Was sagt das über die Aufrichtigkeit von Mahmoud Abbas? Wie konnten sie sich beim Anblick dieser abscheulichen Mörder freuen, die unschuldige Juden umgebracht haben? Beweist das nicht, dass sie gar nicht ernsthaft nach Frieden suchen, dass sie alle Terroristen sind, die sich im Herzen nicht verändert haben und nach jüdischem Blut lüstern? Also können wir lange, lange Zeit keinerlei Sicherheitsmaßnahmen aufgeben.
Als die Gefangenen selbst vom israelischen TV unmittelbar nach ihrer Entlassung interviewt wurden, behaupteten sie in ausgezeichnetem Hebräisch (das sie im Gefängnis gelernt hatten), dass es Hauptsache sei, Frieden zu erreichen. Als einer von ihnen gefragt wurde, sagte er: „Gibt es einen einzigen Israeli – von Netanjahu abwärts – der nicht Araber getötet hat?“
DIESE KLUFT zwischen den Wahrnehmungen ist – meiner Meinung nach – das größte Hindernis auf dem Weg zum Frieden.
Netanjahu gab uns in dieser Woche noch ein schönes Beispiel. Er sprach über die ständige Hetze gegen Israel in palästinensischen Schulbüchern. Dieser Punkt der israelischen Propaganda vom rechten Flügel taucht zu jeder Zeit auf, wenn die andern Argumente ausgeleiert sind
Wie kann da Frieden werden, rief Netanjahu aus, wenn palästinensische Kinder in ihrem Unterricht lernen, dass Haifa und Nazareth ein Teil Palästinas sind? Dies bedeutet, dass sie dahin erzogen werden, Israel zu zerstören!
Dies ist so erstaunlich, dass man nur die Luft anhalten kann. Ich denke nicht, dass es ein einziges hebräisches Schulbuch gibt, das nicht die Tatsache erwähnt, dass Jericho und Hebron ein Teil von Eretz Israel sind. Um dies zu ändern, müsste man die Bibel abschaffen.
Haifa und Hebron, Jericho und Nazareth sind alle ein Teil desselben Landes, auf Arabisch Palästina genannt und Eretz Israel auf Hebräisch. Sie sind alle tief verwurzelt im Bewusstsein der beiden Völker. Ein Kompromiss zwischen ihnen bedeutet nicht, dass sie ihre historischen Erinnerungen aufgeben, sondern dass sie mit der Teilung des Landes in zwei politische Entitäten einverstanden sind.
Netanjahu und seine Klicke kann sich das nicht vorstellen, und deshalb sind sie nicht in der Lage, Frieden zu machen. Auf der palästinensischen Seite gibt es sicher viele Leute, die dies auch unmöglich oder zu schmerzlich finden.
Ich frage mich, ob irische Schulbücher 400 Jahre englische Herrschaft oder Gräuel vergessen haben. Ich bezweifle es. Ich frage mich auch, wie englische Schulbücher dieses Kapitel ihrer Geschichte behandeln.
Auf jeden Fall, wenn eine unabhängige (neutrale ?) Kommission von Experten alle Schulbücher in Israel und Palästina prüfen würden, dann würden sie sehr wenig Unterschiede zwischen ihnen finden. Von Israels vier jüdischen Schulsystemen (national, national-religiös, westlich-orthodox und östlich-orthodox) sind wenigstens die drei religiösen so national-rassistisch, dass ein palästinensischer Konkurrent in Bedrängnis geraten würde, wenn er sie übertrumpfen würde. Keines von ihnen sagt etwas über die Existenz eines palästinensischen Volkes, geschweige denn dass es irgendwelche Rechte über das Land besitzen könnte. Gott verhindere es! (buchstäblich!)
UM MEHR zu sein als nur ein zerbrechlicher Waffenstillstand, benötigt Frieden Versöhnung. Sieh Mandela. Versöhnung ist unmöglich, wenn beide Seiten das Narrativ der andern Seite, ihre Geschichte, ihren Glauben, ihre Vorstellungen und Mythen total ignorieren.
John Kerry benötigt keine 160 oder 1600 Experten, neutrale oder anders Geartete . Er braucht einen guten Psychologen oder vielleicht zwei.
Man kann leicht die Gefühle einer Mutter verstehen, deren Sohn von einem palästinensischen Militanten getötet wurde. Wenn man versucht, kann man auch die Gefühle einer Mutter verstehen, deren Sohn von seinem Führer den Befehl bekam, Israelis anzugreifen, und der nach 30 Jahren Gefängnis zurückkehrt.
Nur wenn die amerikanischen Vermittler neutral oder andersartig sind und beide Seiten verstehen, können sie versuchen, den Frieden zu fördern.
03-01-2014, Uri Avnery, Tel Aviv, übersetzt von Ellen Rohlfs.
Roland Kaufhold
Am 27.8.2008, verstarb 81-jährig Abie Nathan – einer der außergewöhnlichsten, originellsten, eigensinnigsten, wagemutigsten, aber vielleicht auch einsamsten Stimmen der israelischen Friedensbewegung.
Seinen mit „Der einsame Reiter“ überschriebenem Nachruf auf seinen so ungleichen Mitstreiter leitet Uri Avnery mit den Worten ein: „Bei der Beerdigung Abie Nathans sagte ich mir: hier nimmt das Israel, so wie es ist, Abschied vom Israel, wie es hätte sein können. Abschied vom Idealbild eines Staates, von dem wir träumten, als er gegründet wurde; von einem Staat, in dem moralische Überlegungen die Innen- wie Außenpolitik beherrschen; von einem Staat, dessen Bürger für ihre Taten und die Taten des Landes die Verantwortung übernehmen. Abie Nathan symbolisierte diese Hoffnungen, nicht theoretisch, sondern praktisch – durch seine eigenen Taten.“
1966 erlangte Abie Nathan – der in Persien geboren wurde – durch seinen Flug nach Kairo internationalen Ruhm, zeitlebens kämpfte dieser charismatische Einzelkämpfer für Frieden und Gerechtigkeit. Der von ihm weitgehend in Einzelinitiative gegründete Piratensender „The Voice of Peace“ – er wurde von einem Schiff aus betrieben, welches jahrelang vor der Küste Tel Avivs lagerte – wurde in Israel zu einer legendären, maßgeblichen Stimme, sprach mit seinen Musik- und Wortbeiträgen vor allem die junge Generation an und wurde zu einem Teil des israelischen Lebens. Als das Projekt aufgrund äußerer Zwänge ein Ende finden musste sprengte Abie Nathan in einer feierlichen Zeremonie sein Schiff.
Uri Avnery beschließt seinen Nachruf so: „All diese Aktionen, die seiner phantasiereichen Gesinnung entsprangen, hatten eines gemeinsam: sie forderten persönlichen Mut, Selbstvertrauen, Phantasie und die Gabe der Improvisation und vor allem Empathie mit dem Leiden anderer und dem unbändigen Wunsch zu helfen.Einmal sagte jemand zu mir: ‚Aber Abie ist doch verrückt!‘
‚Besser verrückt nach Frieden, als verrückt nach Krieg!‘ war meine Antwort.“
Werter Herr Avnery,
meine Meinung zu Ihnen ist: Sie sind kein jüdischer Israeli.
Mein Rat ist: Nehmen Sie Ihren früheren Namen „Helmut Ostermann“ wieder an und gehen Sie zurück nach Deutschland, dort werden Sie vielleicht ein paar offene Ohren finden.
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