Noemi Waysfeld: Verborgene Schätze der jüdisch-russischen Seele

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Jede Musikkultur hegt und pflegt ihre Klischees. Doch genauso bringt sie auch immer wieder großartige, wagemutige Künstler hervor, die die Karten neu mischen, Stereotypen beerdigen und mit einer frischen, individuellen Sprache agieren. Eine solche Akteurin ist die charismatische Sängerin Noemi Waysfeld, die von Paris aus mit ihrem Quartett Blik die Klänge ihrer Kultur neu eicht. Jüdisches Erbe und die Lieder sibirischer Gefangener formt die Newcomerin mit Elementen aus Dichtung und Theater zu einem erschütternden Kosmos aus Hoffnung, Humor und Leidenschaft -und verleiht auf diese Weise einer vergessenen Klangwelt funkelnde Relevanz…

Die 1984 in Paris geborene Noemi Waysfeld ist prädestiniert, um Ausschau nach ungewöhnlichen musikalischen Ufern und Brücken zu halten. Von klein auf ist sie mit Klassik, Jazz und jüdischer Tradition vertraut, beginnt als Kind bereits zu singen und Violoncello zu spielen. Wenig später betritt sie, angeführt von der Schauspielerin Maria Laborit, die Welt des Theaters. Fortan ist sie, parallel zu ihrem Abitur mit Abschluss in Literatur, auf der Bühne zuhause, setzt ihre Studien bei Pauline Macia („Leben wie Gott in Frankreich“) fort und wird am Conservatoire Superieur d’Art Dramatique angenommen. Sie glänzt in verschiedensten Rollen, unter ihnen „Lettre ä“, eine Inszenierung von Benoit Richter, außerdem unterrichtet an der Maison de la Culture Yiddish.

Ihre ebenso große Liebe neben dem Schauspiel bleibt jedoch die Musik, und hier schält sich ihr 2008 gegründetes Quartett Blik schnell als Dreh- und Angelpunkt heraus. Seine Spezialität: Das Entdecken unbekannter Facetten im traditionellen jüdischen Liedfundus. Mit Blik ist Noemi Waysfeld nun nicht nur zu einer Erkundung der jiddischen und russischen Vergangenheit aufgebrochen, sondern auch auf eine Reise zu ihren eigenen Wurzeln, den Sprachen ihrer Vorfahren, die sie selbst nicht mehr beherrschte: „ Ich musste sie neu erlernen. Meine Eltern sind russischer, baltischer und polnischer  Herkunft. Ich begann Russisch in der Oberstufe zu lernen und Jiddisch danach an der Universität“, erzählt sie der Liberation. Die Brücke zwischen den beiden fokussiert sich für sie zunächst auf einen Namen und seine Geschichte: Dina Vierny.

Die gebürtige Moldawierin und jüdische Russin Vierny, einstige Muse und Modell des Bildhauers Aristide Maillol und Kämpferin der Resistance, hatte im Moskauer Untergrund Lieder der Gulag-Gefangenen aus der Stalin-Ära kennen gelernt, die sie 1975 auf einer berühmten Schallplatte versammelte. Es ist genau jene Schallplatte namens „Songs Of The Siberian Prisoners of Today“, die Noemi Waysfeld wie ein klingender Archetyp seit der Kindheit begleitet haben. Lieder, die zum Allgemeingut der russischen Folklore gehören, Lieder voller Schönheit der Sprache, voll Humor, Verzweiflung und Gewalt, die mit der Poesie eines Frangois Villon, Aristide Bruant und Bretold Brecht verwandt sind. Gesänge, in denen Brutalität auf Zärtlichkeit trifft, in denen die Distanz zwischen dem Gefangenen und den Orten seiner Sehnsucht wie in einem Schwalbenflug überbrückt wird.

In einem atemberaubenden schöpferischen Akt hat Noemi Waysfeld für ihre Debüt-CD und ihr Bühnenprogramm „Kalyma“ die Interpretationen Viernys ins Jahr 2012 übertragen. Und damit nicht genug: Sie koppelt sie zugleich mit jiddischen Chansons, die von einer vergleichbaren Erfahrung, einem ganz ähnlichen Lebenston erzählen: dem von Misere, Schmerz, Gefängnis und Nostalgie, aber auch von Hoffnung, Frieden und Freiheit. Dabei hat sie ein Repertoire geformt, das so gar nichts mit den überkommenen Klezmer-Klischees der Nachkriegsära zu tun hat, und ebenso wenig mit den radikalen Experimenten der New Yorker Tzadik-Szene: Vielmehr vereint sie Jazzattitüde mit Shtetl-Hinterhof, Orientalismen und Mediterranes mit dem Blues der sibirischen Steppen.

Dabei verfügt sie mit ihrer Stimme über ein begnadetes Transportmittel. Wenn Waysfeld ihren samtenen Alt erhebt, spüren wir die Bühnensouveränität einer Barbara, die Wehmut slawischer Nomaden, die chansoneske Attitüde eines Georges Brassens und die wendige Phrasierung großer afroamerikanischer Sängerinnen. Dieser Alt, viel reifer als man ihn einer 27jährigen zuschriebe, deklamiert resolut, zieht sich zärtlich-innig zurück, setzt auch mal die Unschuld eines Kindes auf, und verfügt so über die immense Klaviatur von Gefühlslagen zwischen Nostalgie, Klage, Bitterkeit und Überschwang, Lebenstrotz und Exstase.

Kongeniale Unterstützung findet Noemi Waysfeld in ihren drei Mitstreitern von Blik: Akkordeonist Thierry Bretonnet, Schüler von Marcel Azzola, versiert von Musette über italienische Folklore und Reggae bis hin zu improvisierter Musik, lässt sein Tastenspiel virtuos wirbeln, spannt Melodien mit weitem Atem, nimmt sich auch mal delikat hauchend, fast wispernd zurück. Über ein weites Spektrum von klassischer Gitarre bis zu den Traditionen der Roma musiziert Florent Labodiniere, der mit seinen erfindungsreichen und zugleich einfühlsamen Begleit- und Solo-Passagen auch mühelos auf die Bouzouki und die arabische Laute Oud umsteigen kann, die er in Marokko und der Türkei studierte. Antoine Rozenbaum schließlich, Co-Gründer von Blik, ist für das verlässliche Bassfundament zuständig, das auf einem breiten Sockel aus klassischer Musik und Jazz gründet. Ein Konzert von Blik ist zudem ein Gesamtkunstwerk, das über den Klang hinaus mit einer fein abgestimmten Licht-Choreographie aufwartet.

„Noemi Waysfeld profitiert von ihrem jiddischen Hintergrund, um die Gesänge der Shtetl und der sibirischen Gefangenen mit jugendlichem Feuer einen neuen Besuch abzustatten“ (L’Express)

„Unter dem sichtbaren Einfluss des Charmes ihrer hübschen Sängerin wetteifern die Musiker wagemutig in diesen Liedern, die zum Tanzen und Weinen bringen, Lieder, die geformt sind von der Seele des Sklaven, vom Jazz, von der mediterranen Sphäre und der jiddisch-russischen Folklore.“ (Lylo)

In dieses jüdisch-russische Repertoire einzutauchen, heißt, einen Taumel von Gefühlsschwankungen zu erleben: Da ist das Titelstück, das in einem bitteren Walzer von der Ankunft in der sibirischen Taiga erzählt, und von der Gewissheit, dass die Lieben daheim den Gefangenen vergessen werden. Ähnlich wiegender Schmerz kommt in „Beiz“ zum Ausdruck, eine wehmütige Erinnerung an das einstige Heimatdorf und die damit verbundenen Kindheitserlebnisse. Von einem zarten Cellogesang des Gastes Sonia Wieder Atherton ist „Bobenyu“ durchwirkt. In die Hoffnung auf die Wiederkehr des Messias von „Shnirele Perele“ sind orientalische Mosaiksteine eingefügt, die Klarinettenstar David Krakauer mit furiosem Feuer koloriert. In „Odessa“ betreten wir die Halbwelt der Banditen, die Waysfeld mit theatralischer Grandezza skizziert, ebenso wie das Tagebuch des Schwindlers „Avreml“, ein dramaturgisches Highlight des gesamten Albums. „Unter Dayne Vayse Shtern“ schließlich ist eine tief berührende, verzweifelte Gottessuche, die ihre Steigerung nur in der Bitterkeit der verbotenen „Lesbischen Hochzeit“ findet. Waysfeld zelebriert sie mit dem aufbegehrenden Trotz einer Internierten, die nichts mehr zu verlieren hat.

Die Erfahrung von Exil und Gefängnis, von Heimweh und Sehnsucht ist eine universelle, wie Noemi Waysfeld schließlich auf der Bühne zeigt: Dort erweitert sie ihr Repertoire bis hinein in den Fado: „Für mich zeigen der Fado- wie der jiddische Gesang die gleiche innere Zerrissenheit,“ erklärt sie. „In jenen beiden Gattungen Gemeinsamkeiten zu finden, hat nichts Absurdes an sich. Die Marranen (Neuchristen, die das Judentum im Lissabon des 19. Jarhunderts weiter versteckt praktizierten) waren zur Geburtsstunde des Fado zahl- und einflussreich.“ Und die konzentrischen Kreise der Pariserin schlagen noch weitere Wellen. Judäo-iberisches Liedgut und den Tango hat sie bereits auch ihrem künstlerischen Horizont hinzugefügt. Noemi Waysfeld könnte sich rasch zu einer der großen Stimmen des frühen 21. Jahrhunderts aufschwingen. Eine Stimme, die aus der Tiefe der Vergangenheit verschüttete Welten emporhebt und sie mit Akribie wie auch mit tiefem Seelenempfinden zu neuem Leben erweckt.