Wer ist denn der neue Mieter“, fragte die Reinemachefrau Frau Hanke, als sie mit Frau Professor Hegel, der Witwe des großen Philosophen, die Stube betrat…
„Das ist ein Doktor Henle, ein Freund und der Prosektor von dem Professor Müller, der über uns wohnt. Der Herr Professor hat ihn uns empfohlen und gesagt, der junge Herr sei ein anständiger Mensch. Die Eltern wohnen in Koblenz, sind wohlhabende Leute, und schicken dem Sohn immer noch Geld. Sie sind gebildet, wenn auch Juden oder getaufte Juden. Und der Professor Müller hat an ihm einen Narren gefressen. Wie der Herr Doktor gestern an die Türe kam, schrie der Professor zur Begrüßung: ,Meines Herzens Henle‘, und dabei ist der Herr Professor sonst so still und zugeknöpft wie nur irgendeiner.“
In diesem Augenblick ging die Klingel. „Madame“, hörte Frau Hanke eine Stimme im Vorplatz, „inkommodieren Sie sich bitte nicht. Ich habe bereits gefrühstückt.“
In die Türe trat ein junger Mensch mit hoher Stirn und kräftigen Augenknochen, einem gut geformten Mund, an dessen Winkeln ein leichtes Zucken sich bemerkbar machte. War es ein unterdrücktes schalkhaftes Lächeln, das sich dort verriet, oder war es nur ein zufälliger Zug, der durch die breite Narbe, die über die ganze Wange ging, bedingt war?
Leicht grüßend schritt der Gast durch das Zimmer und pfiff einen Wiener Walzer. Der Doktor machte das Fenster auf und rief einem Kutscher, der auf einem Wagen große Kisten anfuhr: „Bringen Sie die Bücher hier herauf.“
Erstaunt sah sich Frau Hanke den jungen Doktor an. Einen Wagen Bücher schleppte der mit sich herum. Sie hatte genug junge Herren gekannt und bedient, die mit einem Haufen Anzüge, aber nicht mit soviel Büchern umgezogen waren. Zu dritt öffneten sie die Kisten; neugierig sah sie in einzelne dickleibige Bände. „Hierher kommen die deutschen Bücher, in den anderen Schrank die französischen, englischen, italienischen, dänischen“, erklärte ihr der Herr Doktor.
„Das alles müssen Sie lernen?“
Frau Hanke dachte an den Herrn Professor Hegel, der früher einmal in diesem Zimmer seinen Schreibtisch gehabt hatte. Das war auch so ein kluger und „gelernter“ Mann.
„Nein, liebe Frau, die fremden Bücher sind nur meine Bücher zur Unterhaltung. In den zwei Kisten nebenan sind meine medizinischen Werke.“
Es dauerte noch geraume Zeit, bis die Bücher ausgepackt waren, dann entfernte sich der Herr Dr. Henle, um zur Anatomie zu gehen.
Er war in einer feierlichen Stimmung. Am Morgen hatte er einen Brief von Dr. A. Hueck, dem derzeitigen Dekan der medizinischen Fakultät in Dorpat, erhalten. Man bot ihm die Professur für Physiologie und Pathologie an, also für zwei Fächer, die damals noch oft von einem Dozenten gelehrt wurden. Zeitweise müsse er allerdings auch noch Zoologie lesen, da es dafür keinen Professor gab.
Hueck schrieb: „Das Gehalt beträgt 1600 Taler, die Kollegiengelder 300—450 Taler. Außerdem wird noch die Reise bezahlt. Nach 25 Jahren wird jeder Professor mit vollem Gehalt entlassen, das er als Pension bis an sein Lebensende, wo er will, verzehren kann.“ Auch im übrigen entwarf der Briefschreiber ein recht sympathisches Bild von den Verhältnissen, die Henles warteten.
Das war für einen jungen Arzt eine angenehme Kunde. Henle hatte nun einen Trumpf gegen das Ministerium in der Hand, das seiner Bewerbung um die Dozentur noch ablehnend gegenüberstand. Jetzt aber schien ihm das Spiel gewonnen. Ein Mann, dem eine andere Universität eine Professur anträgt, würde doch wohl wert sein, wenigstens Privatdozent in Berlin zu werden.
Als an diesem Vormittag Henle die Anatomie betrat, begegnete ihm sein Kollege, der Prosektor Schlemm. Schlemm übersah sichtlich gewollt den Gruß des jüngeren Kollegen. Aha, dachte Henle, er hat Nachricht von der ungünstigen Einstellung des Ministeriums zu meiner Habilitation. In diesem Augenblick schoß ihm das Blut zum Kopfe. Schlemm war ja auch der Mann, der ihn vor zwei Jahren in der Prüfung in der Anatomie so hereingelegt hatte. Schlemm kannte ihn genau und wußte, daß er seit Jahren bei dem genialen Professor der Anatomie in Bonn, Müller, famuliert und eigene Arbeiten gemacht hatte. So konnte er auch das komplizierte Nervenpräparat, das ihm Professor Schlemm als Examensaufgabe übertragen hatte, in wenigen Stunden anfertigen. Fürwahr ein wohlgelungenes Stück, wie er dachte. Aber Schlemm sah den etwas zu siegesfreudigen Examenskandidaten unwillig an und sagte: „Sie meinen wohl, Sie imponieren mir, wenn Sie Ihr Präparat im Eiltempo fertigstellen. Sie hätten besser überall das störende Fett wegnehmen können; die Muskeln haben Sie gar nicht herausgearbeitet. Auch bei einem Nervenpräparat muß man die Muskelanordnung gut übersehen.“
Das war eine Abfuhr, die er nicht verdient zu haben glaubte. Die großen Naturwissenschaftler in Paris, Cuvier, Geoffroy und alle anderen, hatten seine Präparierkünste gelobt, als er, noch ein Student, in Begleitung von Müller Frankreich besuchte. Humboldt hatte seine Arbeiten und Zeichnungen in Paris angesehen, mit ihm ein familiäres Gespräch geführt und ihm fünf Franken auf den Tisch gelegt als Dank für alles, was er ihm gezeigt hatte. Nun bekam er in Anatomie die Note gerade noch genügend, in einem Fach, in dem er Karriere zu machen hoffte. Das ganze Staatsexamenzeugnis war ihm, wie er sagte, dadurch versaut; statt zu einer Eins, reichte es in der Gesamtnote nur zu einer Zwei. Und wenn nicht der Zufall seinen Freund Müller aus Bonn auf den verwaisten Lehrstuhl der Anatomie gebracht hätte, wer weiß, ob er nicht auf dies geliebte Fach hätte verzichten müssen.
Unwillig sah er Schlemm nach, der im Präpariersaal verschwand. Es schien auf einmal, als ob sich das Schicksal gegen ihn zu verschwören begann. Wie er die Treppe hinaufgehen wollte, verspürte er einen körperlichen Schmerz. Eine alte Knochenerkrankung des Beines, die sich fast jährlich einstellte, meldete sich mit einem Krampfanfall im Bein.
Stöhnend schleppte er sich zu einem Wagen und fuhr in seine neue Wohnung zurück. Da lag er dann drei Wochen im Bett, in welcher Zeit einzelne Knochenstücke herauseiterten. Danach überfiel ihn ein leichter Typhus, ein gastrisches Fieber, wie man es damals nannte.
Er war davon noch nicht lange Zeit genesen, da pochten am 2. Juli 1835 früh um 5 Uhr drei Polizisten an das Haustor und kamen mit geladenen Gewehren in die Wohnung. Notdürftig bekleidet mußte Henle den Dienern des Staates folgen. Die Straße war in dieser Stunde menschenleer; so sah auf dem kurzen Wege keiner seiner Bekannten, wie der Assistent des Anatomischen Instituts als Hochverräter in die Hausvogtei geschleppt wurde.
Hier im Gefängnis konnte er sich Gedanken philosophischer Natur machen. Was war das für eine komische Welt. Gewiß, als er bald nach seiner Reifeprüfung von Koblenz noch Bonn gekommen war, hatte er sich auf zwei Semester der Burschenschaft angeschlossen. Hier hoffte er einen Kreis ideal gesinnter, treu deutscher Kommilitonen anzutreffen, Freundschaft und vaterländische Gesinnung zu pflegen. Und so nahm er auch die Mensuren in den Kauf, die ihm albern vorkamen. Und diese innerliche Abneigung wurde durch das Pech verstärkt, das er dabei hatte. Bei einer siegreichen Mensur stieß er sich selbst die Spitze des Schlägers in den Fuß. Bei einer anderen Mensur wurde ihm die Wange derartig zerschlagen, daß er wochenlang einen Verband tragen mußte.
Bei näherer Bekanntschaft mit dem Betrieb in der Verbindung war der Herr Studiosus selbst wenig entzückt über die Unverfrorenheit, mit der ihn die Bundesbrüder wirtschaftlich ausnutzten; ihretwegen saß er immer in Schulden. Keine der angeknüpften Freundschaften war von Bestand.
Die Begeisterung für das deutsche, biedere und treue Wesen, wie es Henle in diesem Kreise kennenlernte, kühlte sich merklich ab. Da die Burschenschaft ohnedies wegen einer Differenz mit der Universität aufgelöst wurde, war Henle nach etwa einjähriger Zugehörigkeit wieder frei. Das war 1828 gewesen. Sieben Jahre später hatte man seine Moritat ausgegraben, als er nichtsahnend um seine Habilitation nachgekommen war. Die Polizei Bonn hatte es nachträglich noch in Erfahrung gebracht und dem anfragenden Ministerium über seine Konduite mitgeteilt.
Nun saß der Schwerverbrecher dafür bei schmaler Gefangenenkost zwei Wochen von der Welt abgeschnitten. Der Häftling trug sein Mißgeschick mit Ruhe. Sagte doch der Türhüter der Hausvogtei, als sein Schwager später einmal einen anderen politischen Gefangenen besuchte, von Henle: „Das ist eine gute Seele. Wie wir den hier vermissen, können Sie sich nicht vorstellen. Könnten wir ihn nur wieder hier haben“.
Die Freunde setzten, nachdem sie seine Inhaftierung erfahren hatten, Himmel und Hölle in Bewegung. Besonders der ihm befreundete Chemiker Gustav Magnus wußte die Öffentlichkeit aufzurütteln. A. von Humboldt, wohl der humanste Geist Preußens in der Zeit des Vormärz, gelang es, sogar den Minister für Henles Schicksal zu interessieren, so daß zuerst seine Haft wesentlich gemildert wurde. Drei Tage nach beendigtem Verhör, am 28. Juli 1835 verfügte das Kammergericht, insbesondere auf viele Eingaben des Bankiers Magnus, die vorläufige Freilassung.
Tags darauf fuhr A. von Humboldt mit gallioniertem Diener am Kupfergraben vor, um durch seinen Besuch die Teilnahme der Welt an seinem Schicksal zu demonstrieren. Aber ein Unglück kommt selten allein. Die Berufung nach Dorpat war ins Wasser gefallen; einen Demagogen konnte man in Rußland nicht gebrauchen. An die Habilitation war jetzt überhaupt nicht zu denken, und sogar die Prosektorstelle ging verloren. Dazu schwebte das Hauptverfahren noch anderthalb Jahre wie ein Damoklesschwert über seinem Haupte, da sich die Urtilsver-kündigung bis zum 5. Januar 1837 hinzog. Das Verdikt lautete auf sechs Jahre Festung, Kassation und Unfähigkeit, staatliche Ämter zu bekleiden. Und all das für die Teilnahme an einem Kreis, der bei Bier und Bockwurst den Tyrannen ein Pereat ausbrachte oder sich ewige Treue schwur, um schon beim nächsten Kartenspiel heftigst aneinanderzugeraten. Wenn wir von dem Studentenulk hören, den die jungen Herren in Bonn getrieben haben, dann nimmt sich ihre Gefährlichkeit lächerlich aus. Für die Politik waren diese jungen Leute wirklich harmlose Herrschaften. Vor allem war der angeklagte Henle zeitlebens eine nicht allzu stürmische Seele. Vielleicht, wenn er an den öffentlichen Vorgängen mehr Interesse gewonnen hätte, würde er in dieser Zeit nicht die Sammlung gefunden haben, auf seinem Fachgebiet so umfassende, zeitraubende Arbeit zu leisten. Innerlich bewegte ihn das Problem der politischen Entwicklung viel weniger. Die kurze Jugenddrangzeit lag schon hinter ihm weit in der Ferne, als sich die preußische Polizei seiner angeblichen Gefährlichkeit erinnerte.
Ihn quälte manch anderer Gedanke, wie z. B. der, Geld zu erlangen, um ein Mikroskop kaufen zu können. Achtzig Taler mußte er dazu haben, überdies lieferte es der Opticus erst ein halbes Jahr später.
In diesen Jahren erscheinen seine ersten großen medizinischen Arbeiten. In einem Semester hat er mit Müller zusammen 32 Bogen wissenschaftlicher Abhandlungen neben kleineren Aufsätzen geschrieben. Eine größere Arbeit, die er dann doch als Habilitationsschrift einreicht, nachdem ihm Freunde die Begnadigung erwirkten, klärt das Wesen der Haut bzw. der Schleimhaut. Von Henle stammt die ganze Erkenntnis der Art der Haut, die Einteilung in Pflaster, Zylinder, Flimmerepithel. Vor ihm bestand über die Form der Haut nur eine mystische Vorstellung. Daher war für seine Zeit die Entdeckung des Zylinderepithels im Darm eine Großtat, die allgemeines Aufsehen erregte.
So war es kein Zufall, daß sich Zürich an Henle wandte und ihm einen Lehrstuhl anbot. Die eben ans Ruder gekommene konservative Regierung hatte für die reichsdeutschen Dozenten nicht viel übrig, man sah überhaupt die Invasion der freiheitlichen Deutschen, die in ziemlich großen Scharen in die Schweiz flüchteten, höchst ungern. Aber Valentin in Bern hatte Henle aufs wärmste empfohlen, und so versprach man sich von dem jungen Forscher recht viel.
Für Henle war inzwischen in Berlin nach vielen Schwierigkeiten seine Zulassung zur Privatdozentur erwirkt; der Minister Altenstein hatte seine ablehnende Entscheidung zurückgezogen und seine Zustimmung gegeben. Bei seiner Qualifizierung bei der hohen Obrigkeit schwante ihm nichts Gutes für die Zukunft. Einmal war er den preußischen Schergen entronnen. Jetzt gab er Berlin gern für eine Professur in Zürich auf.
Zwar verließ er viele und gute Freunde, aber ihn verlangte es, Anerkennung zu finden, ein Institut sein eigen zu nennen, als Professor die Studenten zu unterrichten.
1840 im Herbst kommt Henle nach Zürich. Sein Professorengehalt beträgt 2200 Franken, die Vorlcsungsgeldcr der wenigen Studenten der auch erst 1833 gegründeten Universität sind nicht beträchtlich. Für das Anatomische Institut stehen 1000 Franken pro Jahr zu Ausgaben extraordinärer Natur zur Verfügung, die Hälfte geht sofort für ein Mikroskop weg. Aber er hat wenigstens eine gut bürgerliche Position, er hat sein Ziel erreicht.
Der persönlichen Einsamkeit müde, hält er jetzt nach einer Gefährtin Ausschau. Doch hierbei hat er zunächst weniger Glück. Schon in Berlin kam er mit einer Bewerbung im Hause Mendelssohn zu spät. In Zürich bekommt er ein böses Refus. Denn seine Bewerbung diente der Angebeteten nur dazu, um einen lau gewordenen Liebhaber zu fesseln. Er ist so verzweifelt, daß er sich das Leben nehmen will.
Die Mißerfolge mögen es zum Teil verständlich machen, daß schließlich Henle von dem Gruß eines simplen Kindes aus dem Volke beglückt ist. Auerbach hat den Roman seines Lebens geschildert. Es ist wirklich ein eigenartiger Vorgang, wie sich der gebildete Forscher hingezogen fühlt zu einem absolut primitiven Menschen. Seine Freunde erklärten diese Liebe aus seiner romantischen und sentimentalen Sinnesart. Dieses Naturkind war die 23jährige Elise Egloff, die er als Kindermädchen bei einer bekannten Familie häufig sah.
„Meine Lisette war ein liebes und plauderhaftes Gretchen; ich war zum Faust gelehrt und gereift und wenigstens für diesen Fall bezaubernd genug. Aber Mephistopheles fehlte und so passierte mir das Lächerlichste, was einem Kavalier von Welt in solchem Verhältnis begegnen kann: ich interessierte mich nicht bloß für die Schönheit, sondern auch für die Seele des Mädchens . . „Die fröhlich geschlossene Bekanntschaft“, so hat er selbst bekannt, „wurde nunmehr eine reiche Quelle von Tränen für sie und von Zweifeln und Beklemmungen für mich.“
Schließlich nach längerem Hin und Her beabsichtigt Henle, seine heimliche Braut in einem Mädchenpensionat die Umgangsformen erlernen zu lassen. 1844 bringt er sie in ein solches, unter der Vorspiegelung, sie wäre die Enkelin einer Bekannten, die Mutter verschollen, sie selbst endlich ausfindig gemacht, sollte nun der guten Gesellschaft wieder zugeführt werden . . .
Henle, der indeß einen Ruf nach Heidelberg angenommen hatte, quälte die Verschlossenheit der Gesellschaft, die gegen eine wenig standesgemäße Heirat Front machte. Der Zufall wollte es, daß er bald eine Ansprache halten konnte vor den Studenten, die ihm ein Ständchen brachten: „Möchte bald die Zeit kommen, wo auf allen Universitäten der Professorenhochmut, der Gelehrtendünkel, der Kastengeist verschwunden ist und freimütige, tatkräftige Lehrer die Lehrstühle einnehmen.“
Henle war ein gefeierter Mann geworden. Acht gelehrte Gesellschaften hatten ihn zum Ehrenmitglied oder Korrespondenten gewählt, die Regierung ihn zum Hofrat ernannt, der Ruf seiner Entdeckungen ging durch die Welt. Ein Naturforscher in Venezuela nannte eine neuentdeckte Pflanze Henlea, amerikanische Professoren suchten ihn auf. Hier in Heidelberg wagte es Henle zu heiraten, seine hübsche kleine Elise heimzuführen. Auf der Hochzeitsreise fiel sie im Weimarer Theater durch ihre Schönheit dem Großherzog auf, so daß er sich nach ihrem Namen erkundigte. Henle freute sich, der Gatte einer solchen blendenden Erscheinung zu sein. Aber das Glück dauerte nicht lange. Mehrere Schwangerschaften kurz hintereinander ließen eine schon dräuende Tuberkulose rasch überhandnehmen. Einer Entbindung im Anfang des Jahres 1848 folgte bald darauf am 21. Februar ihr Tod. Die Unkenntnis von der Gefährlichkeit gehäufter Schwangerschaften bei Lungenleiden, hat der unglücklichen jungen Frau das Leben gekostet. Es ist tragisch, daß der große Arzt auf Grund des Standes der damaligen Wissenschaft von diesen Zusammenhängen keine Ahnung hatte.
Inzwischen war das tolle Jahr 1848 angebrochen; Henle, der für einen gemäßigten Fortschritt schwärmte, saß zwischen zwei Stühlen. Der Jugend, den Arbeitern, den Revolutionären war er zuwenig radikal, der konservativen Geheimratsclique galt er als verdächtiger Liberaler. Die Stimmung gegen ihn brach einmal durch, als bei dem Neubau der Anatomie sein Kollege Tiedemann, empört über eine Kritik Henles an einer Umänderung, die Tiedemann im Bau vorgenommen hatte, ihn der Lüge zieh und erklärte, die Juden seien immer die unverschämtesten. Henle fühlte sich zwar nicht mehr als Jude. Später schrieb er einmal sogar seinem Freunde Pfeufer, als Berlin ihn zum Ordinarius nehmen wollte, daß es ihn „nicht locke, wenn dort hundert Judenkehlen sich beeifern würden, meine technischen Ausdrücke ,medianwärts, sagittal‘ usw. zu lispeln und mir zum Ekel zu machen“. Obwohl ihn oft getaufte Juden, wie Felix Mendelssohn, Magnus, Bendemann anzogen, hatte er keine jüdischen Interessen. Trotzdem wollte es das Schicksal, daß gerade in Augenblicken, wo seine Gegner nichts anderes gegen ihn ins Feld führen konnten, sie ihm hämisch seine jüdische Abstammung vorhielten.
Die Mutter, die er so sehr verehrt hatte, Sofie Diespeck, war die Tochter eines angesehenen Rabbiners aus Baiersdorf gewesen, also aus der Fürther Umgebung, wo die Henles herstammten. Die Henles hatten für ihre jüdische Herkunft nicht immer ein besonders gutes Gedächtnis. Manche von ihnen, die zu hohen bayrischen Staatsstellen, zum Bischofsstuhl sogar gelangten, legten keinen Wert auf die Feststellung ihres Ursprungs. Für die Vererbungswissenschaft ist nicht uninteressant, zu erfahren, daß die Eltern Henles Verwandte waren, der kaum fünf Fuß große und drei Jahre jüngere Bewerber der Sofie Diespeck ist ihr Vetter gewesen. Er hat im Jahre 1821 mit dem damals 13 jährigen Sohn Jakob, der Frau Sofie und den drei Töchtern den Übertritt in die evangelische Kirche vollzogen, ein Akt, an den man nicht gerne mehr erinnert sein wollte, weil er allzusehr im Widerspruch zu den Traditionen des Rabbinerhauses Diespeck stand. Aber der Einfluß der christlichen Umwelt war ursprünglich so groß, daß Jakob Henle auf der Schule jahrelang in Erwägung zog, Geistlicher zu werden. Die Beschäftigung mit der Medizin wandelte allerdings seine religiöse Überzeugung.
Von Heidelberg ließ der König von Hannover Henle nach Göttingen berufen. 1852 schied der Gelehrte aus einer herrlichen Gegend, von der er nur bedauerte, „daß sie nicht von besseren Menschen bevölkert ist, und wollte lieber mit etwas Sand und Wiesen fürliebnehmen, um einmal wieder unter wissenschaftlichen Kollegen und unter einer Regierung zu leben, der man sich durch Eifer für die Anstalt, der man angehört, nicht widerwärtig macht“.
Die Berufung hatte eine merkwürdige Vorgeschichte. Der König von Hannover empfing auf einer gelegentlichen Durchreise in Heidelberg den Besuch von dem zufällig ebenfalls durchreisenden Göttinger Pathologen Wagner, mit dem er religiöse Gespräche führte. Der König war von der orthodoxen Einstellung Wagners überaus sympathisch berührt, verwechselte aber Wagner mit Henle, so daß er in Henle einen Mann besonders streng christlicher Gesinnung vermutete. Diese Verwechslung wurde durch die Blindheit des Königs bedingt.
Henle wurde also nach Göttingen berufen und stellte sich nach einiger Zeit im Talar mit weißer Halsbinde dem blinden König vor. Als Majestät nun auf die Deisten räsonnierte, versicherte Henle, er habe auch nicht viel vom Deismus gehalten. Auf seine Aufforderung, als Professor der Anatomie in den Vorlesungen zur Verbreitung christlicher Gesinnung hinzuwirken, machte ihn Henle, wie er in einem Brief an einen Freund schreibt, „glücklich“ mit der Bemerkung, er habe stets seine Zuhörer auf die Lücken menschlicher Einsicht hingewiesen. „Wenn ich mir nun damit etwa den Guelfenorden an den Hals oder an das Knopfloch geredet habe, so kannst du glauben, daß ich ihn mit Erröten anlegen werde. Se. Majestät benutzte sodann die Gelegenheit, um sich über den Nutzen des menschlichen Blinddarmes aufklären zu lassen, und wir waren in dieser merkwürdigen Privataudienz gerade bis zu den Eingeweidewürmern gekommen, als der Hofmarschall meldete, daß die Suppe aufgetragen sei.“
Dreiunddreißig Jahre lehrte Henle in Göttingen, das er bei seiner Ankunft als ein stilles Universitätsstädtchen kennengelernt hatte.
„Bei aller Gelehrsamkeit (des Ortes) fehlt es den Straßen nicht an Ländlichkeit, des Morgens geht der Hirt mit einem Horn durch die Stadt und dann kommen aus allen Häusern Kühe herausspaziert, um auf der Marsch zu weiden, und nachmittags gehen sie ganz gemütlich wieder heim.“
Kaum ein Haus war vorhanden, in dessen Hof der Schweinestall fehlte. Alle Professoren und auch Professor Henle feierten jährlich ein Schlachtfest. Fernab von der Eisenbahn konnte man in Göttingen in klösterlicher Einsamkeit leben. Die Schreibstubenstille Göttingens gab gute Gelegenheit zur Sammlung und zum Schaffen.
Der „alte Jakob“, wie ihn die Studenten nannten, arbeitete zwar noch mit den einfachsten Mitteln, erst seinem Nachfolger war es beschieden, ein gut ausgestattetes Institut zu bekommen.
In Göttingen konnte Henle als eine anerkannte Autorität, die nicht einem anderen Professor beigeordnet war, sich voll auswirken. Auf die Studenten hatten seine Vorlesungen stets schon großen Einfluß ausgeübt. Kein Geringerer als Gottfried Keller hat die starke Nachwirkung der Vorträge, die Henle in Zürich hielt, durch allgemeine Aufzeichnungen festgehalten. In Heidelberg besuchte er seine Vorlesungen und schildert seine Eindrücke im letzten Band des „Grünen Heinrich“, indem er der Beherrschung des Wortes, der Kunst des Vortrags, dem Geist und Witz des Inhaltes jedes Lob zollt.
Aber nicht in der Ausbildung und in der Anregung erschöpfte sich seine Bedeutung. Seine Größe beruht in der erfinderischen wissenschaftlichen Tätigkeit. Fast jedes Kapitel der allgemeinen und speziellen Anatomie verdankt ihm wesentliche Bereicherung. Darüber hinaus hat er auf anderen medizinischen Gebieten einen genialen Blick bewiesen, so wenn er bereits 1840 den parasitären Ursprung der Infektionskrankheiten verfochten hat. Die kleine Arbeit, in der er diese These aufstellte, ist zwei Menschenalter später nochmals aufgelegt worden, ein Beweis, wie wichtig sie noch der Nachwelt erschien. Das Biographische Lexikon der hervorragenden Ärzte feiert Henle: „Als Forscher hat er die Wissenschaft mit zahlreichen fundamentalen Entdeckungen bereichert, und selbst da, wo er irrte, war doch sein Irrtum fast jedesmal die Quelle zu neuen Anregungen, die zur Wahrheit führten, so sehr verstand er es, die Punkte herauszufinden und zu betonen, auf die es gerade ankam, die Lücken aufzudecken, die den Vorgängern und Zeitgenossen entgangen waren, auf selbst ferne Ziele mit richtigem weiten Forscherblick klar hinzuweisen. Als Beispiel des Gesagten zeugen die Entdeckung des Zylinderepithels des Darmkanals und die Feststellung und die Verbreitung der verschiedenen Epithelien im tierischen Organismus sowie des Zusammenhanges aller Epithelformen, des Verhältnisses der zentralen Chylusgefäße, der inneren Wurzelscheide des II aares, die umspinnenden Fasern, die erste genaue Schilderung des feineren Baues der Hornhaut, die Entdeckung des Epithels (Endothels) der Blutgefäße, der gefensterten Gefäßmembran, der Leberzellen (gleichzeitig mit Purkinje), die nach ihm benannte — Henlesche — schleifenförmige Umbiegung der Nie-renkanälchen, des ausschließlichen Vorkommens von Zapfen in der Fovea centralis bzw. Macula lutea der Netzhaut.“ Der Anatom Henle hat mit den heute noch geltenden Deutungen die physiologischen Vorgänge der Leber und der Nieren sowie des Auges aufgehellt. Erst durch seine Funde bekommen wir eine gewisse Vorstellung, wie eigentlich die Niere und Leber arbeiten, wo und wie das Bild vom Auge aufgenommen und weitergeleitet wird. Dadurch, daß er die Darmtätigkeit aus den von ihm gefundenen Epithel herleitete, wie er den Bau des Haares, seinen Wuchs verständlich machte, die Blutgefäße anatomisch gliederte, stellte er die Anatomie auf eine feste Grundlage. Der Zelltheorie Virchows hat er vorausgearbeitet, er hat ihr die Wege geebnet. „Seine allgemeine Anatomie“, schreibt das Biographische Lexikon weiter, „zeigt fast auf jeder Seite mehr oder minder erhebliche Funde: außerordentlich reich an solchen ist namentlich die Bänderlehre, man lese z. B. die Kapitel Bänder der Wirbelsäule, Hand- und Fußgelenke u. a. nach. Abgesehen aber von diesen Funden, die übrigens nur einen Teil davon umfassen, was wir an neuen Tatsachen ihm verdanken — denn man kann kaum ein Organ unseres Körpers namhaft machen, das nicht in der heute üblichen Beschreibung vielfach Spuren Henlescher Arbeit an sich trüge — ist nun die Gesamtdarstellung, welche er sowohl der allgemeinen wie der deskriptiven Anatomie gegeben hat, eine wahrhaft umgestaltende zu nennen. Auch die systematische Anatomie bildet einen ähnlichen Merkstein in der Literaturgeschichte der Medizin. Sie ist nicht für das Tagesbedürfnis geschrieben.“
Nur der Kenner der Geschichte der Medizin kann die Verdienste Flenlcs klar würdigen, weil er weiß, in welchen Vorstellungen sich die Ärzte noch vor hundert Jahren bewegten. Selbst ein Schönlein, das größte praktische Genie seiner Zeit, ein ganz hervorragender Diagnostiker, hat die Krankheiten als eigene Lebensformen angesprochen, und sein Schüler Fuchs hat im Jahre 1845 in dem Lehrbuch der speziellen Nosologie und Therapie die Krankheiten in 3 Klassen, 12 Ordnungen, 36 Familien eingeteilt, also so wie Linne‘ die Botanik. In eine Familie preßt nun Fuchs Gelbsucht, Harnvergiftung und Blutungsanomalien. Eine andere Ordnung bilden Neuralgien (Nervenleiden) und Anästhesien, mithin werden hier noch Symptome allgemein zu Krankheiten selbst gemacht, und erst Henle zeigt, daß hinter den Symptomen Organveränderungen stecken. Also von der Auffassung, daß eine Krankheit einen Menschen befällt, bis zur Auffassung, daß ein Organ arbeitsunfähig wird, in seinen feinsten Teilen erkrankt, ist ein weiter Weg. Bis die Wissenschaft von der Naturphilosophie zur Organpathologie vordringt, müssen erst Vorstellungen gewonnen werden, die für uns so selbstverständlich, trivial sind, daß wir in ihrer Aufdeckung kein besonderes Verdienst erblicken.
Mit den Vorstellungen seiner Zeit, die noch schablonenhaft ein göttliches System in den Krankheiten suchte, räumte Henle ordentlich auf. Darum wurden die Werke Henles so freudig begrüßt, weil sie die Entstehung der Krankheiten auf eine naturwissenschaftliche Basis stellten und die Spekulation des Mittelalters endgültig verbannten.
Anläßlich seines fünfzigjährigen Doktor Jubiläums hat die medizinische Fakultät zu Kiel in einer Adresse die Verdienste des Forschers hervorgehoben, wobei sie unter vielem anderen ausspricht :
„In einem tief durchdachten Meisterwerk haben Sie gesammelt, was zerstreut war, geordnet, was umherlag, künstlerische Formenschönheit haben Sie bis in das Handbuch der Studenten getragen und in dem Irrgarten der alten Nomenklatur feste, leicht kenntliche Wege gezogen, deren Geleise, soweit wir voraus denken können, niemals zerstört oder verlassen werden wird.
Aber was mehr ist, und was Ihnen die heutige Generation im Getriebe ihrer vielseitigen Arbeit nie vergessen soll noch wird: Sie haben unserer Wissenschaft ein neues Land entdecken helfen, haben es erforscht und aufgeschlossen: ein Land, in dem wir heute wohnlich leben, dessen Boden wir bauen, das uns Ausgangspunkt für neue Forschungszüge geworden ist. Vor fünf Jahrzehnten haben Ihre Arbeiten mit denen Schwanns den Grund gelegt zur jetzigen Histologie, der Wissenschaft, von der Sie sagen, ,daß auf ihrer Verbindung mit der Anatomie die heutige Stellung der letzteren im Unterrichtssystem, die des Anatomen im Unterrichtskörper beruhe‘. In tiefdringender weitgreifender Arbeit, in lichtvoller Darstellung haben Sie in Ihren Werken über Anatomie und rationelle Pathologie der biologischen Naturlehre gezeigt, auf wie viele ihrer Wege neues Licht durch das Mikroskop zu fallen hatte, und sind so einer der bedeutsamsten Schöpfer und Entwickler der glänzenden histologischen Arbeitsperiode gewesen, deren Ernte unsere Zeit genießt. Die zahlreichen, schönen Entdeckungen, die Sie selbst dafür bis in die jüngste Zeit beisteuerten, sind heute Gemeingut der Wissenschaft, Zierde ihrer Literatur, Fundamente für ihren Weiterbau. Und fast nicht minder hoch als diese müssen wir es Ihnen anrechnen, daß Sie auch die Arbeit der übrigen leiteten . . .
Aber nicht nur der morphologischen Lehre haben Sie Wege gewiesen, sondern auch der gesamten Medizin. In den Zustand der pathologischen Systeme, der vor vierzig Jahren bestand und den die heutige Schule kaum noch aus der Geschichte der Medizin kennt, haben Sie den Ausspruch geworfen und in einem glänzenden Werke vertreten: ,Rationelle Pathologie und Physiologie sind identisch‘. Es läßt sich wohl kaum ein deutlicheres Zeichen I hres Erfolges nennen als die Tatsache, daß uns dieser Ausspruch selbstverständlich klingt, und daß uns für die alten Theorien, denen er fremd war, selbst das Gedächtnis abhanden gekommen ist.
Wer auf fünfzig Jahre solchen Wirkens zurückblickt, hat mehr Glück erfahren, als die vielen Glückwünsche in sich fassen können, die Ihnen heute zuströmen . . .“
Nach etwa halbjähriger Krankheit starb Henle an Nieren-und Wirbelsarkom am 13. Mai 1885.
In vielen Feiern und Nachrufen wurde der Bedeutung des großen Toten gedacht. Waldeyer, der bekannte Anatom, faßte das Urteil in die Worte: „Ihm ist sein Platz unter den ersten Meistern für alle Zeiten gesichert.“