Islam heute: Bevölkerung und Bildung

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Ein weiteres Problem, dessen Lösung indes allein in den Händen der Muslime selbst liegt, ist das Problem der Überbevölkerung. Selbst wenn es in diesem Bereich je nach Kultur gewisse Schwankungen geben kann, so folgen doch alle muslimischen Länder der globalen Entwicklung des sogenannten »demographischen Übergangs«…

André Miquel, Henry Laurens
Aus p.438ff – Der Islam – Eine Kulturgeschichte
Die Bevölkerungsentwicklung

Für das Problem der Überbevölkerung gilt der inzwischen zur Binsenweisheit gewordene Grundsatz: Der Bevölkerungsdruck muß gesenkt werden, damit der Lebensstandard wachsen kann. Aber einer solchen Senkung standen von Anfang an viele Hindernisse im Weg. Dazu gehörten etwa das traditionelle muslimische Bekenntnis zur Vermehrung des Lebens – das bewußte und stolz bekundete Streben nach einer möglichst zahlreichen Nachkommenschaft-wie auch das in den entlegenen Gebieten der islamischen Welt vorherrschende Unwissen über die grundlegenden Mechanismen der Fruchtbarkeit.

Aber ein weiteres Hindernis war, daß zur Zeit der Unabhängigkeitsbewegungen und des Aufbaus der Nationen eine möglichst hohe Bevölkerungszahl als Ideal galt. Auf der Konferenz von Bukarest 1974 vertraten einige der innovationsfreudigsten Länder die Auffassung, die wichtigste Ressource eines Landes sei seine Bevölkerung. Man fragt sich, wieso diese These den Westen damals überraschte -Mirabeau und Rousseau hatten im 18. Jahrhundert auch nichts anderes behauptet. Und wenn der Westen heute eine andere Sprache spricht, so liegt es möglicherweise auch daran, daß die sogenannte Dritte Welt ein viel stärkeres Bevölkerungswachstum zu verzeichnen hat als er, der einstige Weltbeherrscher, der eines großen Teils seiner Macht beraubt wurde und dem jedes Mittel – ob Menschen oder Technik – recht wäre, um sie nicht ganz zu verlieren.

Bis Mitte der sechziger Jahre kann man ein schnelles Bevölkerungswachstum feststellen, was einerseits auf eine anhaltend hohe Geburtenzahl, andererseits auf einen Rückgang der Kindersterblichkeit infolge der Fortschritte in der Gesundheitspflege zurückzuführen ist. Mit anderen Worten heißt das, »daß hier die Sterblichkeitsrate Europas von 1880 und eine Geburtenrate, die dort höchstens in den besten Zeiten des Mittelalters erreicht wurde«, zusammenwirken. Das ist eine Situation, die um so explosiver ist, als hier nicht, wie einst für Europa, Auswanderung und Kolonien Entlastung schaffen können. In vielfacher Hinsicht erscheint das Jahr 1947, zumindest für Ägypten, als die große Wende, weil von nun an die Sterblichkeit durch den Einsatz von Antibiotika vermindert wurde. In den folgenden Jahren sank das Pro-Kopf-Einkommen auf dem Land. In den Städten und im Gesamtdurchschnitt blieb es zwar gleich, aber die Kluft zwischen arm und reich wurde größer: Das Produktionsaufkommen war zwischen Stadt und Land, aber auch innerhalb jedes dieser beiden Bereiche zwischen den Privilegierten und denen, die kaum oder keine Beschäftigung hatten, ungleich verteilt. Bereits als in Ägypten die Revolution von 1952 ausbrach, war der Kampf ums Überleben akut. Es ging darum, einer möglichst großen Zahl von Menschen durch eine gerechtere Einkommensverteilung einen bescheidenen Wohlstand zu sichern und so ein ganzes Volk »aus der unerbittlichen Zone des Hungers« herauszuhalten.

Ab den siebziger Jahren wird das explosionsartige Bevölkerungswachstum eingedämmt. Von den auf der Konferenz in Bukarest 1974 angegebenen Zahlen können wir folgende festhalten: In Nordafrika sinkt die Geburtenrate von 4,6 Prozent in den Jahren 1960 bis 1965 auf 4,5 Prozent in den Jahren 1965 bis 1970; in Südostasien sinkt sie von 4,6 Prozent in den Jahren 1950 bis 1960 auf 4,5 Prozent in den Jahren 1960 bis 1965 und auf 4,4 Prozent in den Jahren 1965 bis 1970. Ahnlich sind die Raten und die Entwicklung in Südwestasien, während die Geburtenrate in Westafrika konstant 4,8 Prozent betrug. Die Zahlen sind also, wie man sieht, sehr hoch, vor allem wenn man sie mit den Zahlen für Europa vergleicht: 1,97 Prozent in den Jahren 1950 bis 1955, 1,92 Prozent in den Jahren 1955 bis 1960,1,86 Prozent in den Jahren 1960 bis 1965 und 1,76 Prozent in den Jahren 1965 bis 1970. Für Tunesien, eins der Länder, in denen am meisten für die Ziele der Familienplanung geworben wurde, liegen folgende Zahlen vor: In den Jahren 1960 und 1961 betrug die Geburtenrate 4,62 Prozent, zwischen 1965 und 1969 4,09 Prozent, im Jahr 1970 3,62 Prozent und 1971 3,48 Prozent.

Was auffällt, ist der hohe Anteil der Jugend an der Gesamtbevölkerung in den vorrangig von Muslimen bewohnten großen Weltregionen. Die Familien sind zudem oft noch übergroß, und ihre Wachstumsrate beträgt mehr als 2,5 Prozent im Jahr. Hierzu einige Beispiele: Die Einwohnerzahl der Türkei stieg von 12 Millionen im Jahr 1925 innerhalb von dreißig Jahren auf das Doppelte an, 1973 betrug sie schon 40 Millionen, 1985 48 Millionen und 1999 66,3 Millionen. In Ägypten stieg die Gesamtbevölkerung von 13 Millionen im Jahr 1920 auf 30 Millionen 1965, dann auf 36 Millionen 1973, auf 50 Millionen 1986 und schließlich bis 1999 auf 69,8 Millionen. Im Iran stieg sie von 15 Millionen im Jahr 1954 auf 34 Millionen 1973.1986 waren es bereits 42 Millionen und 1999 dann 66,1 Millionen. Und die Einwohnerzahl von Pakistan und Bangladesh stieg von 75,8 Millionen im Jahr 1961 über 113 Millionen 1965 und 140 Millionen 1978 auf 188,5 Millionen 1985.1999 waren es dann 278,5 Millionen Einwohner. Überall erleben auch die Städte ein übermäßiges Wachstum. 1950 gab es in Afrika zwei Millionenstädte, zwanzig Jahre später waren es acht, in Asien stieg die Zahl im gleichen Zeitraum von 21 auf 63. Ein Paradebeispiel für die islamische Welt ist Kairo: Von 570 000 Einwohnern im Jahr 1900 wächst die Stadt bis 1960 auf das Sechsfache an, 1966 steigt die Einwohnerzahl auf über vier Millionen. Heute schätzt man die Bevölkerung des gesamten Ballungszentrums einschließlich Gizeh auf über sechzehn Millionen, das entspricht fast einem Viertel der ägyptischen Gesamtbevölkerung.

Diese Riesenstädte lösen das Bevölkerungsproblem jedoch nicht oder nur zum Teil. Ein beträchtlicher Teil ihrer Bewohner kommt aus ländlichen Regionen, deren übergroßer Bevölkerungszuwachs die Lage nur verschlimmert. In Ägypten lebten zu viele Menschen auf dem Land, als daß die Bodenreform von 1952 wirklich hätte Früchte tragen können; selbst die völlige und radikale Aufteilung des ägyptischen Ackerlandes auf alle Bauernfamilien hätte jeder von ihnen nach neuerer Schätzung nur 1,6 Feddan (0,67 Hektar) zuweisen können, nicht einmal die Hälfte der Bodenfläche, die zum Lebensunterhalt nötig wäre. Und der Assuanstaudamm? Er hat die Ansiedlung von 400 000 Familien ermöglicht, also von zwei oder drei Millionen Menschen; es hätten aber zehn Millionen sein müssen.
Am Ende des Jahrhunderts ändert sich das Bild. Aus Gründen, die von Land zu Land unterschiedlich sein können, ist überall ein Geburtenrückgang zu verzeichnen. Es zeigt sich, daß es keine typisch islamische Bevölkerungsentwicklung gibt. Vielmehr gibt es große, überstaatliche Zonen, in denen die demographischen und wirtschaftlichen Trends korrelieren, während die kulturellen und religiösen Traditionen der einzelnen Staaten sich durchaus voneinander unterscheiden können.

Fassen wir zusammen: Als Teil Afrikas und Asiens leistet die islamische Welt einen immer größeren Beitrag zur Zunahme der Erdbevölkerung, die heute überwiegend aus jungen Menschen besteht. Wie sich die Probleme in Zukunft entwickeln, hängt davon ab, ob und in welchem Maß die Menschenmassen weiterwachsen und vor welche Herausforderungen sie in Zukunft gestellt sein werden. Tatsächlich kommt hierbei vor allem den voraussichtlichen Entwicklungen im ersten Viertel des 21. Jahrhunderts eine entscheidende Rolle zu. Nach und nach wird der Anteil der unter 15-jährigen abnehmen, während der Anteil der über 64-jährigen nur sehr langsam ansteigen wird. Wird die Masse der Erwachsenen, die heute vielfach lesen und schreiben können, Arbeit finden, sobald der Druck dieser unproduktiven Altersklassen nachläßt? Das 21. Jahrhundert wird das Jahrhundert der demographischen Stabilisierung sein, und einige Experten sagen für die islamische Welt einen ähnlichen Bevölkerungsrückgang voraus, wie ihn die europäischen Industrienationen bereits erleben. Die größte Herausforderung besteht heute darin, die zahllosen Jugendlichen ins Berufsleben zu integrieren, damit sie ihren Lebensunterhalt sichern können. Viele werden heute vom trügerischen Glanz der Industriestaaten angelockt. Wenn die übermäßige Verjüngung der muslimischen Gesellschaften erst einmal überwunden ist, wird vielleicht auch die Zeit der Migrantenströme vorbei sein.

Das Bildungswesen
p. 446ff – Der Islam – Eine Kulturgeschichte

Bsp. Algerien

In der Phase des Umbruchs nach dem Ende der Kolonialzeit setzte die muslimische Welt ihre Hoffnung auf die Jugend. Diese Hoffnung ist aber nur berechtigt, wenn die jungen Menschen, sobald sie das Erwachsenenalter erreicht haben, den Fortschritt vorantreiben können und durch ihre erdrückende Überzahl nicht zu einer zusätzlichen Belastung für die Bevölkerung werden. Deswegen zählen Bildung und Ausbildung auch heute noch überall zu den vorrangigen Aufgaben des Staates. Zunächst ging es darum, die Schulbesuchsquote zu erhöhen. So wurde etwa in Algerien seit 1963 die Zahl der Schulbesucher durch einen umfangreichen Bildungsplan auf ein Vielfaches gesteigert, die Gesamtzahl der algerischen Gymnasiasten hat sich allein zwischen 1968 und 1974 verdreifacht, und die Zahl der Studenten stieg nach der Unabhängigkeit 1962 innerhalb von zehn Jahren von 2908 auf 20 048 im Jahr 1973 (hinzu kamen noch etwa 13 000 Stipendiaten).

Ausbilden, das heißt zunächst, daß man die Führungskräfte der Zukunft auf ihre Arbeit vorbereitet, damit die Abhängigkeit von der Entwicklungshilfe langfristig sinkt. Dazu müssen vor allem die technischen Wissenschaften gestärkt werden, was Algerien ebenfalls energisch in Angriff nahm. Ausbilden heißt aber auch, daß man sich der Welt öffnet, und das heißt in diesem Fall: zunächst den anderen islamischen Ländern. Im Bildungswesen hat das Hocharabische nach dem Ende der Kolonialzeit überall an Bedeutung gewonnen. Auch beim Arabischunterricht geht es natürlich in erster Linie darum, neue Fähigkeiten und Kenntnisse zu vermitteln, aber auch darum, den Dialekten, die den Volksmassen in der Kolonialzeit als Umgangssprache dienten, ein modernes Hocharabisch zur Seite zu stellen: eine Verkehrssprache für den Dialog zwischen Arabern verschiedener Herkunft und eine Weltsprache, die in den internationalen Institutionen als solche anerkannt wird. Doch diese Aufgeschlossenheit zeigt sich nicht nur in der Durchsetzung des Hocharabischen, die dem allgemeinen Trend zum Unterricht in den Nationalsprachen folgt, sondern auch darin, daß die Sprachen der ehemaligen Kolonialmächte auch weiterhin gepflegt werden – Sprachen, die nützlich sind, wenn man mit anderen Kulturen kommunizieren will, angefangen bei den nichtarabischen Kulturen der islamischen Welt.

Im Maghreb zum Beispiel wurde nie so intensiv Französisch unterrichtet wie nach dem Erlangen der Unabhängigkeit. In der Anfangsphase ließ das Niveau dieses Unterrichts vielleicht noch zu wünschen übrig, aber es mußte damals auch schnell gehandelt werden, und eine flächendeckende Beschulung sollte ja gerade dazu beitragen, daß eines Tages überall gute Lehrer zur Verfügung stünden.

Insgesamt läßt sich sagen, daß beachtliche Anstrengungen unternommen wurden, um ein aus der Kolonialzeit stammendes Erziehungssystem in ein Instrument der Massenbildung umzuwandeln und in diesem neuen Rahmen den zukunftsweisenden Fächern den Vorrang zu geben. Sicherlich gibt es noch Unzulänglichkeiten, insbesondere was das Verhältnis zwischen Neuerung und Tradition betrifft, aber kulturelle Gewohnheiten lassen sich eben nicht von heute auf morgen umkrempeln. Außerdem kann die intensive Heranbildung von Technikern nicht im luftleeren Raum erfolgen. Sie ist in jeder Phase der Entwicklung vom Stellenangebot der Wirtschaft und von den qualitativen und quantitativen Fortschritten im Schulsystem abhängig, und oft genug muß sich dieses Schulsystem vor allem der gewaltigen und dringlichen Aufgabe der Alphabetisierung widmen. Das alles verursacht sehr viele Schwierigkeiten, aber es läßt sich nicht bestreiten, daß die islamischen Länder diese mit großer Entschlossenheit angehen.

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