Ein frisches Stück Zukunft

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Die Jüdischen Kulturtage in Nordrhein-Westfalen zeigen das enorme Potenzial von jüdischen Impulsen in Deutschland und geben uns neue Hoffnung…

Von Dr. Dieter Graumann

In Nordrhein-Westfalen finden im März und April die Jüdischen Kulturtage statt. Einen Monat lang werden in dem bevölkerungsreichsten Bundesland mehr als fünfhundert Veranstaltungen aus den Bereichen bildende Kunst, Film, Literatur, Musik sowie Tanz und Theater geboten. An den Kulturtagen – es sind inzwischen die vierten in NRW – sind 52 Städte und 14 jüdische Gemeinden beteiligt. Diese beeindruckende und so bedeutende Leistung konnte nur durch das enorme persönliche Engagement und durch produktives und kreatives Teamwork der Landesverbände der Jüdischen Gemeinden von Nordrhein und Westfalen-Lippe sowie der Jüdischen Synagogen-Gemeinde Köln vollbracht werden. Das zweite, nicht minder wichtige Element des Programms sind Begegnungsprojekte, die einen Einblick in das kulturelle Wirken in den jüdischen Gemeinden vermitteln. Solch eine Fülle, Dichte und Intensität, sozusagen eine geballte Ladung von jüdischer Kultur – das hat es in der Bundesrepublik bisher so noch überhaupt nicht gegeben. Den Veranstaltern, vor allem: unseren Landesverbänden, allen Mitarbeitern und Förderern, der Landesregierung, den politischen Parteien und den beteiligten Kommunen, gebühren Anerkennung und Dank.

Bei der Programmbreite und der Qualität, die die Jüdischen Kulturtage bieten, ist für niveauvollen Kulturkonsum ohne jeglichen Zweifel gesorgt. Und doch kommt den Kulturtagen eine Bedeutung zu, die über den reinen Kunstgenuss – so wichtig dieser ist – noch weit hinausgeht. Mit den Jüdischen Kulturtagen bauen wir als Juden auch Brücken. Wir wollen Berührungsängste abbauen und Kontakte knüpfen und stärken. Es gibt kaum einen schöneren Weg, um Schranken zu überwinden, als gerade die Kultur – Kultur mit ihrer emotionalen Kraft, die Köpfe und Herzen zu bewegen vermag.

Die Kulturtage sind eine wunderbare Gelegenheit, die geistige Fülle des Judentums zu zeigen und greifbar, „(er-)lebbar“ zu machen, wie das Motto der Kulturtage es bereits vorgibt. Entgegen dem in der deutschen Mehrheitsgesellschaft oft herrschenden Eindruck ist Judentum mehr, so viel mehr als bloß Schoa plus Antisemitismus. Natürlich, das Erinnern an die schreckliche Vergangenheit bleibt uns wichtig, ja: Herzenssache. Wir wollen dazu beitragen, dass die Menschen in Deutschland – die Nachgeborenen, denen man keine Schuld zurechnen kann – um die Vergangenheit und um die sich daraus ergebende Verantwortung für die Zukunft wissen. Dafür, und all das, was uns am Herzen liegt, werden wir uns als jüdische Gemeinschaft auch künftig laut und leidenschaftlich engagieren.

Gleichzeitig aber wollen wir zeigen, dass Juden nicht in erster Linie Opfer waren und es heute ohnehin schon längst nicht mehr sind, sondern vor allem Träger einer kostbaren Religion, Tradition, Gedankenwelt und gerade einer ganz besonderen Kultur. Diese Kultur wollen wir auch in die gemeinsame Zukunft dieses Landes einbringen, denn die jüdische Gemeinschaft ist ein munterer Teil der deutschen Gesellschaft. Wir leben weder im Ghetto unserer Traumata noch in einer Parallelgesellschaft, sondern mitten im Leben. So sind die Kulturtage von Nordrhein-Westfalen ein Signal der Kommunikation, der Offenheit und der Transparenz. Zugleich sollen sie ein Beispiel sein, dessen Nachahmung in ganz Deutschland ausdrücklich erwünscht wäre. Gewiss: Kultur ist teuer. Aber sie ist auch so wertvoll. Sie hilft, Vorurteile zu zerschlagen, nicht nur Vorurteile gegenüber Juden, sondern Vorurteile gegenüber dem Anderen schlechthin – dem Anderen oder auch dem nur als ganz andersartig Empfundenen. Deshalb sind Veranstaltungen wie diese eine wichtige Investition in den Faktor Toleranz, in die gegenseitige Akzeptanz, in eine moderne, liberale, plurale Gesellschaft in Deutschland.

Nahezu alle in diesem Jahr am Programm teilnehmenden Akteure und Künstler kommen dieses Mal aus der Region. Hier zeigt sich: In Deutschland gibt es wieder eine aktive, selbstbewusste und erfolgreiche jüdische Kulturlandschaft. Das ist großenteils der wunderbaren Zuwanderung aus der ehemaligen Sowjetunion in den letzten zwei Jahrzehnten zu verdanken. Weil es aber kaum etwas gibt, das nicht noch verbesserungsfähig wäre, sollte das gewaltige Potenzial noch besser ausgeschöpft werden, das Wirken jüdischer Kulturschaffender in allen Teilen der Bundesrepublik eine ebenso würdige Bühne wie an Rhein und Ruhr erhalten. Gewiss: So reichhaltig wie vor der Schoa wird das jüdische Kulturleben in Deutschland allein schon aus numerischen Gründen nicht mehr sein. Wie schon Leo Baeck nach dem Zweiten Weltkrieg sagte, kann die Uhr leider nicht zurückgestellt werden.
Dennoch lässt sich mit Freude und mit Begeisterung das Wachsen von neuer jüdischer Kultur in Deutschland nun fast schon mit Händen greifen. Es ist ein Gefühl, das uns alle stolz macht und uns eine starke Infusion von Kraft, von Zuversicht und neuer Perspektive und vor allem von frischer Hoffnung gibt.

Der Autor ist Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland und, gemeinsam mit Ministerpräsidentin Hannelore Kraft, Schirmherr der Jüdischen Kulturtage in Nordrhein-Westfalen.
Quelle: Mediendienst des Zentralrats der Juden in Deutschland, Berlin, 30.3.2011

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