Antisemitismus prägt den Alltag deutscher Jüdinnen_Juden

0
48

Der Bundesverband der Recherche- und Informationsstellen Antisemitismus e. V. (Bundesverband RIAS) hat über 150 Interviews mit jüdischen Gemeinden und Einzelpersonen in ganz Deutschland ausgewertet. Die Analyse der zwischen 2017 – 2020 durchgeführten Interviews liegt erstmals der Öffentlichkeit vor.

Antisemitismus ist für Jüdinnen_Juden in Deutschland ein alltagsprägendes Phänomen, dies zeigt die Publikation Jüdische Perspektiven auf Antisemitismus in Deutschland 2017 – 2020, welche der Bundesverband RIAS am 28. Februar 2023 veröffentlicht. Die Befragten berichten von antisemitischen Vorfällen beim Zahnarzt, bei der Abschlussfeier an der Schule oder bei der Wohnungssuche. Für Jüdinnen_Juden in Deutschland hat dies grundlegende Auswirkungen, etwa darauf, wie offen sie sich als jüdisch zu erkennen geben.

Wahrnehmung von Antisemitismus unterscheidet sich

Die Auswertung kommt zum Ergebnis, dass Jüdinnen_Juden Antisemitismus zum Teil ganz anders wahrnehmen als die nichtjüdische Mehrheitsgesellschaft. Besonders deutlich wird dies bei Fragen der Sicherheit. Viele Befragte berichteten nicht nur von antisemitischen Vorfällen, sondern auch von Entsolidarisierung angesichts solcher Vorfälle. „[D]as bringt einen in eine ganz isolierte Situation“, so beschreibt ein Interviewpartner die Situation nach dem rechtsextremen Terroranschlag in Halle und Wiedersdorf 2019.

Jüdische Perspektiven müssen berücksichtigt werden

Der Bundesverband RIAS setzt sich dafür ein, dass Betroffenenperspektiven systematisch berücksichtigt werden. Mit der Publikation Jüdische Perspektiven auf Antisemitismus in Deutschland 2017 – 2020 liegt eine Analyse von sechs Aspekten vor, die für Betroffene von Antisemitismus besonders relevant sind: die Auswirkungen des Terroranschlags in Halle und Wiedersdorf auf Jüdinnen_Juden, die Folgen von Antisemitismus im Wohnumfeld der Betroffenen, die Effekte von israelbezogenem Antisemitismus sowie individuelle Umgangsweisen. Darüber hinaus wird untersucht, inwieweit politisch-weltanschauliche Hintergründe eine Rolle spielen und wie sich das Verhältnis zu den Strafverfolgungsbehörden darstellt.

Die Publikation Jüdische Perspektiven auf Antisemitismus in Deutschland 2017-2020 ist ab sofort einsehbar unter:
https://report-antisemitism.de/documents/2023-02-28_Isolierte_Situation_Web.pdf

Mehr zum Thema:

Wann ist es Antisemitismus?
Judenfeindschaft ist ein Ressentiment, tief verankert im westlichen Denken und Fühlen, auf affektiven Stereotypen fußend, eine religions- und kulturhistorisches Kategorie, die Juden als das Übel der Welt stigmatisiert und dabei im Laufe der Jahrhunderte chamäleonartig diese kollektive Entwertung stets passend und zeitgemäß angepasst hat. 
–> Wissenschaftliche Klassifikationskriterien mit Beispielen

Antisemitismus ist (k)eine Meinung
Die haGalil-Serie – ‚Antisemitismus ist (k)eine Meinung‘ – bittet wissenschaftliche und kulturelle Akteure und Experten anhand konkreter Leserbriefe zu kommentieren:Wo sehen Sie in konkreten Beispielen den Unterschied zwischen legitimer Kritik/Anmerkung und antisemitischer Aussage/Meinung? Was bedeutet es, wenn Zeitungen antisemitischen Meinungen einen Raum geben – in einer Gesellschaft, in der jeder vierte antisemitische Einstellungen hat? Wie können wir dazu beitragen, das jeweilige Vorurteil zu klären? Oder ist Antisemitismus doch -entgegen der Beteuerung von Politik, Medien und Individuen- schlicht als eine legitime Meinung unter vielen hinzunehmen?
–> Antisemitismus ist (k)eine Meinung

Weitere Grundlagentexte:

Gibt es eine allgemeingültige Definition für Antisemitismus? Ein Plädoyer für die Einnahme von Betroffenenperspektiven
Von Tanja Kinzel, Bianca Loy und Daniel Poensgen (Bundesverband RIAS)

Ist Kritik an Israel antisemitisch? Oder: gibt es israelbezogenen Antisemitismus?
Von Monika Schwarz-Friesel

Was ist wichtiger für den Rechtsextremismus – der Antisemitismus oder der Rassismus?
Von Anja Thiele

Hat Intersektionalität ein Problem mit Antisemitismus?
Von Karin Stögner

Was heißt „Singularität des Holocaust“ – und was nicht?
Von Steffen Klävers

Der moderne Antisemitismus in kapitalistischen Zeiten
Von Olaf Kistenmacher