Gibt es eine allgemeingültige Definition für Antisemitismus? Ein Plädoyer für die Einnahme von Betroffenenperspektiven

Von Tanja Kinzel, Bianca Loy und Daniel Poensgen (Bundesverband RIAS)

Im Juni 2020 wurde der Gast eines Cafés in Berlin-Neukölln durch einen Mitarbeiter mit antisemitischen Verschwörungsmythen konfrontiert. Der Mitarbeiter hatte zunächst gesagt, dass er nicht an die Corona-Pandemie glaube. Auf den kritischen Hinweis des Gastes, solche Verschwörungsmythen führten letztendlich immer zu antisemitischen Stereotypen, sagte er, dass „nicht die Juden dahinter stünden“, sondern „die Zionisten“, „die Reichen wie Bill Gates“. Der Gast kritisierte dies als antisemitisch – der Mitarbeiter schmiss ihn daraufhin aus dem Café.

Der Vorfall wurde RIAS Berlin gemeldet. Er verdeutlicht exemplarisch einige Merkmale des Antisemitismus und seiner Funktionsweise: Antisemitismus ist dynamisch, verändert sich historisch und vereint widersprüchliche Elemente und Vorwürfe. Insbesondere im postnazistischen Deutschland ist er stark tabuisiert und tritt häufig codiert, also nicht offen auf. Das macht es so schwer, positiv und endgültig zu bestimmen, was antisemitisch ist und was nicht. Schon als soziales und wandelbares Phänomen entzieht sich die Beschreibung von Antisemitismus einer allgemeingültigen Definition – das zeigt sich nicht zuletzt an der Vielzahl von Ansätzen zur Bestimmung von Antisemitismus in verschiedenen Forschungsbereichen: So wird Antisemitismus als „negative Leitidee der Moderne“ (Salzborn), als „Alltagsreligion“ (Claussen) oder „kultureller Code“ (Volkov) beschrieben. Solche Ansätze betonen die Rolle des Antisemitismus für beispielsweise nationalistische Kollektivierungs- und Identifizierungsprozesse oder seinen projektiven Charakter, der Macht- und Herrschaftsverhältnisse legitimieren und die Psyche stabilisieren kann. Eine Definition von Antisemitismus kann aber auch deswegen nicht „allgemeingültig“ sein, weil in einer Gesellschaft, in der Antisemitismus auch nach der Schoa weit verbreitet ist, jegliche Thematisierung und Kritik von Antisemitismus auf weit verbreitete Abwehr stößt. Auseinandersetzungen um Definitionen von Antisemitismus sind ohne diese Abwehr nicht zu verstehen.

Auch vor diesem Hintergrund ist es wichtig, Antisemitismus  zu benennen und zu kritisieren, selbst und gerade wenn er von Personen kommt, die ein anti-antisemitisches Selbstverständnis und keine antisemitische Intention aufweisen. In Interviews mit Jüdinnen_Juden aus verschiedenen Bundesländern, die der Bundesverband RIAS im Rahmen von regionalen Problembeschreibungen geführt hat, kritisierten die Befragten immer wieder ausbleibende Solidarität der nicht-jüdischen Mehrheitsgesellschaft in Deutschland und formulierten das Gefühl, mit dem Problem alleine gelassen zu sein. Forscher_innen sprechen von einer Wahrnehmungsdiskrepanz bezüglich Antisemitismus zwischen Jüdinnen_Juden einerseits und der nicht-jüdischen Mehrheitsgesellschaft andererseits, die das Problem häufig nicht sieht oder sehen will. Dabei muss – trotz der erwähnten Schwierigkeiten – die Benennung und Kritik von Antisemitismus auch in Form einer belastbaren Definition erfolgen: Denn Institutionen wie Polizei, Justiz und Behörden, Kultur- und Bildungseinrichtungen brauchen eine solche häufig, um nach ihrer Logik arbeiten, Antisemitismus erkennen und bekämpfen zu können. Für Betroffene von Antisemitismus ist dies von Bedeutung, sind sie doch auf die Arbeit und zum Teil den Schutz dieser Institutionen angewiesen.

Ein gelungenes Beispiel für eine Definition stellt die Arbeitsdefinition Antisemitismus[1] der International Holocaust Remembrance Association (IHRA) dar. 2016 wurde sie von den mehr als 30 Mitgliedstaaten der IHRA angenommen, um sie in Kontexten von Antidiskriminierung- und Polizeiarbeit, Strafverfolgung und in Bereichen des öffentlichen Lebens anzuwenden. Die Definition ist weder juristisch bindend noch versucht sie, den jeweiligen antisemitischen Motiven nachzugehen. Ihre Stärke liegt in der gebotenen operativen Grundlage, Antisemitismus zu erkennen und entsprechend zu handeln.

Ihre Kerndefinition lautet:

„Antisemitismus ist eine bestimmte Wahrnehmung von Jüdinnen_Juden, die sich als Hass gegenüber Jüdinnen_Juden ausdrücken kann. Der Antisemitismus richtet sich in Wort oder Tat gegen jüdische oder nicht jüdische Einzelpersonen und/oder deren Eigentum sowie gegen jüdische Gemeindeinstitutionen oder religiöse Einrichtungen.“

Damit wird Antisemitismus zunächst in dreierlei Hinsicht beschrieben: Die Definition bezeichnet Antisemitismus als bestimmte Form der Wahrnehmung, nimmt die Handlungsebene in den Blick und benennt Jüdinnen_Juden als Betroffene von Antisemitismus. In ihrer Allgemeinheit bleibt sie sehr vage. So ist es notwendig, die zur Veranschaulichung dienenden Beispiele heranzuziehen, die Teil der Definition sind. Dort heißt es zunächst grundsätzlich, dass sich Erscheinungsformen des Antisemitismus auch gegen den Staat Israel richten können und dass er häufig mit Verschwörungsmythen einhergeht. Zudem werden Beispiele aus den Bereichen des modernen, des Post-Schoa und des israelbezogenen Antisemitismus genannt, die unter Berücksichtigung des Kontextes als antisemitisch gefasst werden. Dazu zählt beispielsweise das „Verantwortlichmachen der Jüdinnen und Juden als Volk für tatsächliches oder unterstelltes Fehlverhalten einzelner Jüdinnen und Juden, einzelner jüdischer Gruppen oder sogar von Nichtjüdinnen und Nichtjuden“, das „Bestreiten der Tatsache, des Ausmaßes, der Mechanismen (…) oder der Vorsätzlichkeit des Völkermordes an den Jüdinnen und Juden“ oder die „Behauptung, die Existenz des Staates Israel sei ein rassistisches Unterfangen“. Die Beispiele machen Muster deutlich, die Antisemitismus vom bloßen Vorurteil oder der generellen Ablehnung von Jüdinnen_Juden unterscheiden, ohne dass die Definition eine allumfassende Benennung antisemitischer und nicht-antisemitischer Aussagen liefert.[2]

Vor dem Hintergrund der Wahrnehmungsdiskrepanz in Bezug auf Antisemitismus zwischen Jüdinnen_Juden und der nicht-jüdischen Mehrheitsgesellschaft, aber auch unter Berücksichtigung der Bedeutung, welche eine Antisemitismus-Definition für die Betroffenen hat, wird auch deutlich was in der IHRA Arbeitsdefinition mit der „Berücksichtigung des Kontextes“ sinnvoll gemeint sein muss. Insbesondere in einer postnazistischen Gesellschaft darf es hier nicht um Intention oder Identität der sich antisemitisch Äußernden gehen. Diese sind den antisemitisch Handelnden häufig nicht bewusst, für die erzielte Wirkung ist die Intention zudem unerheblich. Vielmehr tritt zu einer kritischen Bestimmung des „Textes“ die Berücksichtigung des Kontexts in erster Linie durch die Wahrnehmung der Betroffenenperspektive hinzu. So gaben in einer 2017 erhobenen Studie 68 Prozent der aus Deutschland befragten Jüdinnen_Juden an, sie fänden es „auf jeden Fall“ antisemitisch, „wenn eine nichtjüdische Person in Deutschland lebende Jüdinnen/Juden für die israelische Politik verantwortlich macht“, bei 24 Prozent war dies „eher“ der Fall.[3] Versuche, Antisemitismus zu definieren, um so zum Schutz von Jüdinnen_Juden beizutragen, müssen derartige Perspektiven berücksichtigen Die IHRA Arbeitsdefinition bietet hierfür eine gute Basis, wenn sie eine begrifflich bestimmte Kritik am Antisemitismus auch nicht ersetzt.

Tanja Kinzel, Studium der Sozialwissenschaften, Promotion in Geschichte am Osteuropa-Institut der Freien Universität Berlin (Im Fokus der Kamera. Fotografien aus dem Getto Lodz, erschienen im Juni 2021). Seit 2021 Bildungsreferentin beim Bundesverband der Recherche- und Informationsstellen Antisemitismus (RIAS).

Bianca Loy, Studium der Soziologie und Kulturanthropologie/ Europäischen Ethnologie in Göttingen und Berlin. Seit 2021 wissenschaftliche Referentin beim Bundesverband der Recherche- und Informationsstellen Antisemitismus (RIAS).

Daniel Poensgen, Studium der Sozialwissenschaften, promoviert zu Antisemitismus in der politischen Kultur des Staates. Seit 2018 wissenschaftlicher Referent beim Bundesverband der Recherche- und Informationsstellen Antisemitismus (RIAS).

–> Beyond Frenemies
Gemeinsame Erklärung zur Rücknahme unserer Beiträge aus dem Sammelband „Frenemies“

[1] https://www.holocaustremembrance.com/de/resources/working-definitions-charters/arbeitsdefinition-von-antisemitismus

[2]Der Bundesverband RIAS hat im Auftrag der Europäischen Kommission ein Handbuch zur praktischen Anwendung der IHRA Arbeitsdefinition Antisemitismus erstellt. Vgl. https://report-antisemitism.de/analysis/

[3]Zick, Andreas/Hövermann, Andreas/Jensen, Silke/Bernstein, Julia (2017): Jüdische Perspektiven auf Antisemitismus in Deutschland. Ein Studienbericht für den Expertenrat Antisemitismus. Online unter http://beratungsnetzwerk-sachsen-anhalt.de/images/docs/Publikationen/JuPe_Bericht_April2017.pdf , S. 16.