Hat Intersektionalität ein Problem mit Antisemitismus?

Von Karin Stögner

Das Konzept der Intersektionalität hat seit den 1990er Jahren stetig an Einfluss gewonnen und dient in vielen westlichen feministischen und antirassistischen Bewegungen und Organisationen als Grundlage für globale Solidarität. Seine Grundannahme ist, dass Feministinnen nicht die Augen vor anderen Formen der Unterdrückung verschließen sollten. Eine intersektionale Sichtweise erkennt an, dass in der modernen Gesellschaft verschiedene Formen der Unterdrückung und Diskriminierung nicht getrennt, sondern gleichzeitig auftreten und dass sie miteinander verwoben sind. Nicht so offensichtlich ist jedoch, welche Formen der Unterdrückung in den Rahmen der Intersektionalität fallen. Meistens wird das Spektrum auf den klassischen Dreiklang von race, class, gender zurückgeführt, in jüngerer Zeit auch auf Diskriminierung aufgrund von Alter, Behinderung oder Religion (insbesondere bezogen auf den Islam), während Antisemitismus selten Beachtung findet. Im Gegenteil schließen queere, antirassistische und feministische Initiativen wie Women‘s March on Washington, Chicago Dyke March oder Black Lives Matter routinemäßig jüdische Erfahrungen mit globalem Antisemitismus aus, etwa als Linda Sarsour, ehemalige Organisatorin des Women’s March, behauptete, dass Zionismus und Feminismus sich widersprechen würden.

Dieser Beitrag widmet sich diesen merkwürdigen Allianzen zwischen manchen Strömungen des intersektionalen Feminismus und israelbezogenem Antisemitismus. Merkwürdig nenne ich diese Allianzen deshalb, weil Feminismus vom Grundverständnis her emanzipatorisch ist, während der Antisemitismus den Inbegriff der antiemanzipatorischen Reaktion und Rebellion darstellt. Wie also gehen diese beiden Momente ineinander? Ist es nicht merkwürdig, wie in intersektionalem Aktivismus die Stärkung von Frauen- und LGBTIQ-Rechten in Israel oft reflexartig als Pinkwashing und Homonationalismus diffamiert wird und wie Rufe nach Boykotten von LGBTIQ-Veranstaltungen in Israel laut werden, die in vielen Regionen der Welt aufgrund homophober Politik gar nicht möglich sind?

Zum Teil resultieren diese verqueren Verbindungen aus blankem Antisemitismus der Akteur:innen, die diesen als Opposition zu Kolonialismus und Imperialismus maskieren. Das Problem, das Intersektionalität mit dem Antisemitismus hat, geht jedoch tiefer und hängt ursächlich mit einem weitgehend ungeklärten Verhältnis von Antisemitismus und Rassismus zusammen. Wird Antisemitismus in intersektionalen Analysen deshalb wenig berücksichtigt, weil er zu strikt mit Rassismus zusammengedacht wird, oder vielleicht, weil er das zu wenig wird? Diese Fragen lassen sich vorweg mit einer Variation eines feministischen Paradoxons beantworten, nämlich dass wir die Lebenslagen und Lebensverhältnisse von Frauen und Männern nicht begreifen, wenn wir sie nur über die Kategorie Geschlecht in den Blick nehmen, und ebenso wenig, wenn wir sie nicht auch über die Kategorie Geschlecht betrachten. Auf den Antisemitismus gemünzt können wir sagen, dass wir seine Komplexität nicht verstehen, wenn wir ihn nur als eine Form des Rassismus sehen, dies aber ebenso wenig tun, wenn wir ihn nicht auch als eine Form des Rassismus erkennen.

Dass der Antisemitismus insbesondere im intersektionalen Feminismus häufig nicht verstanden wird, hängt damit zusammen, dass Rassismus auf die herrschaftliche Dichotomie von Weiß und Schwarz reduziert wird. Gleichzeitig werden Jüdinnen und Juden mit Whiteness identifiziert und damit aus dem antirassistischen Kampf ausgeklammert. Aber der Antisemitismus verläuft nicht entlang der color line; Jüdinnen und Juden sind nicht weiß im Sinn dessen, was Weißsein und damit verbundene Privilegien implizieren: nämlich die Norm zu repräsentieren und dadurch unsichtbar zu sein und in Sicherheit leben zu können. Wird der Whiteness-Frame auf die jüdische Minderheit angewandt, impliziert das eine Bestätigung antisemitischer Verschwörungsmythen, wie z.B. dem übermäßigen Einfluss von Juden in Wirtschaft, Politik und Medien. Jüdinnen und Juden erscheinen als die „Super-Weißen“, womit der globale Antisemitismus aus den antirassistischen intersektionalen Analysen und Praktiken ausgeklammert wird.

Die Unterscheidung zwischen Rassismus und Antisemitismus sollte also auch nicht zu strikt gezogen werden, weil sonst die Gemeinsamkeiten aus dem Blick geraten und der Antisemitismus erst recht aus dem intersektionalen Analyserahmen fällt: Juden werden nicht als eine Minderheit wahrgenommen, die seit Jahrhunderten rassistisch verfolgt wird. Stattdessen wird das Bild umgedreht: Sie erscheinen als weiße Elite und der Zionismus als rassistische Ideologie. Auf einer derart verzerrten ideologischen Grundlage kann der Antisemitismus dann sogar als oppositionell und tadellos antiimperialistisch erscheinen.

Tatsächlich sind Antisemitismus und Rassismus historisch eng miteinander verbunden, haben sich aber nach der Shoah und in postkolonialen Kontexten in unterschiedliche Richtungen entwickelt. Insbesondere in Teilen der Linken funktioniert der zeitgenössische Antisemitismus nicht mehr primär als Rassismus, sondern hat sich in postnationale und zuweilen antinationale Formen gewandelt, in denen Israel als universeller Sündenbock für Kriege und Krisen weltweit instrumentalisiert wird. Der Antizionismus wird dabei ideologisch in eine falsche und verzerrte Kritik des Nationalismus verpackt, vergleichbar mit der verzerrten Kritik des Kapitalismus im Antisemitismus.

Um dem Antisemitismusproblem innerhalb des Intersektionalitätsparadigmas zu begegnen, ist es entscheidend, den Unterschied zwischen zeitgenössischen, israelbezogenen Formen von Antisemitismus und Rassismus zu erkennen und dennoch den Zusammenhang zwischen beiden zu sehen. Israel das Recht abzusprechen, ein jüdischer Nationalstaat zu sein, verweigert Jüdinnen und Juden nicht nur das nationale Selbstbestimmungsrecht, sondern, schlimmer noch, den sicheren Zufluchtsort nach der Shoah und der Erfahrung, dass die Welt nichts dagegen unternommen hatte. Gerade der israelbezogene Antisemitismus aber wird insbesondere in intersektionalen Zusammenhängen gar nicht erkannt bzw. als antirassistisch und oppositionell maskiert.

Generell lässt sich beobachten, dass Intersektionalität in antiisraelischem Aktivismus immer mehr zu einer single-issue-policy zusammenschrumpft und daher zutiefst antiintersektional ist. Das heißt dass Fragen geschlechtlicher und sexueller Selbstbestimmung, einst grundlegend im intersektionalen Paradigma, für Fragen der nationalen Selbstbestimmung instrumentalisiert werden. Dass also ein „Palästina“ zu einer feministischen Angelegenheit erklärt wird, ohne die Geschlechterverhältnisse in der palästinensischen Gesellschaft und den Antifeminismus und die Homophobie der palästinensischen politischen Akteure zu thematisieren. Das ist das eigentliche Pinkwashing.

Als weitere Schwierigkeit, den Antisemitismus innerhalb des Intersektionalitätsrahmens zu analysieren, kommt hinzu, dass der Antisemitismus nicht nur im Hinblick auf die Kategorie der „Rasse“ ambivalent ist, sondern auch hinsichtlich der anderen Kategorien, die für Intersektionalität zentral sind. Das Besondere am Antisemitismus ist, dass er Juden und Jüdinnen als umfassend unzuordenbar behandelt und sie jenseits von Identitätskategorien ansiedelt. So wurde Jüdinnen und Juden unterstellt, die klar gezogenen Grenzen zwischen den Geschlechtern zu verwischen, die Geschlechtsidentität aufzulösen und die Geschlechterrollen und die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung umzukehren. Folglich wurde die Frauenemanzipation auch als jüdische Intrige gegen die Einheit des Volkes gedeutet. Aufgrund der ihnen zugeschriebenen Zwischenstellung in Bezug auf Geschlecht und Sexualität werden Juden bis heute als Bedrohung für die Einheit von Kultur und Gemeinschaft gesehen.

Auch in Bezug auf Klasse ist der Antisemitismus uneindeutig. Er identifiziert Juden und Jüdinnen mit der vermittelnden ökonomischen Zirkulationssphäre, d.h. mit Handel, Bank- und Geldgeschäften. Ihre ökonomische Zwischenposition lässt ihre Klassenlage mehrdeutig und unklar erscheinen: Als Bourgeois traf sie das Klischee, dass ihnen vorgeblich echtes und aufrichtiges Unternehmertum fehlen würde – Juden repräsentierten nur die negativen Auswirkungen des Kapitalismus. Jüdischen Stimmen der Arbeiterklasse wurde unterstellt, sie seien von körperlicher Arbeit entfremdet.

Aufgrund dieses antikategorialen Charakters des Antisemitismus ist er für dominante intersektionale Ansätze, die von der Interdependenz stabiler Kategorien ausgehen, kaum fassbar. Jüdinnen und Juden erscheinen als umfassend unzugehörig zu jedweden Identitätskriterien, die in Intersektionalität immer wichtiger werden. Sie repräsentieren Anti-Identität und damit die Gefahr der Auflösung von Identität. Intersektionale Identitätspolitiken gehen deshalb am Antisemitismus vorbei.

Aber wird Intersektionalität angemessen reformuliert, kann auch der Antisemitismus zu einem Ausgangspunkt intersektionaler Analyse werden. Denn er ist selbst eine intersektionale Ideologie, indem er mit sexistischen, homophoben, rassistischen, ethnozentrischen, nationalistischen und antinationalen Momenten operiert und diese Momente sich in ihm durchdringen. Darüber hinaus spiegelt der Antisemitismus globale ökonomische Klassenverhältnisse und die nationalstaatliche Ordnung in einer pathologisch verzerrten Weise wider und maskiert sich als Kapitalismus- und Imperialismuskritik. So wird deutlich, dass sich auf der ideologischen Ebene Rassismus und Nationalismus, Sexismus und Homophobie sowie die verzerrte Sicht auf die globale Klassengesellschaft im modernen Antisemitismus durchdringen. Die konsequente Analyse dieser ideologischen Überschneidungen kann dem aktuellen Trend zur Fragmentierung, zum repressiven Partikularismus und zum „Identitätshausarrest“ (Vivian Teitelbaum) entgegenarbeiten. Derart reformuliert wird Intersektionalität zu einem Rahmen für die Analyse der großen Zusammenhänge, die unsere Gesellschaft konstituieren und zu einem Narrativ, das die Notwendigkeit einer reflektierten Universalität begreiflich macht und die Enge selektiver Empathie und restriktiver Identitätspolitik durchbricht.

Karin Stögner ist Professorin für Soziologie an der Universität Passau. Sie forschte und lehrte an zahlreichen Universitäten, u.a. an der Goethe Universität Frankfurt, der Georgetown University, der Central European University und an der Hebrew University of Jerusalem. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in kritischer und feministischer Theorie, Antisemitismus-, Gender- und Rassismusforschung und in Intersektionalität. Publikationen u.a. Antisemitismus und Sexismus (Nomos 2014), Sozialwissenschaftliche Denkweisen (new academic press 2016), Kritische Theorie und Feminismus (Suhrkamp 2022).

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