Der moderne Antisemitismus in kapitalistischen Zeiten

Von Olaf Kistenmacher

Eine feindselige Haltung gegenüber dem Kapitalismus ist kein Alleinstellungsmerkmal der radikalen Linken. Es hängt ganz davon ab, was man unter Kapital versteht, wie die verschiedenen politischen Lager ökonomische Krisen erklären und wie ihre Alternativen zum „Kapitalismus“ aussehen sollen. Die NSDAP bezeichnete sich selbst als eine Arbeiterpartei, heutige Nazis mobilisieren jedes Jahr zum 1. Mai. Als sich 2011 die Occupy-Wallstreet-Bewegung in New York gründete, aus der die letzte globale Bewegung mit explizit antikapitalistischem Anstrich wurde, riefen auch einige US-amerikanische Rechtsextreme zur Teilnahme auf. [1]

In den letzten Jahren sagen Antisemit*innen immer häufiger offen, dass für sie der Kapitalismus etwas „Jüdisches“ sei. Das Problem ist allerdings nicht auf die extreme Rechte begrenzt. Denn auch jenseits des völkischen Milieus glauben viele Menschen, „die Juden“ würden in kapitalistischen Gesellschaften besonders profitieren oder eine besondere Macht haben. Im Übrigen gibt es auch Wirtschaftsliberale, die nichts gegen den Kapitalismus an sich haben, die aber ebenfalls „die Juden“ für Ungerechtigkeiten oder Krisen verantwortlich machen.

Das vorherrschende Bild des Kapitalismus hat sich in den letzten 150 Jahren mit allen Vorurteilsformen und Ressentiments verschränkt. So wird die Arbeit von Frauen nach wie vor durchschnittlich schlechter bezahlt als die von Männern, Migrant*innen gelten als unzulässige Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt, und es ist immer wieder zu hören, der nationale Wirtschaftsstandort Deutschland müsse verteidigt werden im Kampf auf dem Weltmarkt.

Dem modernen Antisemitismus kommt in der Wahrnehmung des Kapitalismus allerdings eine spezielle Funktion zu. Nicht nur weil Jüdinnen und Juden seit Jahrhunderten nachgesagt wird, einen spezifischen Hang zum Geld zu haben, sondern auch weil „den Juden“ eine ganz eigenwillige Form der Macht unterstellt wird. Während im Rassismus den vermeintlich Anderen eine sichtbare, körperlich erfahrbare Macht zugeschrieben wird, geht es im modernen Antisemitismus um eine andere, geheimnisvolle unsichtbare Macht. „Die Juden“ sollen demnach in der Lage sein, in die Köpfe anderer Menschen einzudringen oder die rätselhaften Gesetze des Marktes zu beherrschen. Deshalb wird auch nur von ihnen behauptet, sie hätten den Kapitalismus erfunden oder seien dessen Agenten.

Solche Formen eines „antikapitalistischen“ Antisemitismus bleiben so lange eine Gefahr, solange Nichtjüdinnen und Nichtjuden entsprechende Stereotype für wahr halten und solange Menschen unter den schwer fassbaren Zwängen der kapitalistischen Vergesellschaftung leiden, die sich auf scheinbar abstrakte Weise vollziehen und Menschen global vernetzen. Wie der US-amerikanische marxistische Historiker und Philosoph Moishe Postone 1979 in dem Aufsatz „Antisemitismus und Nationalsozialismus“ schrieb, besteht die Gefahr des modernen Antisemitismus darin, dass er „eine umfassende Weltanschauung liefert, die verschiedene Arten antikapitalistischer Unzufriedenheit scheinbar erklärt und ihnen politischen Ausdruck verleiht“. [2] Für Unzufriedenheit gibt es genügend Anlässe und Gründe: Plötzlich ist die eigene Arbeitskraft weniger wert oder der eigene Arbeitsplatz bedroht, obwohl man genauso fleißig war wie zuvor. Bei aller Plackerei kommt man finanziell auf keinen grünen Zweig, während die Vermögen der Reichen fast stündlich wachsen.

Da der Kapitalismus noch Jahrhunderte überdauern kann und antisemitische Vorstellungen auch nicht so schnell aus den Köpfen verschwinden werden, bleibt der politischen Bildung nur eine dritte Möglichkeit. Sie muss dabei helfen, das eigene Schicksal in einer kapitalistischen Welt zu verstehen, ohne in Verschwörungsnarrativen zu denken oder für alle Krisen nach den Schuldigen zu suchen, und sie muss widersprechen, wenn die kapitalistische Gesellschaft zur scheinbar natürlichen Ordnung erklärt wird. Die Bilder von der „gesunden“ Wirtschaft sind allgegenwärtig, und wer sie so wahrnimmt, muss Fehlentwicklungen mit „Heuschrecken“ und anderen „Schädlingen“ erklären. Die Kreuzberger Initiative gegen Antisemitismus hat eine Methode entwickelt, die auf spielerische Weise dazu beiträgt, eine solche personifizierende Sichtweise des Kapitalismus ebenso infrage zu stellen wie die Vorstellung, ökonomische Krisen seien stets die Folge böser Absichten. [3]

In Deutschland kommt die Tradition dazu, die heimische Wirtschaft nicht als kapitalistisch zu bezeichnen, sondern als „soziale Marktwirtschaft“. Bis heute hört man entsprechende Ausrufe, hier sollen doch keine „amerikanischen Verhältnisse“ herrschen. Als sich im 19. Jahrhundert im Deutschen Reich eine Vorstellung vom Kapitalismus etablierte, schien er etwas zu sein, das von außen in die deutsche Gesellschaft eindringen würde, nicht etwas, das die hiesige Marktwirtschaft bereits prägte. So verknüpften sich antikapitalistische Stimmungen mit einem besonderen Nationalismus, der die deutsche Gesellschaft vor dem angeblich fremden Kapitalismus bewahren oder schützen wollte. Jüdinnen und Juden galten zu dieser Zeit im Deutschen Reich, trotz rechtlicher Gleichstellung und trotz Anpassung an den christlichen Mainstream, weiterhin als „Fremde“.

Bis ins frühe 20. Jahrhundert war die Verbindung einer Kritik des Kapitalismus mit antisemitischen Vorstellungen so geläufig, dass sie nicht als judenfeindlich wahrgenommen wurde. Das Buch „Die Juden und das Wirtschaftsleben“ des Soziologen Werner Sombart, in dem er die Probleme der kapitalistischen Gesellschaft auf den „jüdischen Geist“ zurückführte, wurde seit seinem Erscheinen 1911 zu einem Bestseller. Trotz seines Titels zog die Mehrheit seiner Leser*innen bis nach 1945 nicht einmal in Erwägung, ob Sombarts Darstellung antisemitisch sein könnte.

In der pädagogischen Arbeit gegen Antisemitismus begegnen uns heutzutage solche antisemitischen Vorstellungen in verschiedenen Graden: mal nur als übernommene Falschinformation, mal als Mischung aus Faszination und Neid, die in dem antisemitischen Stereotyp der „reichen Juden“ zusammenkommt, mal als tiefer sitzendes Ressentiment. Wer Kollegah mag, kann kaum etwas gegen das Geldmachen haben, und wer Gangsta bewundert, nicht einmal gegen krumme Geschäfte. Nur selten trifft man auf Menschen wie die Mutter des Attentäters von Halle, die im Oktober 2019 dem Spiegel antwortete, ihr Sohn habe „nichts gegen Juden in dem Sinne. Er hat was gegen die Leute, die hinter der finanziellen Macht stecken“. [4]

Die radikale Linke ist in der Frage gespalten, wie man die Herrschaft des Kapitals erklärt. Für die eine Fraktion besteht sie letztlich in der Herrschaft von Menschen über Menschen, von der Bourgeoisie über das Proletariat. Für die andere Fraktion besteht die kapitalistische Gesellschaft im Kern aus Strukturen, die zwar ursprünglich von Menschen geschaffen worden sind, die sich aber im Lauf der Zeit verselbständigt haben. Um den Kapitalismus zu überwinden, reicht es für diese Fraktion nicht aus, die Besitzverhältnisse umzuwerfen. Es muss zudem der strukturelle Zwang überwunden werden, arbeiten zu müssen, um leben zu können. Bis das so weit ist, sollte eine radikale Linke eine Gesellschaftskritik formulieren, ohne auf „Heuschrecken“, auf die „Gier“ der Reichen, auf die „mächtigen Strippenzieher“ oder sogar offen auf antisemitische Stereotype zu verweisen oder auf sie anzuspielen, und entsprechend handeln. In Zeiten von gesellschaftlichen Krisen wie den gegenwärtigen ist das dringend nötig.

Olaf Kistenmacher, Hamburg, arbeitet seit über 20 Jahren als Journalist und als Bildungsreferent in der Pädagogik gegen Antisemitismus und Rassismus. Seine Promotion beschäftigt sich mit antisemitischen Aussagen in der Tageszeitung der KPD, Die Rote Fahne, zur Zeit der Weimarer Republik. Aktuelle Veröffentlichung: Ausgesprochen unausgesprochen. Latenter Antisemitismus und Erinnerungsabwehr innerhalb der Neuen Rechten, Hamburg 2021 (Download).

–> Beyond Frenemies
Gemeinsame Erklärung zur Rücknahme unserer Beiträge aus dem Sammelband „Frenemies“

Dieser Beitrag sollte in dem von Sina Arnold, Saba-Nur Cheema und Meron Mendel herausgegebenen Band Frenemies. Antisemitismus, Rassismus und ihre Kritiker*innen erscheinen. Nachdem im Juni 2022 bekannt wurde, dass in dem Band auch die Pro-BDS-Fraktion der Linkspartei vertreten sein soll, ohne dass wir anderen Autor*innen darüber in Kenntnis gesetzt wurden, haben mehrere Autor*innen ihre Beiträge zurückgezogen. Damit hielt ich den Ansatz von Frenemies, zwischen antirassistischen, postkolonialen und anti-antisemitischen Positionen zu vermitteln, für gescheitert. Dieser Text hätte damit in einem nicht mehr passenden Kontext gestanden.

[1] Sunshine, Spencer, „Die rechte Hand von Occupy Wall Street“, aus dem Amerikanischen von Judith Heckel, in: Jungle World, 11.12.2014. Online abrufbar unter: https://jungle.world/artikel/2014/50/die-rechte-hand-von-occupy-wall-street [letzter Zugriff am 22.04.2022].

[2] Postone, Moishe, „Antisemitismus und Nationalsozialismus“, aus dem Amerikanischen von Dan Diner / Renate Schumacher, in: Ders., Deutschland, die Linke und der Holocaust. Politische Interventionen, Freiburg im Breisgau 2005, S. 165 – 194, hier S. 192.

[3] „Personalisierende Wirtschaftskritik. Die verbrannte Leiche von Ocarina Island“, in: Anders Denken. Online abrufbar unter: https://www.anders-denken.info/agieren/die-verbrannte-leiche-von-ocarina-island [letzter Zugriff am 31.05.2021]. Siehe auch: Can, Mehmet, „Antisemitismus im Kontext von Ökonomiekritik. Eine Unterrichtseinheit der Kreuzberger Initiative gegen Antisemitismus“, in: Gebhardt, Richard / Klein, Anne / Meier, Marcus (Hg.), Antisemitismus in der Einwanderungsgesellschaft. Beiträge zur kritischen Bildungsarbeit, Weinheim/Basel 2012, S. 93 – 105.

[4] „Anschlag von Halle: Die wirre Welt des Attentäters“, in: Spiegel Online, 14.10. 2019. Online abrufbar unter: www.spiegel.de/panorama/justiz/halle-saale-stephan-balliet-bereitete-tat-seit-monaten-vor-a-1291500.html [letzter Zugriff: 29.04.2021].