Was ist wichtiger für den Rechtsextremismus – der Antisemitismus oder der Rassismus?

Von Anja Thiele

Ruft man sich die Höhepunkte rechtsextremer Gewalt der letzten Jahrzehnte in Erinnerung, kommt man vermutlich zu dem Schluss, dass die treibende Kraft der extremen Rechten in Deutschland der Rassismus ist. Die Anschläge gegen Asylbewerber*innenheime in den 1990er-Jahren, die Ermordung von neun Migranten durch den NSU, die Hetze gegen Geflüchtete und der Aufschwung einer gegen Migration und Asyl agitierenden Partei, die Frontstellung gegen eine vermeintliche „Islamisierung des Abendlandes“ sowie die Terroranschläge in Kassel 2019 und Hanau 2020 prägten das öffentliche Bild des Rechtsextremismus der letzten Jahre maßgeblich. Dass Rassismus ein elementarer und besonders virulenter Aspekt rechtsextremer Ideologie ist, ist allein aufgrund der Wucht der empirischen Fakten evident. Dabei gerät in der öffentlichen Wahrnehmung, aber auch bis in die Wissenschaft hinein bisweilen aus dem Blick, welche wichtige Rolle der Antisemitismus für den Rechtsextremismus spielt – und inwiefern Rassismus und Antisemitismus innerhalb rechtsextremer Ideologie auch zusammenwirken können.

Wie aber ließe sich das Verhältnis von Rassismus und Antisemitismus im Rechtsextremismus beschreiben? Zunächst kann festgehalten werden, dass allen Varianten des Rechtsextremismus als kleinster gemeinsamer Nenner eine Ideologie der Ungleichheit zugrunde liegt. Diese zielt nach innen auf eine völkische Gemeinschaft, also auf eine Gemeinschaft, die als ein vermeintlich „natürliches“ und ethnisch homogenes Kollektiv gedacht wird. Dem völkischen Kollektiv ist das Individuum bedingungslos untergeordnet, Werte wie Freiheit, Pluralismus und Demokratie werden dezidiert ablehnt. Die „natürliche“ Homogenität wird wahlweise rassistisch-biologistisch („weiße Rasse“) oder kulturalistisch („christliches Abendland“) begründet. Nach außen zielt die Ideologie der Ungleichheit auf die Hierarchisierung und Separierung der „Völker“. Diese artikulieren sich wiederum in rassistischen und antisemitischen Einstellungen, aber auch in Sexismus, Sozialdarwinismus und Autoritarismus. Sowohl Rassismus als auch Antisemitismus sind also dem extrem rechten Denken strukturell inhärent (Salzborn 2018).

Im Laufe der Geschichte der extrem rechten Mobilisierung seit 1945 hatten jedoch antisemitische und rassistische Themen unterschiedlich Konjunktur, wie Richard Stöss‘ Analyseansatz zeigt (2010: 31-46). Tatsächlich waren es antisemitische Kampagnen, die über Jahrzehnte hinweg den rechtsextremen Diskurs prägten. In der unmittelbaren Nachkriegszeit bis weit in die 1980er-Jahre hinein dominierten geschichtsrevisionistische Positionen, die zum Teil affirmativ an den Nationalsozialismus anknüpften und mit einer antisemitisch aufgeladenen Schuld- und Vergangenheitsabwehr einhergingen. Die beiden herausragenden Kampagnen der extremen Rechten dieses Zeitraums fokussierten auf die Wiederherstellung des Deutschen Reichs und die durch Kriegsniederlage zerrütteten deutschen „Identität“. Die Rettung der deutschen „Ehre“ war nur mittels massiver Revision der offiziellen Geschichtsschreibung zu haben. Über vierzig Jahre übte sich die extreme Rechte in der Relativierung und der Leugnung des Holocausts, der Schuldabwehr und -aufrechnung („Bombenholocaust“) sowie der antisemitischen Täter-Opfer-Umkehr, die etwa unterstellte, Juden zögen finanziellen oder moralischen Gewinn aus der Shoah. Zurecht bezeichnet die Antisemitismusforschung all diese Formen des Geschichtsrevisionismus, die bis weit in konservative und bürgerliche Kreise hineinwirkten, mit dem Begriff des Schuldabwehr- oder Post Shoah-Antisemitismus als eine spezifische Form des Antisemitismus seit 1945.

Obwohl ein solcher Schuldabwehr-Antisemitismus bis heute zum Stammarsenal extrem rechter Themen gehört, wurde der Diskurs seit den 1980er-Jahren zunehmend vom rassistischen Diskurs der „Überfremdung“ übertönt. Die Agitation gegen Einwanderung und „Multikulti“, die die Homogenität des eigenen „Volks“ bedrohen und angeblich Wurzel aller wirtschaftlichen, sozialen und politischen Probleme bilden, mobilisierte verstärkt Wähler*innenstimmen und verschaffte rechtsextremen Positionen auch innerhalb der Mitte der Gesellschaft Aufwind. Zum anhaltenden politischen Erfolg des Überfremdungsthemas trug eine bis heute steigende Tendenz bei, sich vom biologistischen Rassenbegriff zu distanzieren und stattdessen einen Ethnopluralismus zu propagieren. Diesen hatte die Neue Rechte, eine in den 1960er-Jahren aufkommende, „intellektuelle“ Bewegung der extremen Rechten, in das Ideologiespektrum eingeführt. Obwohl sich der Ethnopluralismus nicht mehr auf die Verschiedenheit der Rassen, sondern der Kulturen beruft, kann das streng antiegalitäre Konzept im Sinne eines „Rassismus ohne Rassen“ als Form des Neorassismus bezeichnet werden.

In der Tat bilden rassistische Mobilisierungsthemen – wie sich nicht zuletzt an Aufstieg muslimfeindlicher Positionen seit den 2000er-Jahren erkennen lässt – bis heute einen Kernbereich im rechtsextremen Diskurs. Allerdings haben sich die Argumentationsmuster im Laufe der vergangenen zwanzig Jahre noch erweitert: zum einen um einen Antiglobalisierungs-, und zum anderen um einen Verschwörungsdiskurs (Salzborn 2018). Beide Diskurse zeichnen sich dadurch aus, dass sie weiterhin an der Oberfläche mit rassistischen Motiven operieren, die jedoch im Kern einer strukturell antisemitischen Denklogik folgen (Botsch 2019). Ein Beispiel ist etwa die populäre verschwörungsideologische Erzählung des „Großen Austauschs“, in der die weiße Mehrheitsbevölkerung angeblich schrittweise durch muslimische bzw. nicht-weiße Einwanderer*innen ersetzt wird. Als Urheber*innen dieser „Umvolkung“ und damit auch verantwortlich für die „Migrationsströme“ und die „Islamisierung“ werden letztlich – mal mehr und mal weniger explizit – Juden und Jüdinnen gemacht. Insofern verbindet der gegenwärtige Rechtsextremismus rassistische mit antisemitischen Narrativen. Oder andersherum: Antisemitische Narrative kommen vermehrt auch im Gewand rassistischer Topoi daher.

In manchen Teilen des rechtsextremen Spektrums hat der Antisemitismus sogar die Oberhand über rassistische Ressentiments gewonnen: Er dient einer proislamisch ausgerichteten Fraktion der extremen Rechten als Integrationsideologie für krude Allianzen mit Islamisten oder palästinensischen Terroristen (Weiß 2017). Der Fokus auf das Offensichtliche in der rechtsextremen Agitation – den Rassismus – sollte nicht die Sicht auf den darunterliegenden, dezidierten Antisemitismus verstellen.

Anja Thiele (Dr. phil.) ist Literaturwissenschaftlerin und wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Germanistische Literaturwissenschaft der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Sie forscht und lehrt u.a. zu deutsch-jüdischer Literatur und Holocaustliteratur, Erinnerungskultur und Antisemitismus sowie dem Verhältnis von Literatur und Gesellschaft.

–> Beyond Frenemies
Gemeinsame Erklärung zur Rücknahme unserer Beiträge aus dem Sammelband „Frenemies“

Literaturverzeichnis:

Botsch, Gideon, „Rechtsextremismus und ‚neuer Antisemitismus‘“, in: Glöckner, Olaf / Jikeli, Günther (Hg.), Das neue Unbehagen. Antisemitismus in Deutschland heute, Hildesheim 2019, S. 21–38.

Salzborn, Samuel, Rechtsextremismus. Erscheinungsformen und Erklärungsansätze. 3., überarbeitete und erweiterte Auflage, Wiesbaden 2018.

Stöss, Richard, Rechtsextremismus im Wandel. 3., aktualisierte Auflage, Berlin 2010.

Weiß, Volker, Die autoritäre Revolte. Die Neue Rechte und der Untergang des Abendlandes, Stuttgart 2017.