Wann ist es Antisemitismus?

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„Neue Definition notwendig“, „Keine Abgrenzung bislang“, „Keine wissenschaftliche Definition“, „Keine präzisen Kriterien vorhanden“, „Brauchen Alternative“ ?

Von Evyatar Friesel

Die Working Definition of Antisemitism der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) gibt eine gute, bewährte Grundlage für die tagtägliche Arbeit mit dem Thema aktueller Antisemitismus. Von Anfang an war das Bestreben, eine praxisnahe Beschreibung von Antisemitismus zu liefern, um es auch und gerade nicht wissenschaftlich geschulten Akteuren aus Politik, Justiz und Polizei zu ermöglichen, antisemitische Handlungen zu erkennen und zu beurteilen. (S. hierzu u.a. Comprehending and Confronting Antisemitism)

Jahrzehnte nach dem Zivilisationsbruch der Shoah fand so endlich ein praktikabel einsetzbarer Text breite Akzeptanz. Dass die IHRA Arbeitsdefinition trotz zum Teil heftiger Diskussionen und politischer Divergenzen mittlerweile so vielen Ländern und Institutionen als Grundlage für die anwendungsorientierte Aufklärung im Alltag dient, ist als ein Meilenstein, als ein großartiger Erfolg im internationalen Bemühen um den Kampf gegen Antisemitismus zu sehen. Und sie heißt „Arbeitsdefinition“ nicht etwa, weil an ihr noch gearbeitet werden muss, sondern weil sie als eine rechtlich nicht bindende Hilfestellung, eine Richtlinie in der Praxisarbeit gegen modernen Judenhass anzusehen ist, wobei sie sich hervorragend bewährt hat. Daher bekräftigten auch 2018 auf dem Weltkongress gegen Judenhass in Wien über 150 Antisemitismusforscher aus den verschiedensten akademischen Disziplinen sowie zahlreiche Führungspersönlichkeiten aus Politik und Gesellschaft ausdrücklich die Relevanz der Arbeitsdefinition

Anders als oft behauptet, stößt also die IHRA Working Definition (oder WDA für Working Definition of Antisemitism) auf breite Unterstützung in der internationalen Wissenschaft. Kürzlich erschien entsprechend ein deutliches Signal von über 350 Intellektuellen und Forschern aus aller Welt: https://adoptihra.com/supporting-ihra/

Und so lautete auch das treffende Fazit  des akademischen Panels zur WDA  in Wien: „…it would seem that the WDA does not pose a threat to anyone but to antisemites“.

Wer die IHRA-WDA heute aus politischen oder ideologischen oder vorgeschoben aus wissenschaftlichen Gründen kritisiert, muss sich daher fragen lassen, wem oder welcher Sache dies dienen soll, vor allem dann, wenn solch eine Kritik Jahrzehnte der Antisemitismusforschung systematisch ausblendet und alles andere als wissenschaftlich ist.

Warum kursieren überhaupt seit Jahren gebetsmühlenartig  Behauptungen durch den medialen und öffentlichen Debattenraum, man „verfüge noch nicht über hinreichend Forschung“ oder man „vermisse eine präzise Wissenschaftsdefinition zu Antisemitismus“?

Von der einschlägigen Forschung sind solche Aussagen längst als alternative Fakten bar jeder Realität entlarvt. Eventuell werden sie immer wieder in den Diskurs geworfen, weil man dadurch unverdächtig einen effektiven Kampf mit der vorherrschenden Form des Juden-Hasses im 21. Jahrhundert, der „Israelisierung des Antisemitismus“, in die Zukunft ver- und abschieben kann?

Es  mangelt der Antisemitismusforschung keineswegs an Erklärungen und präzisen Definitionen, die sich trotz unterschiedlicher Ausrichtungen seit Jahrzehnten in wesentlichen Punkten überschneiden: Judenfeindschaft ist ein Ressentiment, tief verankert im westlichen Denken und Fühlen, auf affektiven Stereotypen fußend, eine religions- und kulturhistorisches Kategorie, die Juden als das Übel der Welt stigmatisiert und dabei im Laufe der Jahrhunderte chamäleonartig diese kollektive Entwertung stets passend und zeitgemäß angepasst hat. Wer die Grundlagenwerke der Antisemitismusforschung u.a. von J. Trachtenberg, L. Poliakov, J. Katz, Y. Bauer, S. Volkov, R. Wistrich oder D. Nirenberg kennt, der weiß das. Und der weiß auch, dass deshalb und nicht aufgrund des Nahostkonflikts seit 1948 der Fokus aller Antisemiten auf das wichtigste Symbol jüdischen Lebens, den Staat Israel, gerichtet ist.

Und auch die Frage, wann eine Äußerung als antisemitisch zu bewerten sei und wie man legitime rationale Kritik an israelischer Politik abgrenzen kann von Verbal-Antisemitismen, ist längst datenreich erforscht und erklärt.

Wer sich wissenschaftlich elaborierter und analytisch präzise mit den Manifestationen des aktuellen Judenhasses auseinander setzen möchte, findet seit bald zehn Jahren in dem 400-Seiten-Standardwerk von Monika Schwarz-Friesel und Jehuda Reinharz dazu Dechiffrierungs- und Klassifikationsmerkmale, eingebettet in detaillierte Erklärungen. Hier wird auch wissenschaftlich fundiert erläutert, warum der Kontext keine (entscheidende) Rolle bei der Einordung von antisemitischen Äußerungen spielt, sondern die Semantik ausschlaggebend und gefährlich ist. Um dies noch einmal zu verdeutlichen, folgen einige ausgewählte Seiten aus diesem Buch.

Wann ist es Antisemitismus?
Wissenschaftliche Klassifikationskriterien

Aus: Die Sprache der Judenfeindschaft im 21. Jahrhundert“ 

Von Monika Schwarz-Friesel und Jehuda Reinharz

„Antisemitismus liegt vor, wenn in einer Äußerung eine generelle und/oder spezifische judenfeindliche Einstellung ausgedrückt wird. Diese als kognitive Repräsentation mit emotiver Komponente zu verstehende Einstellung kann explizit oder implizit ausgedrückt werden. Wir unterscheiden dabei zwischen einem intentionalen und einem nicht-intentionalen Verbal-Antisemitismus.

Beim intentionalen Antisemitismus liegt der Sprachproduktion auf der Konzeptualisierungsebene eine anti-jüdische mentale Repräsentation zugrunde und der Prozess der Verbalisierung wird durch diese Konzeptrepräsentation sowie eine Negativemotion bewusst beeinflusst. Zudem liegt die Intention (als Handlungsabsicht) der Äußerung in der absichtlichen Diskriminierung und Diffamierung von Juden.

Beim nicht-intentionalen Antisemitismus gibt es zwei Varianten:

Bei der ersten Variante liegt der Sprachproduktion auf der Konzeptualisierungsebene eine anti-jüdische mentale Repräsentation (im Sinne eines stereotypen Konzeptmusters) zugrunde. Der Prozess der Verbalisierung wird durch diese mentalen Stereotype bewusst beeinflusst. Hier sind als Beispiele Äußerungen wie (1), (2) und (3) zu nennen, die sich auf das Stereotyp JUDEN HABEN EINE SPEZIFISCHE PHYSIOGNOMIE beziehen:

(1)       Ich hätte Sie nie für einen Juden gehalten!

(2)       Sie sehen ja gar nicht jüdisch aus. (vgl. etwa, wie seltsam das Folgende klingt: Sie sehen ja gar nicht katholisch/protestantisch/atheistisch aus.).

(3)       Der Kommilitone mit der jüdischen Nase. (vgl.: Der Kommilitone mit der buddhistischen Nase.)

Hierzu zählen auch Äußerungen, die auf der Unkenntnis über Juden und der damit verbundenen Gleichsetzung von Juden und Israelis beruhen:

(4)       Und, war es schön in der Heimat? (Kontext: Frage an eine von einer Israelreise zurückkommende deutsche Jüdin)

(5)       Was sagen Sie denn zu den neuesten Aktionen Ihres Ministerpräsidenten (ähnlicher Kontext; solche Fragen werden regelmäßig deutschen Juden gestellt)

Das zugrundeliegende Stereotyp ist DIE HEIMAT DER JUDEN IST ISRAEL bzw. JUDEN SIND KEINE DEUTSCHEN. Diese Äußerungen beruhen auf spezifischen Konzeptualisierungen, werden jedoch oft gar nicht mit der Intention einer antisemitischen Abwertung produziert.

Bei der zweiten Variante wird die Verbalisierungsphase allein durch habitualisierte Floskeln/Redewendungen beeinflusst, die im mentalen Lexikon aufgrund der langen Geschichte judenfeindlicher Stereotype und Sprachgebrauchsmuster als festgefügte Wortkopplungen gespeichert sind. Antisemitische Konzeptualisierungsprozesse spielen dabei (in der Regel) keine Rolle.

(6)       Das ist ja ein jüdisches Mauscheln./ Schacher wie beim Juden. Jüdische Hast/Jüdischer Wucher/Preise wie beim Juden.

Es handelt sich hierbei um sprachliche Phrasen im Sprachgebrauch bzw. im kommunikativen Gedächtnis, die seit Generationen im Diskurs benutzt werden, aber heute nicht notwendigerweise intentional diskriminierend benutzt werden. Durch ihre zumeist unbewusste klischeefestigende und stereotyperhaltende Funktion jedoch tragen sie maßgeblich zum Erhalt von antisemitischen Schablonen bei.

Auch die in nahezu allen öffentlichen Diskursen (oft ohne böse Absicht) zu rezipierende Phrase von

(7)       Deutsche und Juden

trägt zur Abgrenzung bzw. zur permanenten Konzeptualisierung eines Dualismus bei, der im völkisch-national geprägten 19. Jahrhundert bewusst als Differenzkonstruktion kommuniziert wurde. Vgl. dagegen etwa die Formulierungen in (7a), deren Gebrauch als markiert, als höchst ungewöhnlich auffällt.

(7a)     die Deutschen und die Katholiken/ die katholischen Deutschen

Nicht-intentionaler Antisemitismus ist hinsichtlich seiner Auswirkung auf das individuelle wie das kollektive Bewusstsein allerdings genauso gefährlich wie intentionaler Judenhass, denn das menschliche Gehirn unterscheidet nicht nach Kontext oder Absicht: Es aktiviert die über die Semantik zum Ausdruck kommenden  Bedeutungen sowie Gefühle und intensiviert bereits gespeicherte (oder konstituiert) geistige Modelle mit antisemitischen Stereotypen. Stereotyperhaltende Äußerungen über Juden sind also per se immer als verbal-antisemitisch zu betrachten.  …

Verbale Judenfeindschaft zeichnet sich seit Jahrhunderten durch eine Semantik aus, die auf den Prozessen der Abgrenzung (‚Wir Deutsche/Ihr Juden‘, ‚Juden gehören nicht zu uns‘), der Stereotypfestlegung (‚geldgierige, rachsüchtige, ränkeschmiedende Landräuber‘) und der Entwertung (‚das Schlimmste auf Erden‘, ‚größte Gefahr für den Weltfrieden‘) basiert. Seit der Gründung Israels steht der jüdische Staat als wichtigstes Symbol für gelebtes Judentum im Fokus. …

Intentionaler Antisemitismus liegt insbesondere vor, wenn (negative) Verallgemeinerungen als Kollektivattribuierungen ausgedrückt werden, wobei vom Individuum auf die Gruppe geschlossen wird, z. B. in Äußerungen wie Er ist geldgierig und machthungrig/ein Wucherer/ein bolschewistischer Verbrecher. So sind die Juden eben. /Typisch Jude/jüdisch oder von der Gruppe auf das Individuum geschlossen wird, wie in Die Juden hängen am Gelde. So verwundert es nicht, dass Greenspan ins Bankgeschäft ging.

Die stereotypen Eigenschaften können explizit ausgesprochen und zugeordnet oder implizit unterstellt werden. Dabei spielen Paraphrasen, Chiffren, rhetorische Fragen, Bibelzitate und die Benutzung jüdischer Namen eine entscheidende Rolle (denn seit 1945 überwiegen die Camouflage-Antisemitismen):

(8)       Dass  gewisse Kreise seit Jahrhunderten die Presse beherrschen, ist doch bekannt. / Warum hält sich wohl bei der Diskussion eine solche Hypermoral in der Gesellschaft? / Die meinungsbestimmenden Macher an der Ostküste verstehen seit langem ihr Geschäft. / Rothschild lässt grüßen./ Diese Haltung entspricht der alttestamentarischen Rachsucht.

Antisemitismus liegt vor, wenn eine völkisch-rassistische Definition die Basis bei der Zuordnung „Jüdisch-Sein“ ist: in dem Sinne, dass Jude Jude bleibt, auch nach individuell gewählter und vollzogener Konvertierung (so wie es in der NS-Zeit war). Nicht das Individuum mit seiner Selbstbestimmung steht hier konzeptuell im Vordergrund, sondern seine Abstammung. Es handelt sich z.B. bei der Person um einen Katholiken/Protestanten/Atheisten etc., aber die Kategorisierung und Evaluation erfolgt über die jüdische Herkunft.

(9)       Jude bleibt immer Jude. / Seine jüdischen Vorfahren. / Seine Abkehr vom Judentum änderte nichts an seiner jüdischen Abstammung. / Er war ein nicht religiöser Jude. / Seine jüdische Herkunft kann man nicht vergessen. 

Verbaler Antisemitismus liegt vor, wenn in den Äußerungen die Verantwortung der Deutschen für den Holocaust geleugnet oder relativiert wird, wenn historische Fakten, die die Judenvernichtung betreffen, verzerrt oder falsch dargestellt werden, wenn eine Täter-Opfer-Umkehr z.B. durch NS-Vergleiche ausgedrückt oder angedeutet wird, und wenn für das Ende der Erinnerungs- und Verantwortungskultur argumentiert wird.

(10)     Die Zahlen zu den getöteten Juden sind unrealistisch. / Es gab in der Geschichte auch andere, nicht-deutsche, sondern jüdische Metzeleien. / Und wer redet von den dunklen Seiten der Juden? / Die Juden sind eigentlich Nutznießer des Holocaust. / Die Wiedergutmachungszahlungen für Nicht-Deutsche sollten endlich eingestellt werden. / Wer braucht denn ein Holocaustdenkmal? / Die Juden in Israel heute agieren wie die Nazis./ Wollen wir uns nicht endlich befreien von der Last der Geschichte und vergessen?

Verbaler Antisemitismus liegt vor, wenn die Begriffe Israel, Zionismus und Juden(tum) gleichgesetzt oder vermischt werden, um eine kritische oder feindselige Haltung allen Juden gegenüber auszudrücken, wenn die Position des Zionismus diffamiert wird (z.B. als „rechtsradikal, nationalistisch“) wenn der Staat Israel durch De-Realisierungen (wie „Apartheidsstaat“ oder „Kolonialstaat“) delegitimiert wird, wenn er unikal diskreditiert und mit Boykott oder eliminatorisch mit Auslöschung oder aufgezwungener Veränderung bedroht wird:

(11)     Die jüdischen Zionisten agieren in Israel auf die ihnen typische Weise. / Der Zionismus der Juden bringt Unglück über ein anderes Volk. / Die Bombe drauf werfen./ Auflösen und multi-religiös gestalten! /Die  Existenzberechtigung Israels muss in Frage gestellt werden dürfen.

(12)     Boykottiert Israel!/ Boykott jüdischer Firmen! / Apartheidsstaat / Unrechtsland auflösen.

Verbaler Antisemitismus liegt vor, wenn in der Referenz auf Israel bzw. in der Israel-Berichterstattung negative judeophobe Stereotype und emotionale Perspektiven eingesetzt werden, um generelle Negativzuschreibungen und jüdisch-israelische Gleichsetzungen sowie kollektive Generalisierungen zu erzielen.

(13)     Zahn um Zahn“ ist die alte jüdische Devise bei den Vergeltungsaktionen der Israelis. / Das uralte jüdische Vergeltungsprinzip findet bei den brutalen Aktionen des israelischen Militärs erneut seine Anwendung. / Wer stoppt dieses alttestamentarische Gemetzel?  / Aber die Juden haben ihre eigenen Fundamentalisten. Sie folgen dem Gesetz der Rache / Kindermörder Israel!

Dabei finden nicht nur in rechts- und (zunehmend) linksextremen Kreisen antisemitische Inhalte in der Form von sogenannter „Israel-Kritik“ Verbreitung. Mittels oft subtiler Argumentations- und Darstellungsstrategien, die auf den ersten Blick nicht als antisemitisch erscheinen, werden mentale Modelle konstruiert, in denen erstens Israel über das Konzept JUDENSTAAT kontinuierlich als mutwilliger Aggressor erscheint und zweitens klassische Stereotype des Antisemitismus bei der Beschreibung israelischer Personen oder Aktivitäten benutzt werden. Auch im alltäglichen Diskurs hat sich in den letzten zehn Jahren zunehmend die Tendenz ausgebreitet, juden- und/oder israelfeindliches Gedankengut unter dem Deckmantel von Kritik und dem Verweis auf die Meinungsfreiheit von sich zu geben. Israelbezogener Antisemitismus, heute die vorherrschende Variante, wird dabei oft geleugnet oder marginalisiert.   (…)

Kritik versus Anti-Israelismus: zwei verschiedene Sprachhandlungen

Im 21. Jahrhundert ist die als Israel-Kritik deklarierte, tatsächlich aber antisemitisch fundierte Umwegkommunikation,[1] die auf Israel referiert, aber Juden allgemein meint, die dominante Verbalisierungsmanifestation für die Artikulation und Verbreitung von judenfeindlichem Gedankengut. Israel wird mittels der Sprache verteufelt und an den Pranger gestellt, und es hat sich so (unter Rekurs auf alte Stereotype) über die letzten Jahre ein anti-israelisches Zerrbild etabliert.

Gesellschaftlich problematisch an dieser Sachlage ist dabei vor allem, dass es nicht nur kein ausgeprägtes Problembewusstsein für die Gefahren eines solchen (Stereotype transportierenden und Ressentiments verstärkenden) Sprachgebrauchs gibt, sondern dass auch reflexartig Verteidigungsmechanismen für ihn einsetzen, die eine gesamtgesellschaftliche Kritik und Zurückweisung verhindern. Die Versuche der Wissenschaft, die Brisanz bestimmter Kommunikationsformen und Sprachgebrauchsmuster bei diesem Thema aufzuzeigen, stoßen oft sofort auf eine automatische, emotionale Abwehrhaltung bei vielen Deutschen. Von Äußerungen wie Das ist eine Gleichschaltungspolitik! bis Wir sollen alle mundtot gemacht werden! reicht die Palette der Abwehrkommunikation, die auch von Vertretern der sogenannten Eliten(institutionen) benutzt wird. Die prinzipielle Verweigerung vieler Menschen, sich auf eine seriöse, an Fakten orientierte Diskussion einzulassen oder wenigstens Zweifel an der unangemessenen Form bestimmter Sprechhandlungen zuzulassen, erschwert eine sachliche Auseinandersetzung. Die nach den Verbrechen der NS-Zeit entwickelten Maximen von „Nie wieder“ und „Wehret den Anfängen“ in Bezug auf Stereotypkodierung sowie das Bewusstsein für die Gefahren und möglichen Auswirkungen eines auf drastische Feindbildrhetorik reduzierten Sprachgebrauchs scheint dabei auch bei gebildeten Menschen, die entsprechende Äußerungen als „Meinungsfreiheit“ und „individuellen Einstellungsausdruck“ verharmlosen oder sogar verteidigen, komplett ausgeblendet zu sein. (.…)

Je mehr Argumente und Fakten aus der Forschung kommen, die die antisemitische Dimension des Anti-Israelismus transparent machen, desto größer und erbitterter ist der Widerstand der selbsterklärten Israel-Kritiker.

Selbst klar als verbal-antisemitisch erkennbare Äußerungen werden als „anti-antisemitisch“ ausgegeben. Allen bislang in der öffentlichen Diskussion vorgebrachten Bedenken und Negierungen zum Trotz ist hier eine klare Unterscheidung möglich: Beide kommunikativen Phänomene können präzise voneinander abgegrenzt werden: https://www.degruyter.com/document/doi/10.1515/9783110277722.194/html

Die hier erörterten Kriterien verbinden kognitionswissenschaftliche Dechiffrierung mit historischer Reflexion und ermöglichen es, im Rahmen der interdisziplinären Antisemitismusforschung, mit einem Analyse-, Klassifikations- und Beschreibungsinstrumentarium zu arbeiten, das hilft klar zu entscheiden, ob und wann eine sprachliche Äußerung unzweideutig antisemitisch ist; mittels dieser Klassifikationskriterien die Charakteristika des aktuellen Antisemitismus präzise zu beschreiben, wobei sowohl die expliziten als auch die impliziten, über Implikaturen zu erschließenden Formen erfasst werden; eine Abgrenzung von Antisemitismus, Anti-Israelismus und Anti-Zionismus vorzunehmen, die zugleich die Überschneidungen dieser Konzeptualisierungen und ihrer Manifestationsformen aufzeigen kann; die gegenwärtigen antisemitischen Äußerungen mit ihren besonderen konzeptuellen Eigenschaften sowie zugrundeliegenden emotionalen Einstellungen wissenschaftlich einzuordnen und zu erklären.“

Quelle:

Schwarz-Friesel, M./J. Reinharz 2013, Die Sprache der Judenfeindschaft im 21. Jahrhundert, Boston, Berlin: de Gruyter, open access:
https://www.degruyter.com/document/doi/10.1515/9783110277722/html

Englische Ausgabe: Schwarz-Friesel, M./J. Reinharz , 2017, Inside the Antisemitic Mind. The Language of Jew Hatred. Chicago: The University of Chicago Press.

Bild oben: Antisemitische Hetze im Wahlkampf der neonazistischen Partei „Die Rechte“, (c) J. Marken

[1] Da der offene Antisemitismus seit 1945 verpönt ist und sanktioniert wird, hat sich diese Variante der impliziten Verbalisierungsform etabliert. Die Sprachproduzenten können sich stets auf die Schutzbehauptung zurückziehen, sie seien keineswegs antisemitisch eingestellt, sondern würden lediglich Kritik an Israel üben. Teilweise handelt es sich allerdings nicht um einen „kommunikativen Umweg“, sondern um eine Doppel-Referenz-Kommunikation, insofern, als zugleich Juden und der Staat Israel angegriffen werden.