Ist Kritik an Israel antisemitisch? Oder: gibt es israelbezogenen Antisemitismus?

Von Monika Schwarz-Friesel [1]

Warum geistern Schlagzeilen wie diese immer wieder durch mediale und öffentliche Debatten? Warum werden zu diesen – doch längst einschlägig und weitgehend unisono von Experten beantworteten Fragen – heftige Streitgespräche geführt? Angesichts der jahrelangen, umfangreichen Aufklärungs- und Forschungsarbeit zu diesem Thema ist das höchst verwunderlich. Oder nicht?

Vorab kurz zu den Antworten, die seit zwei Jahrzehnten geduldig von der Forschung gegeben werden: Nein, Kritik an Israel ist nicht per se antisemitisch. Ja, es gibt israelbezogenen Antisemitismus und dieser ist im 21. Jahrhundert sogar die bei weitem häufigste Form des Judenhasses.

Ja, unter dem Vorwand, politische Kritik zu artikulieren, wird oft lupenreiner Antisemitismus verbreitet. Nein, es gibt weder ein Kritiktabu an israelischer Politik, noch halten sich deutsche Medien bei diesem Thema zurück.

Stichprobenanalysen zu Konfliktberichten[2] zeigen vielmehr, dass in Presse und öffentlichem Diskurs Israel sogar besonders oft und scharf kritisiert wird. Und sie entlarven Behauptungen vom „vorauseilenden Gehorsam“, von „deutscher Zurückhaltung“, die ein angebliches Tabu und eingeschränkte Meinungsfreiheit beklagen, als reine Phantasmen. Diese basieren auf dem Stereotyp des 19. Jahrhunderts ‚Juden hätten in der deutschen Presse das Sagen‘ (so etwa Wilhelm Marr). Auch das Mantra, Kritik an Israel würde stets mit Antisemitismus gleichgesetzt, es bestehe eine „Hermeneutik des Verdachts“, ist empirisch widerlegt.[3] Doch Antisemiten wollen sich diese zeitgemäße Kommunikation nicht nehmen lassen; deshalb ist ihr Widerstand gegen Fakten und Forschung so vehement. Mittlerweile gipfelt die Abwehr gar in Verschwörungsfantasien der Art „israelbezogener Antisemitismus sei eine Erfindung, um Kritik am Zionismus zu skandalisieren“ (so etwa 2020 von einem Journalisten auf Twitter). Extremisten und Fundamentalisten lesen dies mit großer Genugtuung.

Israelhass ist kein autonomes, kein wirklich neues Phänomen, sondern untrennbar gekoppelt an die uralte Judenfeindschaft, deren Tradition auf diese Weise modern fortgeführt wird. Israelbezogener Antisemitismus weist alle Merkmale des klassischen Judenhasses[4] und auch seine Obsession auf: Die Zuordnung von erfundenen negativen Eigenschaften (wie „rachsüchtig“, „gierig“, „räuberisch“), kollektive Projektion (auf alle Jüdinnen und Juden, auf den gesamten Staat Israel), Ab- und Ausgrenzung mit einem unikalen Anspruch („größtes Übel in der Welt“) sowie absolute Entwertung („hat keine Existenzberechtigung“).

Dass Israel, als wichtigstes Symbol jüdischen Lebens in der Welt, im Fokus aller Antisemiten steht, folgt der chamäleonartigen Wandlungsdynamik von Judenhass: Im Laufe der Jahrhunderte hat sich Judenfeindschaft stets den gesellschaftlichen Normen angepasst, um unter Beibehaltung des Ressentiments in der jeweils neuen Phase möglichst effektiv die Existenzformen jüdischen Lebens zu attackieren. Nach 2.000 Jahren Ausgrenzung, Benachteiligung und Verfolgung erlaubt Israel eine genuin jüdische Lebensweise. Daher ist Israel der Stachel im modernen antisemitischen Geist.

Israelbezogener Antisemitismus ist Antisemitismus, nichts anderes.

Mit einem Satz lässt sich der auf einer bloßen Substitution basierende israelbezogene Antisemitismus erklären: Statt auf Jüdinnen und Juden bzw. Judentum, wird auf Israel referiert. Durch diese Camouflage, diese Umwegkommunikation will man sich in der Post-Holocaust-Gesellschaft gegen den Vorwurf des Antisemitismus immunisieren. Der Nahostkonflikt fungiert für diese „ehrbaren Antisemiten“ (Jean Améry) lediglich als Vorwand und Katalysator. Abwehr und Leugnung gehören untrennbar dazu.

Der für Judenhass typische Veränderungs-, Auslöschungs- und Erlösungswille wird auf Israel projiziert: Die eliminatorischen Forderungen verlangen je nach politischer Richtung entweder die Zerstörung oder Auflösung bzw. die radikale Veränderung in einen multi-religiösen Staat. Und sie führen so die kulturhistorische Tradition fort, Jüdinnen und Juden als das Übel in der Welt zu sehen. Israel fungiert in diesem Prozess als „kollektiver Jude“ (so bereits Léon Poliakov) und erhält entsprechend alle Phantasieeigenschaften des Hasskonzeptes vom „ewigen Juden“. Die „Israelisierung der antisemitischen Semantik“[5] zeichnet sich zum einen dadurch aus, dass klassische Stereotype („Kindermörder“, „Landräuber“[6], „Krankheitsauslöser“) auf Israel projiziert werden, zum anderen dadurch, dass Jüdinnen und Juden überall auf der Welt kollektiv wegen des Konfliktes attackiert werden. Die international anerkannte IHRA-Definition konzentriert sich daher zurecht auf den israelbezogenen Antisemitismus, da dieser sich global immer weiter ausbreitet.

Ist eine nicht antisemitische Kritik problemlos möglich? Selbstverständlich. Wir sehen und hören sie regelmäßig in der Presse. Und gerade bei dieser Kritik sehen wir den Unterschied:[7] Politisch verantwortungs- und geschichtsbewusste Kritiker benutzen keine Derealisierungen („Genozid“, „Holocaust an den Palästinensern“), keine Hyperbeln („das schlimmste Unrecht“), keine Dämonisierungen („Teufelsstaat“) und NS- und Kolonialvergleiche („SS-Staat“, „Apartheidsstaat“), keine Dehumanisierungsmetaphern („Unrat“, „Pack“) und vor allem keine judenfeindlichen Stereotype. Sie stellen Israel nicht an einen einzigartigen Pranger oder befürworten einen Boykott. Und sie verwenden auch keine den Vorwurf antizipierenden und selbstschützenden Leugnungsstrategien à la „Ich bin kein Antisemit, aber …“ oder „Dies ist Kunstfreiheit“. Dieser Rechtfertigungs- und Selbstlegitimierungszwang findet sich ausschließlich bei Personen, die unter dem Deckmantel der „Kritik“ antisemitische Inhalte artikulieren.

Israelische Politik kritisieren, das können alle jederzeit frei tun. Öffentliche Medien und soziale Netzwerke sind voll von solchen Kommentaren. Wer dies jedoch unverhältnismäßig tut und judenfeindliche Rhetorik benutzt, der artikuliert keine Kritik, sondern Antisemitismus, und muss daher ohne Wenn und Aber mit energischem Widerspruch rechnen.

–> Beyond Frenemies
Gemeinsame Erklärung zur Rücknahme unserer Beiträge aus dem Sammelband „Frenemies“

[1] Für einen Band mit dem Arbeitstitel „Leerstellen“ war ich seinerzeit von den Hrsg. eines Sammelbandes, der jetzt unter dem Titel „Frenemies“ erschienen ist, um einen wissenschaftlichen Beitrag zu den eigentlich überflüssigen, aber dennoch öffentlich viel gestellten Fragen „Ist Kritik an Israel antisemitisch? Oder: gibt es israelbezogenen Antisemitismus?“ gebeten worden. Dann wurde auf Umwegen bekannt, man plane, einen Text von zwei BDS-Aktivisten aufzunehmen. Dieser wurde zwar dann nicht publiziert, aber aufgrund der intransparenten Kommunikation und einer Gesamt-Konzeption, die ich als Antisemitismusforscherin weder wissenschaftlich noch allgemein aufklärerisch für zielfühlend befand, zog ich die Druckerlaubnis für meinen Text zurück. Er erscheint nun hier.

[2] Siehe u. a. www.zeit.de/politik/deutschland/2014-08/israel-medien-kritik [letzter Zugriff: 16.06.2021]

[3] Siehe Schwarz-Friesel, Monika, Judenhass im Internet, Leipzig 2019, S. 135 ff.

[4] Umfangreiche empirische Untersuchungen belegen, dass die Stereotype der klassischen Judenfeindschaft noch immer die Basis für alle aktuellen Formen des Antisemitismus im 21. Jahrhundert sind und dementsprechend auch den Israelhass speisen (s. u.a. Schwarz-Friesel 2013, 2019).

[5] Ausführlich siehe Schwarz-Friesel, Monika / Reinharz, Jehuda, „Die Sprache der Judenfeindschaft im 21. Jahrhundert“, Kap. 7 (2013), in: Europäisch-jüdische Studien. Online abrufbar unter: www.degruyter.com/document/doi/10.1515/9783110277722.194/html [letzter Zugriff: 06.06.2021].          

[6] Das Stereotyp des Räubers findet sich seit Jahrhunderten. Siehe z. B. Nigrinus 1570 zum „Laenderraub“, der „Meister im Stehlen“ siehe u. a. Hundt-Radowsky (1823). Seit 1948 findet sich „Landräuber“ in Kombination mit anderen anti-judaistischen Konzepten in vielen antisemitischen Texten und bezieht sich dabei auf die Staatsgründung.

[7] Siehe den 3-D-Test von Natan Sharansky. Präziser und erweitert s. dazu das Kriterien-Modell von Schwarz-Friesel/Reinarz. Online abrufbar unter: Schwarz-Friesel, Monika, „Israelbezogener Antisemitismus und der lange Atem des Anti-Judaismus“ (2021), in: Institut für Demokratie und Zivilgesellschaft. Online abrufbar unter: www.idz-jena.de/wsddet/wsd8-5/ [letzter Zugriff: 06.06.2021]. S. auch: https://www.antisemitismusbeauftragter.de/Webs/BAS/DE/bekaempfung-antisemitismus/was-ist-antisemitismus/3d-regel/3d-regel-node.html