Was heißt „Singularität des Holocaust“ – und was nicht?

Von Steffen Klävers

Häufig liest oder hört man, dass der Holocaust in der Geschichte eine Singularität darstelle bzw. ein singuläres Ereignis sei. In der Regel soll damit ausgedrückt werden, dass der Holocaust, also die Vernichtung von zwei Dritteln der europäischen Jüdinnen und Juden durch die Nationalsozialist*innen, auf eine bestimmte Art und Weise einzigartig sei. Aber was ist damit genau gemeint? Sind nicht alle Ereignisse auf eine bestimmte Art und Weise einzigartig und damit singulär?

Der Begriff „Singularität“ ist vor allem in naturwissenschaftlichen Disziplinen wie der Astrophysik oder Mathematik gängig. Ein „schwarzes Loch“ kann man z. B. als naturwissenschaftliche Singularität beschreiben. In der Geschichtswissenschaft wird der Begriff hingegen sehr selten bzw. nahezu ausschließlich in Bezug auf den Holocaust verwendet. Es gibt allerdings weder in der Öffentlichkeit noch in der Wissenschaft einen Konsens darüber, ob und wenn ja aus welchen Gründen der Holocaust eine Singularität darstelle.

Gelegentlich wird argumentiert, dass der Holocaust deswegen einzigartig sei, weil die Opferzahl jüdischer Menschen mit sechs Millionen so hoch sei. Allerdings ist das kein überzeugendes Argument. Denn die Einzigartigkeit   eines Ereignisses, sogar die Einzigartigkeit jedes Gegenstands, lässt sich nicht ausschließlich daran erkennen, ob es sich in einer bestimmten „Ausprägung“ von anderen abhebt. Auch wenn etwas besonders groß, hoch, schwer etc. ist, kann es immer noch etwas „seiner Art“ und damit nicht einzigartig sein. In Hinblick auf die reinen Todeszahlen kann also schwerlich dafür argumentiert werden, dass der Holocaust singulär ist.

Manchmal wird auch darauf verwiesen, dass die industrielle Tötung jüdischer Menschen das Singuläre des Holocaust ausmache – also die Organisation des Massenmordes in Konzentrations- und Vernichtungslagern und die technische Effizienz, mit der Menschen getötet wurden. Tatsächlich war zum Zeitpunkt des Holocaust eine solche Technik noch nie eingesetzt worden. Es gab zwar in der Geschichte bereits Internierungslager, die man damals schon Konzentrationslager genannt hat. Zum Beispiel gab es deutsche Konzentrationslager während des deutschen Kolonialismus im damaligen Deutsch-Südwestafrika zu Beginn des 20. Jahrhunderts oder spanische Konzentrationslager auf der Insel Kuba während des spanischen Kolonialismus.

Die gezielte massenhafte Ermordung in den NS-Vernichtungslagern in extra dafür konstruierten Gaskammern mit anschließender Verbrennung der Leichname war jedoch ein neuartiges Phänomen. Diese industrielle, entsetzliche Grausamkeit schockiert bis heute – aber reicht dieser Umstand aus, um den Holocaust als „singulär“ zu beschreiben? Schließlich ist ein sehr hoher Prozentsatz von Jüdinnen und Juden nicht in Vernichtungslagern, sondern an Schauplätzen wie Babyn Jar durch Erschießungen von NS-Einsatzgruppen ermordet worden.

Der Begriff „Singularität“ rekurriert auf das Adjektiv „singulär“, und das wiederum bedeutet unter anderem „einzigartig“. Vom Wortlaut her bedeutet das, etwas sei das Einzige seiner Art. Ob etwas einzigartig ist, das kann man nur durch einen Vergleich mit etwas anderem feststellen. Denn wenn ein Gegenstand einem anderen nahezu bis zum Verwechseln ähnelt, sich aber in einem bestimmten Merkmal von diesem unterscheidet, dann kann man nicht davon sprechen, dass die Gegenstände gleich sind. Und wenn dieses bestimmte Merkmal sich in überhaupt keinem anderen Gegenstand wiederfindet, dann kann man sagen, dass der Gegenstand in Hinblick auf diese Eigenschaft einzigartig ist. Das trifft auch auf historische Ereignisse zu: Wenn es ein Ereignis gibt, welches ein Merkmal aufweist, das sich (bisher) in keinem anderen findet, dann ist es bisher einzigartig oder beispiellos. Ein Vergleich ist im Übrigen auch nicht dasselbe wie eine Gleichsetzung, das ist ein häufig anzutreffendes Missverständnis – prinzipiell kann man alles mit allem vergleichen.

Aber ist nicht auch die Geschichte der transatlantischen Sklaverei oder des Kolonialismus einzigartig? Dieser Einwand wird gerade in letzter Zeit immer wieder aus der postkolonialtheoretischen Forschung erhoben. Und natürlich ist kein Ereignis mit einem anderen identisch und jedes Ereignis daher beispiellos, insofern ist der Einwand durchaus zutreffend. Dagegen ist argumentiert worden, dass der Holocaust aber eine spezifische Qualität aufweise, die es in anderen Ereignissen der Menschheitsgeschichte nicht gab. Vertreter*innen der These, dass der Holocaust qualitativ beispiellos sei, beziehen sich dabei auf einen ganz bestimmten Aspekt: nämlich auf die Intention und die Ideologie, die dem Holocaust zugrunde lag. In dieser Hinsicht, so wird argumentiert, liege im Vergleich zur Ideologie anderer Genozide eine qualitative Beispiellosigkeit vor.

Mit „Genozid“ ist allgemein ein teilweiser oder vollständiger Massenmord einer bestimmten Gruppe gemeint. Die Niederschlagung von Aufständen der Herero und Nama durch die deutsche Kolonialherrschaft im heutigen Namibia Anfang des 20. Jahrhunderts ist ein Beispiel für einen Genozid. Weitere Beispiele sind der Genozid an den Armenier*innen durch die jungtürkische Regierung des Osmanischen Reichs, der Genozid an den Sinti*zze und Rom*nja im Nationalsozialismus oder der Genozid an Jesid*innen durch den Islamischen Staat (IS). Man kann also aus der Tatsache, dass in all diesen Beispielen Menschengruppen ermordet wurden, keine Singularität des Holocaust ableiten. In Intention und Ideologie unterscheiden sie sich aber durchaus – und das liegt an der Kernideologie des Nationalsozialismus: dem modernen Antisemitismus, der auf totale und globale Vernichtung abzielt.

Kennzeichnend für den modernen Antisemitismus ist, dass er jüdische Menschen zu absoluten Feinden erklärt. Angeblich, so könnte man den Antisemitismus zusammenfassen, hätte sich das Judentum in bösartiger Absicht verschworen, um die gesamte Welt ins Verderben zu stürzen. Jüdinnen und Juden wird im Antisemitismus unterstellt, dass sie das Finanzwesen kontrollierten und dadurch das Weltgeschehen lenkten – und zwar immer mit dem Ziel, die Menschheit zu unterwerfen, zu quälen, krank zu machen und zu knechten. Sie wurden mit einer dämonischen und unmenschlichen Macht assoziiert, die unsichtbar sei, aber im Hintergrund die Fäden ziehe. Durch den Holocaust wollten sich die Nationalsozialist*innen von diesem angeblichen Übel erlösen. Der Historiker Saul Friedländer sprach daher auch von einem „Erlösungsantisemitismus“ der Nationalsozialist*innen.

In diesem Aspekt liegt das qualitativ Beispiellose des Holocaust: Niemals zuvor wurde in der bisherigen Geschichte eine Gruppe für alles Leid der Welt verantwortlich gemacht, wurde eine Gruppe sowohl für eine Übermacht als auch für unsichtbare „Parasiten“ gehalten. Viele Genozide der Geschichte ereigneten sich in konkreten Konflikten, in denen es zuvor schon konkrete Auseinandersetzungen (bspw. um Territorien und Ressourcen) gegeben hatte. Doch es gab keinen konkreten Konflikt mit dem Judentum, es ging auch keine reale Gefahr von ihm aus. Jüdische Menschen sollten auch nicht aus ökonomischen Gründen ermordet und auch nicht ausschließlich als Arbeitskräfte ausgebeutet werden. Der Vernichtungsantisemitismus der Nazis war auch keine übertriebene oder paranoide Einschätzung eines realen Konfliktes – er war reine Paranoia, reine Projektion. Dass eine Menschengruppe ausschließlich aufgrund eines solchen paranoiden Verschwörungsglaubens vollständig aus der Welt ausgelöscht werden sollte, hatte es in der Geschichte noch nicht gegeben. Dieses Element findet sich auch nicht im (kolonialen) Rassismus.

In Hinsicht auf Intention und Ideologie des Holocaust lässt sich also der Antisemitismus als qualitative Beispiellosigkeit beschreiben. Daher kann man den Holocaust als qualitativ beispiellosen Genozid beschreiben. Mit dieser Aussage wertet man andere Genozide oder weitere Ereignisse von Massengewalt auch nicht ab – dieser Einwand wird immer wieder erhoben. Vielmehr es ist wichtig, diese Beispiellosigkeit zu berücksichtigen – nicht zuletzt aus Gründen von historischer Präzision, um die Spezifik des Antisemitismus genau zu verstehen. Weder Holocaust noch Antisemitismus entziehen sich der Erkenntnis.

Steffen Klävers ist Literaturwissenschaftler und Antisemitismusforscher. Seine Dissertationsschrift „Decolonizing Auschwitz? Komparativ-postkoloniale Ansätze in der Holocaustforschung“ ist im Jahr 2019 im Verlag De Gruyter Oldenbourg erschienen. Er ist in der antisemitismuskritischen Bildungsarbeit für das JFDA e.V. tätig.

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