Drei Schüsse, die Israel verändern sollten

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Vor einem Vierteljahrhundert wurde Ministerpräsident Yitzhak Rabin ermordet. Der Architekt des Friedensabkommens von Oslo wollte einen neuen Nahen Osten. Nach seinem Tod nahm die Geschichte jedoch einen anderen Verlauf. Grund genug, nach Rabins politischem Erbe zu fragen…

Von Ralf Balke

Jetzt ist er das Ziel von wütenden Demonstranten im ganzen Land. Überall in Israel gehen Menschen auf die Straße, um ihren Unmut über das katastrophale Corona-Krisen-Management von Ministerpräsident Benjamin Netanyahu zu protestieren. „Geh!“, lautet ihre simple Forderung. Zudem wollen sie nicht länger von jemandem regiert werden, der ihrer Meinung nach den eigenen persönlichen Interessen absolute Priorität einräumt, also einen Großteil seiner Energie und Zeit im Amt dafür aufwendet, bloss nicht vor Gericht erscheinen zu müssen. Und nun, ausgerechnet zum 25. Jahrestag der Ermordung von Yitzhak Rabin, irritierte Netanyahu während einer Gedenkfeier zu Ehren des früheren Ministerpräsidenten in der Knesset politische Weggefährten und Gegner mit einer Analogie, die es in sich hat: „Wir können die Meinungsfreiheit nicht mit Füßen treten, aber gleichzeitig dürfen wir nicht akzeptieren, wenn von irgendeiner Seite zum Mord angestiftet wird“ erklärte er. „Nicht gegen Juden, gegen Araber oder gegen Demonstranten. Und auch nicht gegen Politiker. Heute, genau 25 Jahre nach der Ermordung Rabins, gibt es sie wieder fast jeden Tag. Gemeint sind die Aufrufe zur Ermordung des Ministerpräsidenten und seiner Familie.“

Die Demonstrationen gegen ihn in einen Kontext mit den Ereignissen rund um den Mord an Rabin zu setzen und sich als potenzielles Opfer zu inszenieren, empfanden nicht wenige Israelis als obszön. Vor allem deshalb, weil man sich noch sehr gut an Netanyahus eigene Rolle bei den Protesten gegen den Architekten des Friedensprozesses mit den Palästinensern vor über 25 Jahren erinnert. Nationalreligiöse und Vertreter des Likud hatten damals erklärt, dass der von Rabin eingeschlagene Weg, sich aus Teilen der besetzten Gebiete zurückzuziehen und damit „jüdisches Land“ aufzugeben „Häresie“ sei. Es war Netanyahu selbst, der dem amtierenden Ministerpräsidenten vorwarf, auf sich diese Weise „von der jüdischen Tradition und jüdischen Werten“ entfernt zu haben. Und im Juli 1995 stand er persönlich an der Spitze einer Anti-Rabin-Kundgebung, bei der eine wütende Menge „Rabin soll sterben“ skandiert hatte und mit Sarg sowie Galgen aufmarschiert war. Carmi Gillon, seinerzeit Chef des Inlandsgeheimdienstes Shin Beit, hatte Netanyahu daraufhin vor einer möglichen Eskalation gewarnt und ihn darum gebeten, die Rhetorik der Proteste zu mäßigen, was dieser wiederum ablehnen sollte. Am 4. November 1995 fielen dann im Anschluß an eine Pro-Friedensabkommen-Demonstration in Tel Aviv die drei tödlichen Schüsse auf Rabin.

All das ist jetzt ein Vierteljahrhundert her. Doch die Redewendung „Die Zeit heilt alle Wunden“ trifft im Fall von Israel nicht wirklich zu. Was in den frühen 1990er Jahren als eine hasserfüllte Auseinandersetzung zwischen Gegnern und Befürwortern des Friedensabkommen von Oslo begann,  seinen Höhepunkt in der Ermordung Rabins fand, ist heute zu einem innergesellschaftlichen Konflikt herangewachsen, der weite Teile der Gesellschaft erfasst hat. Und es geht dabei längst nicht mehr um das klassische Links-Rechts-Schema oder die Zustimmung beziehungsweise Ablehnung einer Zwei-Staaten-Lösung, die als Konzept für eine Beilegung des Konflikts zwischen Israelis und Palästinensern sowieso schon seit Jahren mausetot ist. Es gibt gleich eine ganze Palette bedrohlicher Zentrifugalkräfte, die den inneren Frieden Israels gefährden, darunter das enorme soziale Gefälle oder die in der Corona-Krise sich offenbarende Weigerung einer Mehrheit der Ultraorthodoxen, den Staat als Autorität anzuerkennen. Die zahlreichen politisch motivierten Übergriffe auf regierungskritische Demonstranten sind nur ein weiterer Ausdruck davon. Doch auch auf den Protesten gegen Netanyahu geht es nicht immer nur friedlich zu.

Nicht ohne Grund hatte Reuven Rivlin bereits im Juli seiner Sorge darüber Ausdruck verliehen, als er vor einem gesellschaftlichen Klima warnte, in dem selbst politische Morde nicht mehr ausgeschlossen werden können. Und auch anlässlich der Gedenkfeiern für Rabin griff er das Thema wieder auf: „25 Jahre später ist das Land wie das Rote Meer zwischen zwei Lagern geteilt und es brodelt der Hass unter unseren Füßen“, betonte der Staatspräsident. „Es kann nicht sein, dass Plakate zu sehen sind, die zum Tod von Mitbürgern aufrufen. Es kann nicht sein, dass Journalisten unter Bedrohung leben. Es kann nicht sein, dass Bürger andere Bürger schlagen. Es kann nicht sein, dass die Polizei mit schweren verbalen Angriffen konfrontiert wird. Und es kann nicht sein, dass jemand die Ermordung eines Premierministers, Ministers, Präsidenten, Knesset-Mitglieds auch nur für eine Option hält. Es kann nicht sein, dass wir durch das, was wir sagen oder nicht sagen, durch Hinschauen oder Nicht-Hinschauen, durch Handlungen oder durch Untätigkeit den nächsten politischen Mord auch nur die geringste Möglichkeit zulassen oder zulassen.“

Die Tatsache, dass die Ereignisse vom  4. November 1995 sich nun zum 25. Male jähren, ist aber ebenfalls ein guter Grund, sich mit dem politischen Erbe des ermordeten Ministerpräsidenten zu beschäftigen. Da steht selbstverständlich an erster Stelle das Abkommen von Oslo und der daraufhin einsetzende Friedensprozess mit den Palästinensern. Dass dieser mittlerweile als gescheitert gilt, ist eine Sichtweise, die unabhängig von der politischen Ausrichtung wohl die absolute Mehrheit der Israelis teilen dürfte. Ebenso eindeutig würde die Frage beantwortet werden, wer dafür die Verantwortung trage, nämlich die Palästinenserführung. Arafat und seinen Nachfolger Mahmoud Abbas hatten nie wirklich dem Terror abgeschworen und sich als völlig unfähig erwiesen, Strukturen aufzubauen, die auch nur im entferntesten Sinne das Etikett „rechtsstaatlich“ verdient hätten. Die Zweite Intifada und die ständigen Raketen-Angriffe aus dem 2005 geräumten Gazastreifen hatten ferner dazu geführt, dass in Israel für territoriale Zugeständnisse in absehbarer Zukunft keine Mehrheiten zu finden wären. Und ob Rabin in den Jahren nach der Jahrtausendwende angesichts des allgegenwärtigen palästinensischen Terrors anders gehandelt hätte als Ariel Sharon, einer seiner Nachfolger im Amt des Ministerpräsidenten, kann – obwohl es Spekulation ist – mit einem sehr wahrscheinlichen Nein beantwortet werden.

Schon zu Lebzeiten von Rabin zuckten Arafat und seine Getreuen immer dann vor Schreck zusammen, wenn es ans Eingemachte und schmerzhafte Kompromisse ging. Aus ihrer Sicht sollte die israelische Seite alle Siedlungen räumen, sich auf die Waffenstillstandslinien von 1967 zurückziehen und Ost-Jerusalem als Hauptstadt eines neuen Staates Palästina akzeptieren. Im Gegenzug war man allenfalls dazu bereit, Israel irgendwie anzuerkennen, bekam aber schon bei der Formulierung „jüdischer Staat“ heftige Bauchschmerzen. Das hat sich bis heute nicht geändert. Zugleich bewegte sich die Führungsriege rund um Arafat und später auch Abbas in zentralen Fragen wie der Rückkehr aller palästinensischer Flüchtlingen keinen einzigen Zentimeter weit, beharrte also auf ihren Maximalforderungen. Und so scheiterten alle Ansätze, die ersten Vereinbarungen zwischen Israel und den Palästinensern aus den 90er Jahren in so etwas wie einen nachhaltigen Friedensvertrag einmünden zu lassen an dem konsequenten „Nein“ aus Ramallah.

Trotz aller Rhetorik konnten sich einige Errungenschaften von Oslo dennoch bewähren und haben bis heute Bestand. Das beginnt mit dem simplen Fakt, dass Israelis und Palästinenser ihre Gesprächsfäden in all den Jahren nie auf Dauer haben abreißen lassen. Sogar die Sicherheitsdienste kooperieren nach wie vor, weil jede Seite darin für sich mehr Vor- als Nachteile sieht. Dieser Pragmatismus und der Umstand, dass alle Beteiligten aus ihren ganz eigenen Motiven heraus wenig Interesse haben, an dem Status quo irgendetwas grundlegend zu ändern, hat zu einem Modus vivendi geführt, in dem sich Israelis und Palästinenser recht komfortabel eingerichtet haben. Das alles kann durchaus als eine Folge der Politik Rabins betrachtet werden.

Es gibt ein weiteres Erbe der Ära, in der Rabin versucht hatte, im Rahmen des Konzepts „Land gegen Frieden“ eine Verständigung mit den Palästinensern zu erreichen. Ihr bis in die Gegenwart redundantes „Nein“ rächt sich gerade sehr bitter für sie. Wenn die Vereinigten Arabischen Emirate, Bahrain und bald auch der Sudan mit Israel ihren Frieden machen und es niemanden in der arabischen Welt zwischen Marokko und dem Oman mehr interessiert, was die Palästinenser dazu zu sagen haben oder ob sie nun „Tage des Zorns“ ausrufen, dann ist das ebenso ein Resultat der bereits erwähnten Unfähigkeit der palästinensischen Führung zum Kompromiss. Und 25 Jahre nach der Ermordung von Rabin, scheint das Wirklichkeit zu werden, was der damalige Ministerpräsident ebenfalls anvisiert hatte: die bessere Einbettung Israels in die Region. In den Jahren vor dem schicksalshaften 4. November 1995 hatte nämlich auch Rabin vorsichtige Kontakte zu den gemäßigten sunnitischen Staaten aufgebaut, war sogar nach Marokko und in den Oman gereist – israelische Handelsvertretungen wurden damals in gleich mehreren arabischen Hauptstädten eröffnet und Außenminister Shimon Peres konnte seine Konzepte von einem „Neuen Nahen Osten“ sogar auf regionalen Wirtschaftsforen wie dem in Casablanca präsentieren. Mit der Zweiten Intifada war schlagartig wieder Schluss mit dieser Tauwetterperiode. Wenn Netanyahu heute seinem großen außenpolitischen Ziel, einem Bündnis Israels mit den arabischen Staaten, mit jeder weiteren Unterzeichnung eines Friedensvertrags ein Stück näher kommt und die Mullahs im Iran ein wenig mehr in ihre Schranken verweist, dann bewegt er sich genau auf dem Terrain, das von Rabin damals mit vorbereitet wurde. Ob ihm das gefallen könnte, wenn man ihn darauf hinweisen würde, das steht natürlich auf einem anderen Blatt.

Bild oben: Graffiti und Aufkleber an einer Wand nahe des Tatorts, (c) haGalil

Haiti Ish zava:
Die letzte Rede 
Gehalten bei der Friedensdemonstration in Tel Aviv, 4. November 1995…

Nationalistisch-Religiöser Mord:
Der Tod des Jitzhak Rabin
Die innere Zwietracht wird furchtbar sein. Es wird Attentatsversuche geben. Rabin wird keines natürlichen Todes sterben. Das Land wird einen ungeheuren Schock erleben. Ein Teil der Nation wird sagen ‚Wir haben doch recht gehabt!‘ und Rabin Nachgiebigkeit vorwerfen…

Zeichen an der Wand (1):
American Connection
Die Hetzkampagne gegen Jitzhak Rabin in Israel mochte noch so roh und schrill sein – verglichen mit der Kampagne in den USA, die sich gemeinhin eines zivilen Umgangstons im politischen Streit rühmen kann, konnte sie einem fast maßvoll vorkommen…

American Connection (2):
Auf dem Weg zum 4. November 1995
Teil 2- Israels Generalkonsulin in New York verfolgte besorgt die anwachsende Hetzkampagne nationalistisch-orthodoxer Kreise in den USA gegen Rabin und Arafat…

Der Weg zum 4. November:
Die Propaganda gegen Arafat ergänzte die Hetze gegen Rabin
Teil 3 – Nach New York war Capitol Hill das Ziel eines Zangenangriffs der Gegner des Friedensprozesses…

Vor dem Mord standen viele Worte:
Geistige Brandstiftung
Teil 4 – Nach außen hin, vor dem US-Kongress und der allgemeinen Presse, zeigten die Gegner Rabins noch eine gewisse Zurückhaltung, dies galt aber nicht in den „eigenen Reihen“…

Stein auf Stein:
Arafats Dämonisierung als Vorbereitung zur Ermordung Rabins
Teil 5 – Einige der amerikanischen Rabin-Gegner machten ihrem Ressentiment nicht nur in randständigen Publikationen Luft, sondern mühten sich, ihre Litanei seiner Verbrechen und kleineren Sünden in die amerikanische Mainstream-Presse zu bringen…

Aufruf zur Gewalt durch ein angesehenes Mitglied des rabbinischen Establishments:
Der Fall Hecht
Teil 6 – Im Juli 1995 waren die Angriffe auf Rabin so heftig und allgemein geworden, dass dem Premier eine grimmige Bemerkung über „eine kleine Gruppe Rabbiner in Amerika“ entfuhr, „die man besser als Ayatollahs bezeichnen sollte“…

atahaserEin Prophet im Lande Israel:
Rabin wird keines natürlichen Todes sterben
Professor Harkabi (gest. 1994), war als Historiker mit der Geschichte des religiös-fundamentalistischen Fanatismus vertraut. Er hatte über den ‚Grossen Aufstand der Eiferer‘ (um 70 allg.Z.) im belagerten Jerusalem und über den ‚Zweiten Aufstand‘ der Anhänger Bar Kosibas (um 135 allg.Z.) geschrieben. Mit diesen Aufständen endete jüdisches Gemeinwesen in Erez Israel, das jüdische Volk wurde in alle Welt zerstreut. Harkabi verglich die historischen Eiferer (gr. Zeloten, hebr. Kanaim) mit dem Gush Emunim (Block der Getreuen), den Kämpfern für die Siedlungen in den besetzten Gebieten…

Der Weg zum Kikar Rabin:
Hoffnung in Oslo 1992/3
Am 12. Juli 1992 tritt die neue Regierung mit Yitzhak Rabin an der Spitze ihr Amt an. Partner der Arbeitspartei sind Meretz und Schass…

Der Weg zum Kikar Rabin:
Den Frieden zerfetzen durch Terror
Der Februar 1994 war blutiger Auftakt zu noch Schlimmerem. In Rehowoth wurde ein jüdischer Bauer von einem arabischen Arbeiter ermordet. In Ramalla ermordet die Hamas den Agenten Noam Cohen. In Hebron erschießt ein Siedler Betende in der Mosche Awrahams…

Rabins letztes Jahr:
Die Hetze frisst die Hoffnung
Die Demonstrationen des Rechtsblocks, von Likud, über Nationalreligiöse bis zu Kach-Aktivisten werden immer größer, die Hetze immer aggressiver und die Gewaltbereitschaft immer bedrohlicher. Rabin wird gleichzeitig als PLO-Anhänger, Verräter, Geisteskranker, Alkoholiker, Judenrat, Kapo, SS-Mann und Mörder bezeichnet…

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