Diskussion um ‚Moses der Ägypter‘: Was ist heute davon geblieben?

4
114

Mit Blick auf Freuds Beziehungen zum Judentum erscheint Der Mann Moses als Reflexion über die jüdische Identität, ihre bestimmenden Charakterzüge sowie über den Ursprung des Antisemitismus…

Postfreudianer
Eine letzte Herausforderung und ein weiterer Skandal

Nach seinem Erscheinen erregte das Buch besonders in religiösen Kreisen Anstoß, in jüdischen wie in christlichen. Freuds jüdische Mitbrüder waren erbittert darüber, dass er ihnen Moses wegzunehmen versucht hatte, und fürchteten die langfristigen Folgen. Die Christen reagierten umso heftiger, als Freuds Kritik am Christentum diesmal noch weiter ging als in Die Zukunft einer Illusion- Nicht nur erklärte er im Mann Moses, die christliche Religion sei diejenige, die einem Wahn bei Weitem am nächsten komme, sondern er betrachtete sie zudem als Regression gegenüber der jüdischen Geistigkeit und als Rückkehr zur Idolatrie.

Jean-Michel Quinodoz: Freud lesen
III. Neue Perspektiven (1920-1939):

Im letzten Kapitel (p. 431 – 445) von „Freud lesen“ befasst sich Quinodoz mit Freuds letztem Werk, „Der Mann Moses und die monotheistische Religion„, welches Quinodoz als ein testamentarisches Werk bezeichnet, das mehr Fragen stellt, als es löst.
Neben Analyse und Besprechung des Werks geht Quinodoz auch auf biographische und zeitgeschichtliche Aspekte ein. Ein weiterer Abschnitt befasst sich mit Rezeption, Wirkung und aktueller Bedeutung…

Diese hitzige Polemik wurde jedoch bald durch die Kriegserklärung im September 1939 in den Hintergrund gedrängt. Aus politischen Gründen und unter dem Eindruck der nationalsozialistischen Verfolgungen waren die jüdischen Kreise bemüht, die Bedeutung des Freudschen Werkes herunterzuspielen, um nicht ihren Glaubensbrüdern eine Rückkehr zu den Traditionen zu erschweren, die aus Moses den Begründer der jüdischen Religion gemacht hatten.

Freuds Mann Moses: Was ist heute davon geblieben?

Im Rückblick erscheint dieses Werk als ein komplexes und widersprüchliches Buch, das zu ebenso zahlreichen wie unterschiedlichen,oftmals leidenschaftlichen Kommentaren Anlass bot. Neuere Forschungen gestatten uns jedoch heute, Freuds Moses mit kritischeren Augen und zugleich mit mehr Gewinn zu lesen. Unter religiösen, historischen und anthropologischen Gesichtspunkten ist das Werk in der Tat anfechtbar; es wirft aber ein unschätzbares Licht auf Freud selbst und stellt Fragen, von deren Lösung wir noch weit entfernt sind. Hier einige Hinweise auf die wichtigsten Texte der Sekundärliteratur, die die Orientierung erleichtern mögen.

In psychoanalytischen Kreisen hob man sofort die Identifizierung Freuds mit der Person des Moses hervor. DerText warja unter besonderen Umständen geschrieben worden, zu einer Zeit, als Freud nicht nur das Verschwinden der Psychoanalyse befürchtete, sondern auch sich selbst als Gründervater bedroht sah, nicht nur durch die Nazis, sondern auch – wie Moses – durch die eigenen Schüler. Übrigens wurde das Werk besonders von Autoren psychoanalytischer Psychobiographien geschätzt und als Muster dieser Gattung betrachtet. Was hingegen den eigentlichen Gehalt der Freudschen Thesen betrifft, neigen die Psychoanalytiker heute dazu, den Mann Moses ähnlich zu betrachten wie Totem und Tabu, nämlich als eine Reihe kühner Hypothesen, deren wissenschaftliche Gültigkeit alles andere als erwiesen sei. Zum Beispiel fällt es schwer, die Parallele zu akzeptieren, die Freud – unter Berufung auf eine kollektive Verdrängung und die Wiederkehr des Verdrängten nach einer Latenzphase – zwischen der Entwicklung des Einzelnen und der geschichtlichen Entwicklung der Menschengattung zieht. Trotzdem sollten wir zugestehen, dass die Frage der intergenerationalen und phylogenetischen Weitergabe, die Freud am Ende seines Werkes so klargestellt hat, von den Analytikern heruntergespielt wurde und bis auf den heutigen Tag völlig offen ist.

Die Mehrzahl der Anthropologen schenkt der Freudsche Hypothese der Urhorde wenig oder gar keinen Glauben, obwohl einige seine Auffassung teilen. Von historischer Seite legen neuere Forschungen größeres Gewicht auf die mesopotamischen als auf die ägyptischen Ursprünge, der sich die Tradition der hebräischen Religion verdankt;, die Hypothese Freuds, Moses sei eigentlich ein Ägypter gewesen, steht damit ernstlich in Frage.

Auf religiöser Ebene haben die Positionen Freuds Anlass zu sehr unterschiedlichen Stellungnahmen gegeben. Mit Blick auf Freuds Beziehungen zum Judentum erscheint Der Mann Moses als Reflexion über die jüdische Identität, ihre bestimmenden Charakterzüge sowie über den Ursprung des Antisemitismus. Unter den zahlreichen Arbeiten, die sich diesem Thema widmen, verdient die von Yosef H. Yerushalmi (1991) Erwähnung; dieser Autor untersucht mit großer Genauigkeit, wie diese Schrift in das Leben Freuds eingebettet ist. Seiner Ansicht nach hat Freud mit dieser Schrift das Judentum »unendlich« gemacht, weil es ohne Gott auskomme.

Ebenso hat es natürlich nicht an Kritik daran gefehlt, wie Freud die Ursprünge der Religion erklärt und aufweiche schwachen Argumente er sich dabei stützt. Wenn er zum Beispiel eine Äquivalenz zwischen Zwangssymptomen und religiösen Riten herstellt, so beschreibt er in William W. Meissners Augen nur eine begrenzte und eher pathologische Seite religiöser Ausdrucksformen, was dieTragweite seiner Behauptungen erheblich eingrenze: »Die Analyse wird dadurch reduktionistisch im schlimmsten Sinne und trägt letztlich wenig zum Verständnis des echten Glaubens und der religiösen Praxis bei« (Meissner 2002, S. 475). Einen ähnlichen Standpunkt vertritt Paul Ricceur, wenn er meint, der analytische Ansatz erkläre einzig denjenigen Aspekt der Religion, den man in der Idolatrie beobachte. Generell ist Freuds Feindseligkeit gegenüber jeder organisierten Religion – sei sie christlich oder jüdisch -durch zahlreiche Umstände bedingt, auf die ich hier nicht eingehen kann. Blickt man jedoch, wie Emanuel Rice bemerkt, über diesen »durch seine Feindseligkeit verblendeten« Freud hinaus, erscheint ein ganz anderes Bild: »Er [Freud] hatte den Eindruck, das Christentum sei ein Rückfall in die heidnische prämonotheistische Zeit, nichts anderes als der Götzenkult, der in Ägypten vor Ikhnaton herrschte. Freud war auf der Suche nach einer prophetischen Religion, nach einem Kultus, der auf individueller Verantwortlichkeit und sozialer Gerechtigkeit gründet. Eine theozen-trische Weltanschauung konnte das Erreichen eines solchen Ziels nur behindern« (Rice 2002, S. 297f.).

Hüten wir uns jedoch, die Bedeutung der Freudschen Beiträge zur religiösen Frage zu unterschätzen – trotz der Schwäche seiner Argumente, trotz seiner eigenen Konflikte und seines Atheismus -, denn Freud hat zahlreiche Fragen aufgeworfen, deren Beantwortung noch aussteht, wie William W. Meissner (1984) gezeigt hat. Paul Ricceur wiederum wendet sich gegen das Vorurteil, die Psychoanalyse sei notwendig atheistisch; die psychoanalytische »Zerstörung« der Religion sei mit einem von jeder Idolatrie gereinigten Glauben durchaus vereinbar. Im Übrigen stoße die Psychoanalyse, vom Standpunkt der Religion aus gesehen, auf Grenzen, und es komme ihr nicht zu, sich über dieses Gebiet zu äußern: »Meine Arbeitshypothese […] lautet, daß die Psychoanalyse notwendig ikonoklastisch ist, ganz unabhängig vom Glauben oder Unglauben des Psychoanalytikers, und daß diese >Zerstörung< der Religion das Komplement zu einem von jeder Idolatrie gereinigten Glauben sein kann. Die Psychoanalyse als solche kann über die Notwendigkeit des Ikonoklasmus nicht hinweggehen. Diese Notwendigkeit führt zu einer doppelten Möglichkeit: der des Glaubens und des Unglaubens; doch die Entscheidung zwischen diesen beiden Möglichkeiten kommt ihr nicht zu« (Ricceur [1965] 1969, S. 239).

Ich persönlich meine, dass Psychoanalyse und religiöser Glaube ein jeweils eigenes Gebiet einnehmen. Angesichts ihrer unvermeidlichen Wechselwirkungen scheint es mir jedoch wichtig, sie beide voneinander zu unterscheiden, sodass die Existenz der einen die Existenz des anderen nicht hinderlich ist.

Chronologie der Freudschen Begriffe: Archaisches Erbe – Entstellung – Latenz(-zeit) – monotheistische Religion – Phylogenese – Religion, religiöse Ideen -Tradition – Vatermord

4 Kommentare

  1. Soweit die Entstellung der Idee reicht, darf man sie als Wahn bezeichnen, insofern sie die Wiederkehr des Vergangenen bringt, muß man sie Wahrheit heißen. Auch der psychiatrische Wahn enthält ein Stückchen Wahrheit, und die Überzeugung des Kranken greift von dieser Wahrheit aus auf die wahnhafte Umhüllung über«.

Kommentarfunktion ist geschlossen.