Die Gespräche in Katar über eine mögliche Waffenruhe im Gaza ziehen sich in die Länge. Von einem wirklichen Durchbruch ist auch in der jüngsten Verhandlungsrunde noch nichts zu spüren. Für die Angehörigen der Geiseln, die sich seit über zehn Monaten in Gewalt der Hamas befinden, geht das Bangen weiter.
Von Ralf Balke
Zumindest einer verbreitet explizit Optimismus, und das ist Antony Blinken. Am Sonntag traf der amerikanische Außenminister zu Gesprächen mit der Regierung in Israel ein – seine nunmehr zehnte, in manchen Medien heißt es neunte, Reise nach Jerusalem seit dem Massaker der Hamas am 7. Oktober. Dabei wird es um den von den Vereinigten Staaten eingebrachten „Brückenvorschlag“ als Kompromiss für eine mögliche Waffenruhe gehen, der ebenfalls von Katar und Ägypten unterstützt wird. Auf diese Weise will man den Verhandlungen, die am Freitag in Doha nach zwei Tagen zu Ende gingen und kommende Woche in Kairo fortgesetzt werden sollen, neuen Schwung verleihen, so jedenfalls sehen es die Amerikaner, aber auch die Ägypter und Kataris. Blinken und US-Präsident Joe Biden rechnen sich gute Chancen aus, dass auf diese Weise endlich auch Bewegung in die Frage um die Freilassung der sich seit über zehn Monaten in der Gewalt der Hamas befindlichen israelischen Geiseln kommt. Und es gibt einen weiteren Grund für ihren Optimismus. Washington glaubt, dass man mit dem Verweis auf die laufenden Verhandlungen sowie dem raschen Aufbau einer militärischen Präsenz in der Region den Iran davon abhalten konnte, Israel als Vergeltung für die erfolgreiche Tötung von Hamas-Chef Ismail Haniyeh vor wenigen Wochen in Teheran anzugreifen und mit Krieg zu überziehen – zumindest für den Moment.
Über die Inhalte des „Brückenvorschlags“, der im Einklang mit den von U-Präsident Joe Biden am 31. Mai fixierten Grundsätzen für eine Feuerpause sowie der Resolution 2735 des UN-Sicherheitsrats steht, gibt es bereits einige Informationen: Laut dem israelischen TV-Kanal „Arutz 12“ soll darin fixiert worden sein, wie viele lebende israelische Geiseln in einer ersten, sechs Wochen andauernden Phase freigelassen werden sollen. Von rund 30 weiblichen, älteren sowie kranken Personen ist die Rede. Ihre Namen seien genannt worden. Auch über Reihenfolge, welche Personen als erstes übergeben werden könnten, herrsche Gewissheit – ebenso in der Frage, welche Palästinenser im Austausch dafür aus Gefängnissen in den Gazastreifen ausreisen können. Und der aus Äthiopien stammende Israeli Avera Mengistu sowie der israelische Beduine Hisham al Sayed, die bereits seit zehn Jahren von der Hamas festgehalten werden, sollen ebenfalls dabei sein. Im Gegenzug würden man ferner 47 Palästinenser überstellen, die 2011 im Rahmen des Deals zur Freilassung des 2006 entführten israelischen Soldaten Gilad Shalit freikamen, seither aber erneut inhaftiert wurden. Das Nachrichtenportal „Walla“ weiß zudem zu berichten, dass Israel angeboten habe, sich bei der Gruppe der Sicherheitsgefangenen, die wegen terroristischer Gewalttaten einsitzen, flexibler zu verhalten, wenn die Hamas in jeder der sechs Wochen der ersten Phase des Abkommens mehr Geiseln freilässt. Weitere Aspekte, die unter Dach und Fach sein sollen, wäre eine Übergabe der Grenzkontrolle in Rafah zwischen dem Gazastreifen und Ägypten an die Palästinensische Autonomiebehörde, jedoch unter eine nicht näher präzisierten israelischen Überwachung. Fragen des Wiederaufbaus sowie einem Ende der Blockade würde man in einer zweiten Phase ansprechen. Zugleich wird in den Medien aber betont, dass sich nur Israel und die Vermittler auf diese Punkte in dem „Brückenvorschlag“ verständigt hätten, jedoch nicht die Hamas.
Doch es gibt noch zwei Knackpunkte. Der zur Diskussion stehende „Brückenvorschlag“ sieht erstmal keine ständige Präsenz und damit Kontrolle Israel über die sogenannten Philadelphi-Route vor, also der Sicherheitszone zwischen Ägypten und dem Gazastreifen. Bevor Israel im Verlaufe des Krieges diese unter seine Kontrolle bekam, verlief fast der gesamte Nachschub an Waffen für die Terroristen durch Tunnel unter genau diesem Areal. Zudem möchte Jerusalem auf jeden Fall verhindert wissen, dass die Hamas in den Norden des Gazastreifens zurückkehren kann. Genau diese beiden Aspekte will Ministerpräsident Benjamin Netanyahu geklärt wissen, bevor es überhaupt eine Einigung geben kann. Und um diese Hindernisse aus dem Weg zu räumen, ist Blinken jetzt in Israel eingetroffen. Neuesten Meldungen zufolge, würde Washington dem Wunsch Israels nach einer Kontrolle der Philadelphi-Route nun doch Rechnung tragen, aber nur mit deutlich weniger militärischem Personal als Jerusalem es gerne hätte.
„Was wir getan haben, ist die verbleibenden Lücken so zu überbrücken“, so ein hochrangiger Vertreter der amerikanischen Regierung am Freitag gegenüber der Presse. „Wir glauben, dass wir jetzt ein Abkommen haben, das wir schließen, umsetzen und vorantreiben können.“ Auch US-Präsident Joe Biden betonte Ende vergangener Woche: „Wir sind weitergekommen als wir es jemals waren.“ Israels Verhandlungsdelegation in Katar, angeführt von Mossad-Direktor David Barnea und dem Chef des Inlandsgeheimdienstes Shin Bet, Ronen Bar, sprach sehr verhalten von einem „vorsichtigen Optimismus“.
Doch ob dieser wirklich begründet ist oder nur ein Versuch, nach außen hin gute Stimmung zu verbreiten, ist noch unklar. Zu oft hatte es in den vergangenen Monaten Meldungen dieser Art gegeben, und am Ende sollte sich nichts davon bewahrheiten. Für die Angehörigen der 115 Geiseln in der Gewalt der Hamas ist die Zitterpartie noch lange nicht vorbei. Und auf die ersten Hoffnungsdämpfer musste man nicht lange warten. So nannte Sami Abu Zuhri, Mitglied im Politbüro der Hamas, gegenüber der Nachrichtenagentur „AFP“ die Fortschritte, die man in den Gesprächen in Doha erzielt hätte, „eine Illusion“. Zudem betonte er: „Wir haben es weder mit einer Einigung noch mit echten Verhandlungen zu tun. Vielmehr geht es um ein amerikanisches Diktat, das uns aufgezwungen werden soll.“ Ähnliches war von Jihad Taha, einem Hamas-Sprecher am Samstag zu hören. Er erklärte im TV-Sender „al-Jazeera“, dass Israel die Gespräche über einen Waffenstillstand deshalb an erfüllbare Bedingungen geknüpft hätte, um diese zu torpedieren. Es gäbe noch keine Antwort der Hamas auf den „Brückenvorschlag“, erklärte eine namentlich nicht genannte Quelle aus dem Umfeld der Verhandlungsdelegationen in Doha und Kairo gegenüber der „Jerusalem Post“.
Doch trotzdem ist einiges anders als in früheren Verhandlungsrunden. So heißt es seitens der Amerikaner, dass dieses Mal das israelische Team in Doha wirklich Rückendeckung von Netanyahu gehabt hätte – eine deutliche Anspielung auf die Vorwürfe gegenüber dem israelischen Ministerpräsidenten, dass er seinen Unterhändlern nie genug Spielraum gegeben habe, um wirklich ein Abkommen zu erzielen. Einer der Gründe für diesen Sinneswandel dürften die Ankündigungen aus Teheran sein, dass man von einem direkten Vergeltungsschlag gegen Israel erst einmal absehe, wenn die jetzigen Gespräche zu einer Waffenruhe führen. Und Ägypten habe dieses Wochenende die Hisbollah im Libanon dazu aufgefordert, zumindest für den Verlauf der Verhandlungen in Kairo von einer weiteren militärischen Eskalation mit Israel erst einmal absehen.
Doch ist damit keinesfalls gesichert, dass Netanyahu nicht in letzter Minute wieder einen Rückzieher macht oder neue Forderungen stellt. Denn seine Koalitionspartner von Rechtsaußen, allen voran Itamar Ben Gvir und Bezalel Smotrich, sind gegen jede Art eines Kompromisses, der auf die Freilassung von palästinensischen Sicherheitsgefangenen hinausläuft. Verweigern diese ihm die Gefolgschaft, wäre das auch das Ende seiner Regierung. Und die Parteichefs von Otzma Yehudit sowie der Religiösen Zionisten wissen das ganz genau, unternehmen auch einiges selbst, um die Verhandlungen zum Scheitern zu bringen, beispielsweise durch den provokanten Besuch von Itamar Ben Gvir auf dem Tempelberg oder das Anstacheln von gewalttätigen Aktionen gegen Palästinenser im Westjordanland durch ihre Unterstützer.
In der israelischen Bevölkerung dagegen gibt es eine breite Unterstützung für einen Deal. Laut einer Umfrage von „Arutz 12“ befürworten 63 Prozent eine Übereinkunft, die die Freilassung der Geiseln zum Ziel hat. Nur zwölf Prozent sind explizit dagegen, weitere 25 Prozent unsicher, ob das Ganze sinnvoll ist oder nicht. „Die Nation will, dass die Geiseln endlich nach Hause kommen“, schrieb die Gruppe „Kulanu Hatufim“, zu Deutsch: „Wir sind alle Geiseln“, der etwa ein Dutzend Geiselfamilien angehören, auf der Social Media-Plattform X. Kulanu Hatufim ist bekannt für Proteste vor dem Hauptquartier der Armee in Tel Aviv sowie die Blockaden der Ayalon-Autobahn.
Tel Aviv – Begin Gate, families of hostages and supporters demand the government accept the hostage deal that is on the table at once.
„Hostage release deal or death sentence“
credit: Gilad Furst pic.twitter.com/MB9upj6kYz
— We Are All Hostages (@AllHostages) August 17, 2024
Einige Angehörige, und zwar diejenigen, die sich in der politisch eher rechts stehenden Gruppe Tikva-Forum organisiert haben, sind gegen eine Vereinbarung. Sie glauben, dass nur der vollständige Sieg über die Hamas und ihre Zerschlagung den Geiseln wieder Freiheit bringt – eine Minderheitenmeinung. Ob die Gespräche letztendlich von Erfolg gekrönt sind oder nicht, das muss die Zukunft noch zeigen. Fakt aber ist bereits heute: Das Bangen der Angehörigen der Geiseln um das Leben ihrer Liebsten geht erst einmal weiter.