Das Abraham Geiger Kolleg zur Ausbildung liberaler Rabbinerinnen und Rabbiner, das erste Rabbinerseminar nach der Schoa in Deutschland, wurde am 17. August 1999 gegründet. Einer der Gründer, erinnert sich.
Von Jan Mühlstein
„Erstmals nach dem Krieg entsteht in Deutschland eine akademische Ausbildungsstätte für Rabbinerinnen und Rabbiner. Das Abraham-Geiger-Kolleg, dessen Trägerverein heute in Hannover gegründet wurde, steht in der Tradition der Hochschule für die Wissenschaft des Judentums in Berlin. Die 1870 gegründete Hochschule, zu deren ersten Lehrern Rabbiner Abraham Geiger (1810 bis 1874) gehörte, wurde am 19. Juli 1942 durch das NS-Regime gewaltsam geschlossen. Das neue Rabbinerseminar wird seinen Sitz am Moses-Mendelssohn-Zentrum in Potsdam haben und seine Arbeit mit dem Wintersemester 2000 aufnehmen. Als Gründungspräsident wurde Oberrabbiner Professor Dr. Walter Jacob aus Pittsburgh, Mitglied des Aufsichtsrates des Hebrew Union College und früherer Präsident der Zentralkonferenz amerikanischer Rabbiner, berufen. Das Abraham-Geiger-Kolleg ist der Union progressiver Juden in Deutschland angeschlossen und wird eng mit der Weltunion für progressives Judentum zusammenarbeiten.“
So beginnt die Pressemeldung vom 17. August 1999, die ich als Vorsitzender des Trägervereins Abraham Geiger Kolleg (AGK) und als Vorsitzender der Union progressiver Juden in Deutschland (UPJ) verfasst habe. Das Motiv für die Gründung des Kollegs war, für die seit der Mitte der 1990er Jahre neu entstandenen liberalen jüdischen Gemeinden der UPJ sowie für die liberal orientierten „Einheitsgemeinden“ in Deutschland eine rabbinische Betreuung zu sichern. Doch es war auch klar, dass der Bedarf dieser Gemeinden nicht ausreichen wird, um allen künftigen Absolventinnen und Absolventen des AGK eine berufliche Zukunft zu sichern. Außerdem war schnell erkennbar, dass das AGK durch die Kombination der Rabbinerausbildung mit dem in Deutschland kostenlosen Universitätsstudium auch für Bewerberinnen und Bewerber aus dem Ausland attraktiv wird. Um Rabbinerinnen und Rabbiner für Europa und darüber hinaus ausbilden zu können, war deshalb eine Einbindung in die Strukturen des weltweiten progressiven Judentums unabdingbar. Die ersten Gespräche dazu gab es bereits vor der Gründung des Kollegs. Im Protokoll der Sitzung des Vorstandes der European Region der World Union for progressive Judaism (heute European Union for progressive Judaism, EUPJ) vom 11. Juli 1999 sprach das Gremium seine „blessing, encouragement and approval to the scheme” für das AGK aus. Der folgende Prozess der Prüfung und Abstimmung mit den Gremien und Institutionen des progressiven Judentums, bei dem es unter anderem um die Strukturen des Kollegs, die Aufnahmekriterien für die Studierenden, die personelle und sachliche Ausstattung, die Ausbildungs- und Prüfungsinhalte ging, führte schließlich zur Anerkennung des Ordinationsrechts des AGK durch die World Union for progressive Judaism (WUPJ) und der Central Conference of American Rabbis (CCAR), der wichtigsten Rabbinerversammlung des Reformjudentums.
Seinen regulären Studienbetrieb hat das Kolleg mit vier Studierenden aus Deutschland und den Niederlanden im Oktober 2001 aufgenommen. Im Jahresberichte des Trägervereins für das Jahr 2001 konnte ich außerdem melden: „Am 29. September 2001 hat Rabbiner Professor Allen Howard Podet sein Amt als Gründungsrektor des Abraham Geiger Kollegs angetreten. Durch einen im November 2001 zwischen den Rektoren der beiden Einrichtungen abgeschlossenen Kooperationsvertrag ist das Abraham Geiger Kolleg ein An-Institut der Universität Potsdam, frei in der inhaltlichen Ausgestaltung, aber mit der Universität verbunden durch den Rektor des Kollegs, der dort eine Professur inne hat. Das Kompetenznetz Jüdische und rabbinische Studien, das an einer Bündelung der wissenschaftlichen Angebote an der Universität Potsdam und darüber hinaus arbeitet, hat – unter personeller Beteiligung des Abraham Geiger Kollegs – im Dezember seine Arbeit aufgenommen.“
Das AGK setzte damit erstmals die von Rabbiner Abraham Geiger bereits 1830 erhobene und im Kaiserreich sowie in der Weimarer Republik unerfüllte Forderung um, die Ausbildung von Rabbinern genauso wie die der christlichen Theologen in die deutschen Universitäten zu integrieren. Vollendet wurde dies 2013 durch die Gründung der School of Jewish Theology an der Universität Potsdam.
Das Abraham Geiger Kolleg ist der Tradition des in Deutschland entstandenen liberalen Judentums verpflichtet, hat aber von Anfang an eine Kooperation mit der gesamten jüdischen Gemeinschaft in Deutschland, insbesondere mit dem Zentralrat der Juden in Deutschland, angestrebt. So wurde auch die erste Ordination des AGK, die am 14. September 2006 in der Neuen Synagoge Dresden stattfand, vom Kolleg, der World Union for Progressive Judaism und dem Zentralrat ausgerichtet. Laut der Jüdischen Allgemeinen sah der Vizepräsident des Zentralrats Dieter Graumann dies als ein „politisches Signal“ dafür, dass es „Vielfalt in Einheit gibt und dass zusammenbleibt, was zusammengehört“. Diese erste Rabbinerordination nach der Schoa fand in Anwesenheit der Spitzenvertreter des Staates, der Politik und der Gesellschaft und unter breiten Beachtung internationaler Medien statt, der Ordinationsgottesdienst wurde live im öffentlich-rechtlichen Fernsehen übertragen. Ordiniert wurden Daniel Alter aus Deutschland, Tomáš Kučera aus der Tschechischen Republik und Malcolm Mattitiani aus Südafrika. Das Rabbineramt traten Alter in der dem Zentralrat angehörenden Jüdischen Gemeinde zu Oldenburg, Kučera in meiner Liberalen jüdischen Gemeinde Beth Shalom in München und Mattitiani in seinem Heimatland bei der Temple of Israel Congregation in Kapstadt an – ein Zeichen der Pluralität und Internationalität, die bis heute das Potsdamer Rabbinerseminar prägt.
Das liberale Judentum in Deutschland betätigte sich wieder einmal als Türöffner: 2009 folgte dann in München die erste Ordination des wiederbelebten orthodoxen Rabbinerseminars zu Berlin, nachdem es Jahrzehnte lang hieß, dass in Deutschland das notwendige Umfeld für eine Rabbinerausbildung fehle.
Seit seiner Gründung haben fast 50 Rabbinerinnen und Rabbiner sowie Kantorinnen und Kantoren das Abraham Geiger Kolleg erfolgreich abgeschlossen (die Kantoralausbildung wurde 2008 aufgenommen), die nun in Deutschland und vielen Ländern in Europa sowie außerhalb Europas wirken. Zu dem Erfolg des AGK hat wesentlich Rabbiner Professor Dr. Walter Homolka mit seinem Organisationstalent und seiner Durchsetzungskraft beigetragen, der zunächst als Koordinator des Kollegs wirkte und 2002 dessen Rektor wurde. (Im gleichen Jahr wurde vor allem aus haftungsrechtlichen Gründen der Trägerverein in eine gemeinnützige GmbH umgewandelt. Damit schied ich aus der direkten Verantwortung für das AGK aus, begleitete das Kolleg aber noch bis 2011 als Vorsitzender der UPJ.) Homolka gelang es auch, die Finanzierung des AGK durch eine Förderung aus Mitteln der Bundesrepublik Deutschland, der Kultusministerkonferenz aller deutschen Bundesländer, des Zentralrats der Juden in Deutschland aus Bundesmitteln des Staatsvertrags, des Landes Brandenburg und der Leo Baeck Foundation zu sichern.
Mit Rabbiner Homolka ist allerdings auch die Krise des AGK verbunden, die 2022 durch die gegen ihn erhobenen Vorwürfe des Machtmissbrauchs ausgelöst wurde. Aus Folge ließ er zunächst seine Ämter beim AGK ruhen und schied dann im April 2023 aus dem Kolleg vollständig aus. Seine Professur an der School of Jewish Theology behielt er, da eine im Oktober 2022 abgeschlossene Untersuchung einer internen Kommission der Universität Potsdam keine disziplinarisch oder strafrechtlich relevanten Verstöße festgestellt hat.
Auch das AGK hat unter Rabbiner Dr. Andreas Nachama, der Anfang 2023 die Leitung des Kollegs übernommen hat, Konsequenzen gezogen. Die Strukturen der Leitungsgremien wurden überprüft, die Beteiligung der Vertreter der Studierenden und der Mitarbeitenden wurde gestärkt, eine Berliner Anwaltskanzlei steht als externer Ombudsmann bereit, eventuelle Beschwerden unabhängig zu prüfen. Das Kolleg bietet seinen Studierenden und seinen Mitarbeitenden ein sicheres Umfeld, versichert nicht nur Rabbiner Nachama, sondern auch die Studierenden. Davon konnte ich mich unlängst überzeugen, als ich am AGK einen Vortrag über die Entwicklung des liberalen Judentums in Deutschland seit 1990 halten konnte.
Ist also wieder alles gut? Leider nein. Der Zentralrat nutzt die „Affäre Homolka“, um seinen angeblichen Alleinvertretungsanspruch durchzusetzen und die liberale Bewegung und die liberale Rabbinerausbildung in Deutschland unter seine Kontrolle zu bekommen. Als Angriffspunkt dient die Trägerschaft des AGK durch eine gGmbH, die bisher, auch bei den Entscheidungen über die Förderung des AGK, keine Rolle spielte. Der Zentralrat stört sich daran, dass die Jüdische Gemeinde zu Berlin Anfang 2023 die Trägerschaft des AGK übernommen hat. Dies kulminierte im Februar 2024 in einer Erklärung des Zentralrats, das Abraham Geiger Kolleg besitze „in seiner derzeitigen Verfasstheit und Trägerschaft“ nicht mehr ein „Ordinationsrecht, dass durch die organisierte Religionsgemeinschaft anerkannt und akzeptiert ist“. Diese Erklärung nahmen die staatlichen Geldgeber zum Anlass, die Förderung des AGK auszusetzen, obwohl die Führungsgremien der WUPJ, der EUPJ und der UPJ die wahrheitswidrige Behauptung des Zentralrats sofort zurückgewiesen haben. Statt seine auf falschen Informationen basierende Entscheidung zu revidieren, lässt sich das Bundesinnenministerium lieber von der Jüdischen Gemeinde zu Berlin verklagen.
Der Zentralrat will eine von ihm gegründete und von ihm abhängige Stiftung zum alleinigen Träger der liberalen Rabbiner- und Kantoralausbildung in Deutschland zu machen. Ein ohne jegliche Rücksprache mit der weltweiten progressiven jüdischen Bewegung gegründetes Rabbinerseminar des Zentralrats wird allerdings keine internationale Anerkennung finden, wie die Führungsspitzen der WUPJ und der EUPJ in einer Erklärung klar gemacht haben. Das ist keine theoretische Frage, denn die vom Zentralrat ausgebildeten Rabbinerinnen und Rabbiner könnten dann auch zum Beispiel keine verbindlichen Entscheidungen über den jüdischen Status treffen, die von liberalen und Reformgemeinden außerhalb von Deutschland anerkannt werden und auch eine Alija nach Israel ermöglichen.
Die Machtspiele des Zentralrats gefährden die berufliche Zukunft der Mitarbeitenden und Studierenden des AGK. Vor allem ihretwegen ist zu wünschen, dass wieder der Weg der bewährten Kooperation beschritten wird. Ein Runder Tisch aller Beteiligten wie des Zentralrats, der Jüdischen Gemeinde zu Berlin, des AGK, der UPJ, der EUPJ, der WUPJ und der staatlichen Geldgeber, den Rabbiner Andreas Nachama immer wieder fordert, wäre der erste Schritt dazu.
Dr. Jan Mühlstein war von 1999 bis 2002 Vorsitzender des Trägervereins des Abraham Geiger Kollegs und von 1999 bis 2011 Vorsitzender der Union progressiver Juden in Deutschland.