Sigmund Freuds Enkel Anton als „Nazijäger“
Von Galina Hristeva & Roland Kaufhold
Am 4. Juni 1938 emigrierte der 82-jährige, schwer kranke Psychoanalytiker Sigmund Freud widerstrebend von Wien nach London – in der Hoffnung, in Freiheit zu sterben. Die Weltpresse verfolgte Freuds Flucht aus dem von den Deutschen besetzten Wien mit größter Aufmerksamkeit. Noch in Wien schrieb er eine Postkarte an seinen Freund Arnold Zweig in Palästina: “Leaving today for 39 Elsworthy Road, London NW3. Affect, greetings Freud”. (Kaufhold & Wirth 2006)
Mit Freud emigrierte auch sein Sohn Martin sowie dessen siebzehnjähriger Sohn Anton Walter. Über den Engländer Anton Walter Freud (1921 – 2004) war bisher nur wenig bekannt. Durch den Fernsehfilm Nazijäger – Reise in die Finsternis, der Anfang 2022 in der ARD ausgestrahlt wurde, wurde dessen außergewöhnliche Vita erstmals einer breiteren Öffentlichkeit bekannt: Anton Walter Freud hatte in der Nazizeit als ausgebildeter Verhörspezialist für die Engländer gegen die Deutschen gekämpft und war nach seiner Rückkehr nach England dort jubelnd empfangen worden. Und er war nach der Niederlage Nazideutschlands ab September 1945 zwei Jahre lang für das britische War Crimes Investigation Team (WCIT) No. 2 tätig. Dieses war gebildet worden, um hohe deutsche Naziverbrecher professionell aufzuspüren, zu verhören und auch zu verurteilen.
Zurück zu Freuds Emigration nach England: Am 23.9.1939, 15 Monate nach seiner Emigration nach England, verstarb der schwer krebskranke Freud im Londoner Exil an einer Überdosis Morphium. Der Weg des weisen alten jüdischen Psychoanalytikers ins Exil war von schweren Ambivalenzen gekennzeichnet (vgl. Kaufhold & Wirth 2006). Freud hing der – im Rückblick betrachtet: trügerischen – Illusion an, durch eine partielle „Selbstanpassung“ der Psychoanalyse und ihrer Institutionen den Kern ihrer Wissenschaft wie auch ihre jüdischen Mitglieder – 147 der 150 Mitglieder seiner Wiener Psychoanalytischen Vereinigung (WPV) waren Juden (Kaufhold 2003a) – zu „retten“. Freuds aus Not gewählte Strategie war die einer partiellen „Selbstanpassung“. Dies ist in einigen Studien vor allem von jüdischen und kritischen Publizisten und Psychoanalytikern als eine tragische Selbsttäuschung interpretiert worden (vgl. Kaufhold & Hristeva 2021, Fallend & Nitzschke 1997). Die Alternative wäre die Auflösung der psychoanalytischen Institutionen, die rasche Emigration der Psychoanalytiker bzw. eine entschlossene Widerstandstätigkeit in Nazideutschland gewesen, wie sie einige mutige jüdische Psychoanalytiker (u.a. Reich, Jacobson, Landauer) betrieben.
Sigmund Freuds Tod im September 1939 ersparte ihm unermessliches Leid: Er erlebte nicht die Shoah, die systematische Ermordung von sechs Millionen Juden, Sinti und weiteren Minderheiten (vgl. Kaufhold & Hristeva 2021, 2022, Kaufhold 2003b). Und er erlebte nicht die Ermordung zahlreicher seiner psychoanalytischen Kollegen und Freunde, vor allem aus osteuropäischen Ländern.
Vor allem jedoch erlebte Sigmund Freud nicht das Schicksal seiner Schwestern, die nach Freuds Emigration 1938 in Wien bleiben mussten: Vier seiner fünf hochbetagten Schwestern – Adolfine, Marie, Pauline und Rosa – wurden wenige Jahre nach Freuds Emigration und Tod ermordet, weil sie Juden waren (vgl. Kaufhold & Hristeva, 2021, S. 12, Tögel o. J.). Da zu der Ermordung der vier Freud-Schwestern nur spärliche Publikationen existieren (u.a. Tögel o.J.), die durch neue Forschungen von Johanna Frei vom Wiener Sigmund Freud Museum im Rahmen der Neukonzeption der Dauerausstellung des Sigmund Freud Museum in Details durch eine neue Quellenlage korrigiert worden sind, möchten wir deren Forschungsergebnisse – an dieser Stelle wiedergeben:
„Adolfine Freud, Marie Freud und Pauline Winternitz wurden am 28.6.1942 mit dem 29. Transport, dem “Alterstransport IV/2” von Wien in das Ghetto Theresienstadt deportiert. Rosa Graf wurde am 27.8.1942 mit dem Transport 38, dem “Alterstransport IV/9”, von Wien in das Ghetto Theresienstadt deportiert. Sowohl dem Theresienstädter Gedenkbuch als auch dem Totenbuch Theresienstadt ist zu entnehmen, dass Adolfine Freud am 29. September 1942 in Theresienstadt starb. Andere Angaben, die unter anderem auch Harry Freud und Leupold Löwenthal bei ihren Recherchen verwendeten, und die angeben, dass Adolfine Freud am 5. Februar 1943 an inneren Blutungen in Theresienstadt starb, sind als falsch einzuordnen und aufgrund einer Namensverwechslung zustande gekommen (Antonie Freud). Marie Freud und Pauline Winternitz wurden beide mit dem Transport “Bq” am 23. September 1942 von Theresienstadt in das Vernichtungslager Treblinka deportiert, wo sie ermordet wurden. Aufgrund unsicherer Quellenlage, die erst durch neuere Forschung korrigiert werden konnte, wurde immer wieder angenommen, dass jener Transport “Bq” nicht nach Treblinka, sondern in die Vernichtungsstätte Maly Trostinec führte. Auch das Theresienstädter Totenbuch aus dem Jahr 1971 gab dies an.
Mittlerweile besteht kein Zweifel mehr daran, dass jener Zug “Bq” nach Treblinka fuhr und somit die Freud Schwestern dort vergast wurden. Rosa Graf wurde mit dem Transport “Bs” am 29. September 1942 ebenfalls nach Treblinka deportiert, wo auch sie durch die Nazis ermordet wurde.“[i]
Einzig Freuds Schwester Anna Freud Bernays (1858-1955) überlebte die Shoah, weil sie mit ihrem Mann und ihren Kindern bereits 1892 34-jährig von Wien nach New York ausgewandert war, wo die Familie ökonomisch sehr erfolgreich war und ein „offenes Haus“ mit Vortragsabenden hatte. Den Kontakt zu Wien sowie Europa verlor sie jedoch nie (Freud-Bernays 2004).[ii]
Eine Erinnerung an Ignatz Bubis
Beim Nachdenken erinnern wir uns immer an Ignatz Bubis (1927-1999) sel. A.: Dieser unerschütterlich wirkende Liberale kämpfte in Deutschland immer wieder entschlossen gegen Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit. Als Liberaler, der sich früh der FDP angeschlossen hatte und innerhalb der FDP politische Ämter innehatte, vertraute er auf die Kraft der Aufklärung. Nach den rassistischen Ausschreitungen im August 1992 in Rostock-Lichtenhagen gegen Roma und Vietnamesen ging er, sichtlich schwer betroffen und mit Worten ringend, gemeinsam mit Michel Friedman (CDU) an den Ort der Übergriffe; beiden wurde daraufhin von einem Rostocker CDU-Lokalpolitiker ihre „deutsche Heimat“ abgesprochen. Zeitgleich kritisierte er als einer von Wenigen die Änderung des Asylrechts im Sommer 1992.
Über Jahrzehnte fühlte er, der von 1992 bis 1999 Vorsitzender des Zentralrats der Juden war, sich in Deutschland sicher. Deutschland, Frankfurt erschienen ihm als Heimat. 1993 wurde er von einem CDU-Bundestagsabgeordneten als möglicher Kandidat für das Amt des Bundespräsidenten ins Spiel gebracht, was Bubis mit dem Argument ablehnte, dass die Bundesrepublik noch nicht reif hierfür sei: „Ein jüdischer Bundespräsident würde die Stimmung noch verschlimmern“, erklärte Bubis.
Erstmals brüchig wurde Bubis scheinbarer seelischer Selbstschutz, sein überlebensnotwendiger Verleugnungsmechanismus, als er 1996 – da war er 69 – Verwandte in Brasilien besuchte. Durch Zufall entdeckte er bei einem Brasilienbesuch erstmals das Foto seiner Nichte Rachel. Rachel war vierjährig in Polen durch die Nationalsozialisten ermordet worden. Ihr Foto trug er seitdem immer bei sich.
Zwei Jahre später, da war Bubis 71, hielt der „linke“ Schriftsteller Martin Walser in „seinem“ Frankfurt“ eine Preisrede, die man beim besten Willen nur als vulgär antisemitisch bezeichnen kann. Bubis war nahezu der Einzige in der Frankfurter Paulskirche, der gemeinsam mit seiner Frau im Saal sitzen blieb. Das 1000-köpfige bildungsbürgerliche Publikum hingegen feierte Walser frenetisch angesichts seiner geschichtsleugnenden, Juden erneut bewusst ausgrenzenden Kampfesrede.
Ende Juli 1999, zwei Wochen vor seinem Tode, gab Bubis dem Stern ein – letztes – Interview. Bubis, der überzeugte Liberale und deutsche Jude, war zutiefst erschüttert und resigniert. Er habe in seinem Leben in Deutschland „fast nichts“ erreicht, bilanzierte der 72-Jährige. Zwei Wochen später verstarb Bubis. Auf eigenen Wunsch ließ er sich in Israel beisetzen – nicht in Deutschland. Mit Deutschland, dem Land der Mörder und Geschichtsleugner, dem Land, das seine Nichte Rachel ermordet hatte wie viele Millionen Weitere, wollte er nichts mehr zu tun haben.
Wie hätte der skeptische Menschenfreund Sigmund Freud, so fragen wir uns, reagiert, wenn er von der systematisch organisierten Shoah, der Ermordung von sechs Millionen Juden, Sinti und Weiteren erfahren hätte? Wenn er von der Ermordung seiner vier Schwestern Adolfine, Marie, Pauline und Rosas 1942 in Theresienstadt, Treblinka sowie im Vernichtungslager Maly Trostinec erfahren hätte (Kaufhold & Hristeva 2021, 2023, Kaufhold & Wirth 2006)?
Hätte Freud, so fragen wir uns, seinen Verbleib in Österreich, seine ambivalente Strategie der „Selbstanpassung“, im Rückblick nicht doch als eine trügerische Illusion erkannt? Hätte er es nicht bitter bereut, seine Psychoanalytische Vereinigung nicht bereits ab 1933 auf eine gemeinsame Emigration – die Widerstand gegen das antisemitische Unrechtsregime mit einschloss – nicht vorbereiten sollen zu haben? Die niederländische Psychoanalytische Vereinigung – „Nederlandse Vereniging voor Psychoanalyse“ (NVP) – etwa hatte sich 1941 nach der Besetzung der Niederlande durch die Deutschen aufgelöst und war in den Untergrund gegangen. In Amsterdam bestand während der Zeit der Besatzung durch die Nationalsozialisten die geheime „Amsterdamsche Psychoanalytischen Werkgroep“. Zwei deutsche Psychoanalytiker, die in die Niederlande geflohen waren, wurden dennoch Opfer der Deutschen: August Watermann wurde nach Auschwitz verschleppt und im Oktober 1943 in Auschwitz ermordet; der Frankfurter Karl Landauer wurde im niederländischen Konzentrationslager Westerbork gefangen gehalten, gemeinsam mit seiner Frau und seinen drei Kindern nach Bergen-Belsen verschleppt, wo er im Januar 1945 an Hunger verendete.
Als es in den Niederlanden einen gemeinsamen Feind gab, beendeten die niederländischen Psychoanalytiker ihre gegenseitigen Feindseligkeiten und schlossen sich enger zusammen. Einer dieser Psychoanalytiker und Antifaschisten war der ehemalige Deutsche Hans Keilson (vgl. Kaufhold 2008, Kaufhold & Hristeva 2021).[iii]
Der „Nazijäger“ Anton Walter Freud (1921-2004)
Anton Walter Freud wurde am 3.4.1921 in Wien geboren. Er wuchs mit seiner drei Jahre jüngeren Schwester Sophie auf, die sich später in ihren Schriften stark von ihrem Großvater absetzen sollte.
Anton Freud erinnerte sich im Alter an eine „very close“ Beziehung ihrer Familie zu Sigmund Freud. Am Wochenende besuchte er seinen Opa Sigmund Freud häufig in der Berggasse, von dem er wusste, dass dieser eine „very, very famous person“ war. Er wuchs, vor allem wegen der antisemitischen Grundhaltung in Wien, in „completely Jewish circles“ auf: „I did not have a single non-Jewish friend.” Er besuchte zuerst die berühmte Wiener Schwarzwaldschule; diese wurde von zahlreichen Juden besucht, darunter den lebenslangen Freundinnen Marie Langer und Else Pappenheim; im Anschluss war er Schüler des Wiener Realgymnasiums.
1938, da war Anton Freud siebzehn, musste er seine Schule verlassen: Er floh mit seinem Vater und Sigmund Freud nach London. Für seine Eltern war dies Anlass, sich zu trennen: Seine Mutter Ernestine ging mit ihrer Tochter Sophie nicht nach England, sondern nach Paris.
Aus dieser letzten, Londoner Lebenszeit Sigmund Freuds existiert eine kleine Filmsequenz, auf der man Sigmund Freud gemeinsam mit seinen Enkelkindern Anton sowie dessen 20 Monate jüngeren Cousin Lucian Freud in Freuds Garden in Hampstead, London, sieht:
Sigmund Freud et ses petits-fils Anton et Lucian Freud, Londres, 1938 pic.twitter.com/BgjQ3jOCtl
— Cora (@Coranalyste) November 17, 2022
Lucian Freud (Berlin 1922 – London 2011), der später einer der berühmtes Portraitmaler von England werden sollte, war der Sohn von Sigmund Freuds Sohn Ernest L. Freud (1892-1970), einem Architekten. Diese waren bereits 1933 nach London emigriert und empfingen die Freuds dort.
In dem Guardian-Portrait „‘Sigmund would have loved this’ – Lucian Freud: The Painter and his Family review“ findet sich ein Foto von Sigmund Freud und dessen Enkeln Anton und Lucian in Freuds Garten.
In England schloss Anton seine Schule ab und machte eine Ausbildung in Aeronautical Engineering. Im Juni 1940 dann ein Schock: Während einer Uni-Prüfung musste er – er galt im von den Deutschen angegriffenen England als ein „feindlicher Ausländer“ oder sogar als ein Spion – seine Schule verlassen und wurde für neun Wochen nach Australien deportiert. Dies empfand er als eine „absolute Ungerechtigkeit“. Nach seiner Rückkehr nach Wien arbeitete er als Soldat beim Pioneer Corps. Da er fließend Deutsch sprach wurde er vom britischen Geheimdienst Special Operations Executive (SOE) übernommen und erhielt eine intensive Ausbildung in Sabotagearbeit, um gegen die nazistischen deutschen Feinde zu kämpfen. Er erlernte das gesamte Repertoire militärischen sowie subversiven Arbeitens: Eisenbahnsabotage, Sprengstofftechnik, Fallschirmspringen und Verhörmethoden. Laut seiner Militärakte galt er als „extrem intelligent“.
Mit Kriegsende kehrte Anton Freud nach Österreich zurück und landete als Soldat in Judenberg in der Steiermark. Dort war er der einzige bewaffnete Engländer, erinnerte er sich später. Einer seiner Mitsoldaten war der Jurist Georg Breuer (1907-1978), Enkelsohn von Sigmund Freuds frühem Vertrauten, dem Internisten und Wiener Psychoanalytiker Josef Breuer; letzterer gilt als der Erfinder der „kathartischen Methode“, die Freud anfangs als Grundlage seiner über Jahrzehnte weiterentwickelten Psychoanalyse wählte.
Direkt bei Kriegsende erlebte Anton Freud, wie nahezu alle Österreicher, mit denen er zu tun hatte, sich binnen weniger Wochen zu besonderen Freunden der Juden stilisierten: „And so everybody suddenly started loving the Jews which was quite funny.“
Es folgte ein Irrweg über Paris und London nach Hamburg. Dort hatte er seinen ersten Job als militärischer Verhörspezialist der „War Crimes Investigation Unit.“ Nun hatte er für zwei Jahre die Aufgabe, anzunehmende Kriegsverbrecher zu verhören.
Seine erste Aufgabe führte ihn unmittelbar in das Zentrum der Schrecklichkeit: Er musste den Nationalsozialisten Dr. Tesch verhören, was in dem Fernsehfilm Nazijäger – Reise in die Finsternis (2022), in dem Anton Freud im Mittelpunkt steht, detailreich filmisch ausgebreitet wird. Freud konfrontierte Tesch in harten Verhören mit seinem Wissen über die NS-Verbrechen von Teschs Firma: Diese hatte das Giftgas Zyklon-B in die deutschen Vernichtungsstätten transportiert: „He couldn’t deny it because we found all the receipts, all the delivery notes“ (Kaufhold & Hristeva 2023). 1946 wurde Tesch in Hamburg von den Engländern als Kriegsverbrecher zum Tode verurteilt und zwei Monate später im Zuchthaus Hameln hingerichtet.
Anton Freud sah unzählige Fotos von Bergen-Belsen und weiteren deutschen Konzentrationslagern. Die Bilder riefen in ihm den Wunsch hervor, „die Täter vor Gericht zu bringen.“
Über Tesch sagte Freud: „I was the prosecuting officer, and it gave me great satisfaction to get rid of that man. He was an absolute die-hard Nazi. He was an honorary SS man.“ (in Kaufhold & Hristeva 2023)
Darüber hinaus gelang es Freud, im Februar 1946 den ehemaligen SS-Standortarzt Alfred Trzebinski, der im KZ Neuengamme an sadistischen Kinderexperimenten beteiligt gewesen war, aufzuspüren und zu den Kindermorden zu befragen. Freud führte mit weiteren an diesen Kindermorden maßgeblich Beteiligten wie dem Aufseher Frahm Verhöre durch und konnte dazu beitragen, diese Verbrechen im Neuengamme-Prozess zu ahnden.
Im April 1944 hatte Dr. Kurt Heißmeyer in Neuengamme mit Versuchen an Kindern begonnen. Es wurde dort eine Baracke für Experimente mit Kindern errichtet, die seinen eigenen Namen trug: Die „Sonderabteilung Heißmeyer“. Diese sollte ihm zur wissenschaftlichen Karriere verhelfen. Die sadistischen Versuche wurden zuerst an Erwachsenen, dann ab November 1944 an 20 jüdischen Kindern durchgeführt. Er experimentierte mit Tuberkuloseerregern, nahm grausamste Experimente an diesen jüdischen Kindern sowie an 30 Russen vor. Das Credo von Lungenfacharzt Dr. Kurt Heißmeyer lautete: Es gäbe „keinen prinzipiellen Unterschied zwischen Menschen und Versuchstieren“.
Günther Schwarberg (1993) hat dies in seinem erschütternden Buch Der SS-Arzt und die Kinder vom Bullenhuser Damm ausführlich beschrieben.
1947 vermochte Anton Freud das Grauen, das auch das Grauen seiner eigenen Familie berührte, hinter sich zu lassen. Er kehrte nach England zurück und sprach für den Rest seines Lebens nahezu nie mehr über seine schwierigen Lebenserfahrungen als Verhörspezialist von deutschen Nazis: „I wanted to forget as quickly as possible all about the war and everything and wanted to lead a normal life again and try and catch up. (…) It is such ghastly, ghastly stuff that war crimes, you know. All those dreadful cruelties“ (Kaufhold & Hristeva 2023).
Der Rest seines Lebens hingegen sei „really an anti-climax, very conventional“ gewesen. Anton Freud arbeitete bei BP in der Chemieindustrie. Nach seiner Pensionierung 1977 trat er vereinzelt als Zeitzeuge zur Geschichte der Psychoanalyse auf. Er verstarb 2004 in England.
Er sei als Jude geboren worden, so betonte Anton Freud im Alter, und hoffe, als Jude zu sterben: „Yes, I’m very proud of it. I have no feeling of shame whatsoever.“
Eine umfangreiche Studie von Galina Hristeva & Roland Kaufhold über Anton Walter Freud ist unter dem Titel „„Ich bin sicher, Großvater hätte das gebilligt.“ Freuds Enkel Anton Walter (3.4.1921- 8.2.2004) als „Nazijäger“ in der Zeitschrift Psychoanalyse im Widerspruch Nr. 69, Heft 1/2023, S. 75-93, erschienen.
Bild oben: Sigmund und Anna Freud bei einem Spaziergang in den Dolomiten, 1913, Library of Congress Prints and Photographs Division Washington
Literatur
Fallend, K. & B. Nitzsche (Hg., 1997): Der „Fall“ Wilhelm Reich. Beiträge zum Verhältnis von Psychoanalyse und Politik. Gießen: Psychosozial Verlag.
Freud, A. (1996): Mein Großvater Sigmund Freud. In: Tögel, C. (1996): „Die Biographen aber sollen sich plagen…“ Beiträge zum 140. Geburtstag Sigmund Freuds. Österreichisches Ost- und Südosteuropa-Institut, Sofia, S. 7-20. http://www.freud-biographik.de/frdpro.htm
Freud-Bernays, A. (2004): Eine Sigmund Wienerin in New York. Die Erinnerungen der Schwester Sigmund Freuds. Hrsg. von Christfried Tögel. Berlin: Aufbau Verlag.
Grossmann, S. (2022): Anton Walter Freud: Vom Flüchtling zum Nazi-Jäger. NDR vom 14.01.2022. https://www.ndr.de/geschichte/koepfe/Wer-war-Anton-Walter-Freud,freud102.html
Kalthoff, J. und M. Werner (1998): Die Händler des Zyklon B. – Tesch & Stabenow. Eine Firmengeschichte zwischen Hamburg und Auschwitz. Hamburg VSA-Verlag.
Kaufhold, R. (2003a): „Wo wäre die Psychoanalyse in Wien heut“? Spurensuche zur Geschichte der in die USA emigrierten Wiener Psychoanalytischen Pädagogen, Luzifer-Amor, Themenheft: „Zur Geschichte der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung I, 1938-1949“, Hg. Thomas Aichhorn (Wien) , Luzifer-Amor Heft 31, 16. Jg., S. 37-69) https://www.hagalil.com/2020/09/psychoanalyse-2/#_edn1
Kaufhold, R.(20003b): Psychoanalyse und Nationalsozialismus. In: Zeitschrift für Politische Psychologie, Heft 1-3/2003 (Hg. R. Kaufhold & M. Löffelholz): „So können sie nicht leben“ – Bruno Bettelheim (1903 – 1990); sowie veröffentlicht 2020 auf haGalil: https://www.hagalil.com/2020/11/psychoanalyse-und-nationalsozialismus/ Restex. beim Autor RK für 15 Euro per Mail.
Kaufhold, R. & H. J. Wirth (2006): Sigmund Freuds Weg ins Exil. TRIBÜNE, (1), S. 158–170. Internet: https://www.hagalil.com/archiv/2008/11/freud (29.3.2022). Auf Englisch: https://www.hagalil.com/archiv/2008/11/freud-e.htm.
Kaufhold, R. (2008): „Das Leben geht weiter“. Hans Keilson, ein jüdischer Psychoanalytiker, Schriftsteller, Pädagoge und Musiker. Zeitschrift für psychoanalytische Theorie und Praxis (ZFPT), H. 1 / 2 – 2008, Jg. 23, S. 142-167. https://www.hagalil.com/2021/05/keilson-3/
Kaufhold, R. & G. Hristeva (2021): »Das Leben ist aus. Abrechnung halten!« Eine Erinnerung an vertriebene Psychoanalytiker unter besonderer Berücksichtigung von Wilhelm Reichs epochemachenden Faschismus-Analysen. In. Psychoanalyse im Widerspruch, H. 66/2021, 33, (2) (Gießen: Psychosozial Verlag), S. 7 – 66. https://www.psychosozial-verlag.de/8357
Kaufhold, R. & G. Hristeva (2022): Erinnerungen an vertriebene jüdische Psychoanalytiker und Wilhelm Reichs Faschismus-Analysen, haGalil, 29.3.2022: https://www.hagalil.com/2022/03/vertriebene-juedische-psychoanalytiker/
Ley, R. und H. Ley (2022): Nazijäger – Reise in die Finsternis. Ausgestrahlt im Ersten am 16.1.2022. https://www.ardmediathek.de/sendung/nazijaeger-reise-in-die-finsternis/staffel-1/Y3JpZDovL2Rhc2Vyc3RlLmRlL25hemlqYWVnZXItcmVpc2UtaW4tZGllLWZpbnN0ZXJuaXM/1.
Rothe, H.J. (1996): Ein exemplarisches Schicksal: Karl Landauer (1887–1945). In: Plänkers et.al. (Hg.): Psychoanalyse in Frankfurt am Main. Tübingen 1996, 87-108.
Schwarberg, G. (1994): Der SS-Arzt und die Kinder vom Bullenhuser Damm. Göttingen: Steidl.
Tögel, C. (o.J.): Bahnstation Treblinka: Zum Schicksal von Sigmund Freuds Schwester Rosa Graf.
[i] Mail des Wiener Freud Museums, Natascha Halbauer, an RK vom 31.1.2023.
[ii] Siehe: Anna Freud-Bernays (2004): Eine Sigmund Wienerin in New York. Die Erinnerungen der Schwester Sigmund Freuds. Hrsg. von Christfried Tögel. Berlin: Aufbau Verlag.
[iii] Siehe auch die Erinnerung der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung an ihre ermordeten jüdischen Mitglieder https://wpv.at/vereinigung/geschichte/emigration-sigmund-freud/in-memoriam/