Psychoanalyse und Nationalsozialismus

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Die Diskussion zum Thema „Psychoanalyse und Nationalsozialismus“, welche hierzulande – aus bekannten Gründen – um einige Jahrzehnte verspätet eingesetzt hat, wird auch in den USA geführt. Eben dorthin war der größte Teil der aus Österreich und Deutschland vertriebenen Psychoanalytiker und Psychoanalytischen Pädagogen in den 30er Jahren geflohen, hatte sich dort eine zweite Identität aufgebaut, ein „neues Leben“ (Paul Parin 1990) wählen müssen…

Von Roland Kaufhold

Maßgeblicher Motor dieser Diskussion in den USA ist der in New York lebende Psychoanalytiker und Hochschullherer Zvi Lothane (s. Lothane 1999, 2001a, b). Mit dem Themenschwerpunktheft des International Forum of Psychoanalysis hat er diesen Diskurs auch mittels eines breitgefächerten thematischen Spektrums sowie einer internationalen Autorengruppe international „verankert“. Die englischsprachigen Beiträge werden, dies sei noch erwähnt, u.a. durch eine deutsch- sowie spanischsprachige Zusammenfassung vorgestellt.

Die in dem Heft publizierten Beiträge von Nitzschke einerseits sowie Reichmayr/Mühlleitner („Psychoanalysis in Austria after 1933-34. History and Historiography“) andererseits brauchen an dieser Stelle nicht ausführlicher dargestellt zu werden. Ihre historiographischen sowie institutionskritischen Analysen –  von den Interpretationen und Wertungen her inhaltlich etwas different – über die Phasen der Vertreibung der Psychoanalyse, aber auch die „Selbstanpassung“ der Psychoanalyse an den „Zeitgeist“ – wie insbesondere von Nitzschke postuliert – sowie die Perioden des „Wiederbeginns“ bzw. „Neuanfangs“ nach 1945 sind in diesem vorliegenden Bettelheim-Heft durch eigenständige Beiträge (Nitzschke) bzw. in vorhergehend publizierten Rezensionen ausführlich dargeboten worden. Reichmayr/Mühlleitner erwähnen den in der Literatur zuwenig beachteten Beitrag von AmerikanerInnen, welche in den 20er und 30er Jahre nach Wien gekommen waren, um die Psychoanalyse an ihrem Geburtsort kennenzulernen, für die Emigration – und das heißt: für deren physisches Überlenben – der allergrößtenteils jüdischen Analytiker. Das singuläre Wirken August Aichhorns in Wien (sein Sohn war zeitweise in Buchenwald festgehalten worden), welcher einen kleinen privaten Kreis von an der Psychoanalyse Interessierten um sich versammelt hatte, sowie dessen Auswirkungen auf den Neubeginn der Psychoanalyse in Wien ab 1946, wird in Erinnerung gerufen.

Harry Stroeken (Utrecht) zeichnet die Entwicklung der Psychoanalyse in den Niederlanden während des zweiten Weltkrieges nach. Auch dort hatte es Auseinandersetzungen insbesondere über die Frage der Laienanalyse gegeben. Dieser Konflikt intensivierte sich nach der Emigration von vier deutschen Analytikern in die Niederlande, was zu institutionellen Spaltungen führte. Die lebensbedrohliche Situation ihrer deutschen und österreichischen Kollegen wurde – was ja auch für die Situation in den USA gilt – nicht rechtzeitig bzw. angemessen erkannt: „Furthermore, the Dutch analysts had financial worries: they were afraid of being overrun by foreign collegues.“ Einer dieser deutschen Analytiker, die in den Niederlanden Zuflucht suchten, war Karl Landauer. An dessen tragisches Schicksal – er wurde nach Bergen Belsen deportiert und verstarb dort im Januar 1945 – wird erinnert.

Alain de Mijolla (Paris), Vorsitzender der internationalen Vereinigung zur Geschichte der Psychoanalyse,skizziert in einer langen Studie die schwierige Situation der Psychoanalyse während der vierjährigen Besatzungszeit durch die Deutschen: „France was affected by a deep psychoanalytic silence, both in theoretical and clinical fields.“ (S. 136) Einige Analytiker emigrierten, zumindest einer R: Laforgue) kooperierte mit der Besatzungsmacht, andere kämpften im Untergrund. Diese disparaten Umgangheiten und Bewältigungsformen wirkten sich prägend auf die Nachkriegsphase und die hierbei aufbrechenden individuellen und institutionellen Aufbrüche und Fehden.

In „Fleeing from One Place, Searching for Another“ erinnert Per Magnus Johansson (Götheborg) an das dramatisch verlaufene Leben des jüdischen Analytikers Lajos Székely: 1904 in Budapest geboren wurde er durch Ferenczi zur Analyse angeregt, ging 1931 im Rahmen eines Forschungsprojektes nach Heidelberg und floh 1933 nach Amsterdam, wo er Wilhelm Reichs Schüler Fritz Perls kennenlernte. Diese Begegnung veranlasste ihn, 1936 zusammen mit einigen Verwandten in Moskau Zuflucht zu suchen – was sich erneut als eine trügerischer Zufluchtsort erwies. Sein Bruder wurde vom NKWD verhaftet, weshalb sie 1938 in Helsinki Zuflucht suchten. 1944 wanderten sie weiter nach Schweden. Sein Wirken in Finnland und Schweden sowie die Entwicklung der dortigen Psychoanalyse wird nachgezeichnet. Székely verstarb 1995 in Schweden. Diese biographische Skizze steht nach Johansson repräsentativ für das Schicksal vieler jüdischer Analytiker, die immer wieder verzweifelt vor ihrer rassischen Verfolgung flohen und, entwurzelt, gezwungen waren, sich unter den Bedingungen einer fragwürdig sicheren, brüchigen neuen Heimat eine neue berufliche und soziale Identität aufzubauen.

Sanford Gifford, welcher selbst in Boston als Analytiker arbeitet, zeichnet detailliert und kenntnisreich das Schicksal einiger österreichischer Analytiker nach, die in den Jahren 1930-1940 in Boston Zuflucht gesucht bzw. sich dort aus sonstigen beruflichen Gründen niedergelassen hatten. Dargeboten wird das Wirken von Paul Schilder, Franz Alexander, Hans Sachs, Erik H. Erikson, Helene, Felix und Martin Deutsch, Beate und Helene Rank, Jenny und Robert Waelder, Grete und Edward  Bibring sowie Edward und Gretl Hitschmann. Zwischen ihnen sowie ihren amerikanischen Kollegen waren Freundschaften entstanden, es entwickelte sich ein dichtes, offensichtlich gleichberechtigtes und inspirierendes Netz von Kommunikation und Zusammenarbeit, in welchem auch Laienanalytiker „akzeptiert“ wurden. Die Produktivität dieser Zusammenarbeit mag sich auch darin spiegeln, dass einige ihrer Kinder in die beruflichen Fußstapfen ihrer Eltern traten. Hatte die Bostoner psychoanalytische Gesellschaft 1933 zehn offizielle Mitglieder, so wuchs diese Gruppe zehn Jahre später auf 37 Mitglieder an, darunter 14 Europäer. Gifford hebt hervor: „As we have seen, many Bostonians had optained their analytic training in Vienna and Berlin and they warmly welcomed their former teachers. They enjoyed recalling their sojourns abroud as `the best years of their lives,´ despite the political tragedies and personal dangers that followed the Nazi take-over. (…) In conclusion, it can be said that the intermingling of European culture and American traditions had beneficial effects on both, and on the development of psychoanalysis in Boston.“ (S. 170) Und: „This broad stream of writers, academicians and scientists transformed our cultural life in a decade, changing our tastes in music, architecture and other fields of science, including psychoanalysis.“ (S. 164) Giffords Untersuchung kann produktiv im Kontext des in diesem vorliegenden Bettelheim-Heft publizierten Beitrag von Wirth/Haland-Wirth gelesen werden, welchem ein sechsmonatiger Forschungsaufenthalt vor allem in New York und Boston zugrunde lag.

Besondere Erwähnung verdient jedoch der eigene autobiographische Erinnerungen verarbeitende Beitrag von Lore Reich, der jüngsten Tochter Wilhelm Reichs, die als Analytikerin in Pittsburgh arbeitet. Ihr Beitrag „Wilhelm and Anna Freud: His Expulsion from Psychoanalysis“ stimmt in sehr maßgeblicher Weise mit Bernd Nitzschkes und Karl Fallends diesbezüglichen Forschungen – auf die mehrfach zustimmend verwiesen wird – über den Ausschluss Wilhelm Reichs aus den psychoanalytischen Gesellschaften überein (s. den Beitrag von Nitzschke in diesem Heft).

Einführend bemerkt sie: „I write from two perspectives: The first is that of a psychoanalyst who is attempting to interpret the available documents in the field. The second is of a more personal nature. Wilhelm Reich was my father.“ (S. 109)

Ihre Erinnerungen an die außergewöhnliche Produktivität ihres Vaters, aber auch an dessen ausgeprägte, konventionelle Regelungen häufig überschreitende Streitbarkeit, trifft mit Bruno Bettelheims Erinnerungen an seine Begegnungen mit Reich in Wien (s. Fisher 2003, u.a. S. 147-152, Raines 2002, S. 32f., s. Nitzschke in diesem Heft) überein. Sie bemerkt:

„Now I will give you an account of my father. He was not a saint. He was a very difficult man (…) I became interested in the fact that here was a man who was enthusistic, energetic, dedicated to psychoanalysis.“ (S. 109) Sie zeichnet Reichs von Freud anfangs nachdrücklich geförderten, „kometenhaften“ Aufstieg innerhalb der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung nach, insbesondere sein inspirierendes Wirken in dem von ihm von 1924 – 1930 geleiteten technischen Seminar, welches von Anna Freud besucht wurde. Anna Freud hatte einige Jahre später – neben Ernest Jones sowie Paul Federn, Reichs Lehranalytiker – maßgeblichen Anteil an den – so die Autorin – „politischen Manipulationen in den Hintergrundszenen zwischen Ernst Jones und Anna Freud, um die Ausstoßung von Reich (…) zu bewirken.“ (S. 116) Die Phasen dieser sich im Kontext der nationalsozialistischen Bedrohung sich verschärfenden Maßnahmen gegen Reich werden nachgezeichnet; so habe Reich beispielsweise erst am Rande des Luzerner Kongresses im Jahre 1934 durch Zufall von der einige Monate zuvor vollzogenen Streichung seines Namens aus den Mitgliederlisten der analytischen Vereinigung erfahren. Weiterhin interpretiert sie die spätere Distanzierung einiger Reich in Wien noch nahestehender – politisch „links“ orientierter – Freude von Reich in den USA im Kontext ihrer eigenen Versuche, sich in den USA eine neue Identität aufzubauen.

Ergänzend seien hierzu Bettelheims Erinnerungen an und Interpretationen zu Reichs Wirken in diesen Seminaren sowie dessen Beziehung zu Anna Freud wiedergegeben, wie er im Interview mit Fisher schilderte. Eingehend beschreibt Bettelheim hierbei das Geheimnis, welches um die analytische Ausbildung Anna Freud durch ihren Vater gemacht wurde:

B.B.: (…) Es war bekannt, aber es wurde geheim gehalten. Obwohl es bekannt war, wurde es sehr geheim gehalten, dass sie von ihrem Vater analysiert worden ist. Aber andererseits wurden in jenen Tagen die Kinder von Analytikern oftmals von ihren Eltern analysiert; das war nicht so außergewöhnlich.

D.J.F.: Und ihr Einfluß? Wuchs sie an Gestalt, als Reich ausgeschlossen wurde? Und als sie begann, sich der Veröffentlichung von Das Ich und die Abwehrmechanismen zu nähern?

B.B.: Die Schwierigkeit ist, dass ich nicht glaube, dass Das Ich und die Abwehrmechanismen geschrieben worden wäre, wenn Reich nicht zuvor seine Charakteranalyse veröffentlicht hätte. Obwohl das niemals eingeräumt worden ist.

D.J.F.: Haben Sie das Gefühl, dass es irgendwie Ihre Antwort auf Charakteranalyse ist, ihre gemäßigtere Fassung?

B.B.: Nein, es ist keine gemäßigte Fassung, aber die ganze Vorstellung von der Analyse des Widerstandes in ihrem Buch, das waren Gedankengänge, die sich in den Seminaren, in denen Willi Reich sprach und in denen sie als eine Studentin teilnahm, aufgetan hatten.“ (Fisher 2003, S. 152)

Bettelheim, dies sei noch erwähnt, hat in einem Brief an David James Fisher vom 24.6.1983 in der ihm eigenen feinen Ironie sein Befremden über Anna Freuds Rolle als Hüterin der Orthodoxie folgendermaßen zum Ausdruck gebracht:

„… and the role of guardian of psychoanalysis she chose. In regard to her the official psychoanalytic attitude is that everybody has ambivalences about his parents, with the one exception of Anna Freud.“ (S. 189)

Bild oben: Anna Freud mit ihrem Kollegen August Aichhorn 1948 in Lausanne, © Thomas Aichhorn

Literatur:

Fisher, David James (2003): Psychoanalytische Kulturkritik und die Seele des Menschen. Essays über Bruno Bettelheim. Gießen: Psychosozial-Verlag.
Lothane, Zvi (1999): Introduction to Nitzschke, B.: Psychoanalysis during National Socialism: present-day consequences of a historical controversy in the „case“ of Wilhelm Reich. Psychoanalytic Review, 1999; 86, S. 349-351.
Lothane, Zvi (2001a): Introduction: psychiatry, psychotherapy, and psychoanalysis in the Third Reich. Psychoanalytic Review, 2001; 88, S. 143-153.
Lothane, Zvi (2001b): The deal with the devil to „save“ psychoanalysis in Nazi Germany. Psychoanalytic Review, 2001; 88, S. 195-224.
Lothane, Zvi (2004): Seelenmord und Psychiatrie – Zur Rehabilitierung Schrebers. Gießen: Psychosozial-Verlag.
Parin, Paul (1990): Noch ein Leben. Ein Versuch. Zwei Erzählungen. Freiburg: Kore.
Raines, Theron (2002): Rising to the light: A Portrait of Bruno Bettelheim. New York: Alfred A. Knopf.

Dieser Beitrag ist zuvor erschienen in der Zeitschrift für Politische Psychologie, Heft 1-3/2003 (Hg. Roland Kaufhold et. al.): „So können sie nicht leben“ – Bruno Bettelheim (1903 – 1990), 303 Seiten. Wir danken der Redaktion und dem Herausgeber für die Nachdruckrechte.

Inhaltsverzeichnis und Einführung

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