Zu Jens Tanzmanns Studie „Vom Beate-Klarsfeld- zum Lischka-Prozess“
Von Roland Kaufhold
„Die NS-Prozesse vor deutschen Gerichten sind eine total hoffnungslose Angelegenheit. (…) Es ist ebenso unmoralisch, solche Prozesse gar nicht, als wie sie aufgrund der Strafprozessordnung zu halten. In beiden Fällen kann nichts als Verzweiflung dabei herauskommen.“
Der Historiker Gershom Scholem in einem Brief an Walter Boehlich am 28.11.1979 (in Klein (2013), S. 8)
2013 habe ich den Beitrag von Jens Tanzmann (2013) über die NS-Täter Lischka, Hagen und Heinrichsohn erstmals gelesen und darüber geschrieben (Kaufhold 2013a, b). Der Beitrag hatte mir gefallen. Bei der Neu-Lektüre war mir der Wert dieser Erinnerungsarbeit offenkundig. Wir publizieren sie nachfolgend.
Der Autor, Jens Tanzmann, wurde 1975 geboren. Der Historiker arbeitet heute als Lehrer an einem Gymnasium in der Nähe Kölns. Erinnerungspolitik gehört zu seinen Forschungs- und Unterrichtsbereichen. Kürzlich setzte er z.B. gemeinsam mit seinen SchülerInnen gegen Widerstände die Verlegung von Stolpersteinen an seinem Schulort durch. Nachfahren der Überlebenden reisten extra aus England an.
Tanzmanns Studie über den Kölner NS-Täter Kurt Lischka und das jahrzehntelange, beeindruckende Engagement von Serge und Beate Klarsfeld für eine historische „Aufarbeitung“ der NS-Verbrechen ist zuvörderst eine Rekonstruktion und Erinnerung an NS-Verbrechen, die ab 1933 „mustergültig“ von Deutschen organisiert wurden. Der Begriff „Aufarbeitung“, das sei an dieser Stelle nur erwähnt, könnte inzwischen als schal wirken, gerade auch angesichts der aktuellen Verbrechen Russlands und Putins in der Ukraine. Aber vielleicht gibt es zu diesem Begriff doch keine Alternative.
Die Vernichtung der französischen Jüdinnen und Juden – sowie der nach Frankreich geflohenen deutschen Juden – wurde von zahlreichen deutschen NS-Tätern organisiert und in die grausame Realität umgesetzt. „Lediglich 2.560 von mehr als 76.000 französischen Juden überlebten“ konstatiert Jens Tanzmann (S. 191) lakonisch in seiner tiefschürfenden Studie zur Rezeption des „Lischkaprozesses“. Zu den Hauptverantwortlichen für die NS-Verfolgung in Frankreich zählten Kurt Lischka, Herbert-Martin Hagen und Ernst Heinrichsohn. Die drei standen vom Oktober 1979 bis Februar 1980 als Hauptangeklagte vor dem Kölner Landgericht am Appellhofplatz. Der Prozess endete mit einem Schuldspruch für die drei Angeklagten. Er gilt als einer der wenigen NS-Prozesse, die auch juristisch als „mustergültig“ gelten können. Bernhard Brunner konstatierte retrospektiv in seiner Studie über die Geschichte des „Frankreich-Komplexes“ nüchtern: „30 Jahre Ermittlungen und drei Verurteilungen.“(Brunner, 2013, S. 83; vgl. Müller (2013)).
Neue Filme und Literatur über Lischka sowie die Klarsfelds
Der Kampf um die Gerechtigkeit, um die „Aufarbeitung“ der nationalsozialistischen Verbrechen, war in Köln insbesondere an die Person Kurt Lischka gebunden (vgl. Klein 2013, Kaufhold 2013a). Der 1909 in Breslau geborene Jurist und NS-Täter Lischka stieg 1940 zum Gestapochef im Kölner EL-DE Haus auf und ab November 1940 zum Befehlshaber der Sicherheitspolizei und des „Sicherheitsdienstes“ (SD) in Paris. Als solcher war er maßgeblich für die Deportation von mindestens 73.000 französischen Juden vor allem nach Auschwitz verantwortlich. Nach dem Kriege wurde er durch die Briten inhaftiert und 1947 nach Prag ausgeliefert, jedoch bereits1950 in die junge Bundesrepublik entlassen. Ein französisches Militärgericht hatte Lischka kurz vor seiner Entlassung aus tschechoslowakischer Haft in Abwesenheit zu lebenslanger Zwangsarbeit verurteilt. Ab 1950 lebte Lischka als Manager unter Klarnamen unbehelligt in Köln.
Es waren insbesondere Serge und Beate Klarsfeld, die seit Anfang der 1970er Jahre um die Verurteilung Lischkas, Hagens und Heinrichsohns kämpften. Ohne deren Engagement wäre es wohl nie zu dem Kölner „Lischka-Prozess“ gekommen. Dieser endete nach nur dreißig Verhandlungstagen am 11. Februar 1980 mit der Verurteilung der Drei zu einer Haftstrafe von sechs, zehn und zwölf Jahren (Kaufhold 2013a, 2019b). Vorausgegangen war diesem Prozess ein – gescheiterter – Entführungsversuch des damals 61-jährigen Lischka durch die Klarsfelds am 22.3.1971 (Reinle 2006). Weiterhin hatte es zahlreiche weitere massive Proteste der Klarsfelds und der F.F.D.J.F. in Köln sowie an den Wohnort von Hagen und Heinrichsohn gegeben. Zu der gescheiterten Entführung sollte Klarsfeld im Rückblick in einem Interview sagen: „Wir waren zu unprofessionell, wir waren nicht der Mossad.“ (Reinle, 2006)
Für die mediale Breitenwirkung und die teils bis heute anhaltende kollektive historische Erinnerung möglicherweise entscheidend waren auch die dokumentarischen Drehaufnahmen, die der 1935 in Mannheim geborene, in Palästina aufgewachsene und seit 1958 in Köln lebende Kameramann Harry Zwi Dreifuss (1935-2020) (vgl. Jawne 2020 sowie Klein 2013, S. 154-166) von der gescheiterten Entführung von Lischka sowie am nachfolgenden Tag (23.2.1971) von Hagen im sauerländischen Warstein machte: Die Klarsfelds versuchten, die ehemaligen NS-Männer zum Reden zu bringen, der Kameramann Dreifuss filmte deren Reaktion: „Diese Szene hat sich in das kollektive Gedächtnis eingeprägt: Wir sehen einen flüchtenden älteren Herrn, er trägt einen Hut und hält sich schützend seine Aktentasche vor den Kopf. Verfolgt wird er von einer Kamera, eine Tonaufnahme der Szene existiert nicht.“(Kaufhold 2013a)
Viel Neues zur Forschung über den Lischka-Prozess ist seitdem Buch von Anne Klein (2013), in dem Tanzmanns Beitrag erstmals publiziert wurde, nicht erschienen –wenn man von Peter Finkelgruens Beiträgen als Zeitzeuge und Kölner Unterstützer der Klarsfelds in den Jahren von 1979 bis 1981 absieht (Finkelgruen 2020, Kaufhold 2020, Angelahr 2021). Dies könnte überraschen, erscheint mir aber letztlich nicht als verwunderlich. Der Wunsch zu vergessen ist stärker als der Wunsch zu erinnern:Die Erinnerungen an die eigenen Verwandten, Vorfahren als mögliche Täter, Zuschauer oder als „Mitläufer“ ruft ein Unwohlsein bei der großen Mehrheit der Deutschen hervor, welches letztlich verdrängt werden möchte.
Der Kölner Journalist Peter Finkelgruen (vgl. Kaufhold 2022) besorgte sich Ende der 1970er Jahre, im Kontext seiner eigenen Recherchen zu den Kölner Edelweißpiraten (Finkelgruen 2020, Kaufhold 2020), die von den Klarsfelds und ihrem französischen Umfeld erarbeiteten Dokumente über die deutsche Verfolgung der französischen Juden. Und es gelang ihm, diese parallel zum Lischka-Prozess in einer deutschsprachigen Version in einer Ausstellung in Köln zu zeigen (Finkelgruen 2020, S. 100, 185, 265). Parallel hierzu schrieben er und Gertrud Seehaus-Finkelgruen (Seehaus 2017) u.a. in der Freien Jüdischen Stimme (1979-1980) über den Lischka-Prozess (Kaufhold2019a, b). Er besuchte die Klarsfelds seinerzeit auch einmal in deren Pariser Wohnung. Beim Verlassen des Fahrstuhls in deren Haus war er anfangs verwundert, dass vor deren Wohnungstür ein Polizist zum Schutz auf einem Stuhl saß. In jenen Jahren entgingen die Klarsfelds nur mit Glück mehreren Mord- und Sprengstoffanschlägen.
Filmische „Aufarbeitung“ der NS-Verfolgung
Was die filmische Aufarbeitung der deutschen NS-Verbrechen, insbesondere in Köln, betrifft so könnte eine Erinnerung von Gerhart Baum (vgl. Baum 2020a, b) nützlich sein: Der 1932 in Dresden geborene Baum war aus tiefer demokratischer Überzeugung in eine Partei – für ihn war dies die FDP – eingetreten, um die Demokratie gegen das nationalsozialistische Erbe aufzubauen. Die außergewöhnlichen Schwierigkeiten, die er als entschiedener Liberaler hierbei über Jahrzehnte insbesondere auch innerhalb seiner in den 1960er Jahren teilweise noch vom nationalsozialistischen Geist geprägten FDP zu überwinden hatte (Kaufhold 2018, 2022b), hat er 2020 in einer Rede in Köln über die Edelweißpiraten veranschaulicht (Baum 2020c).
Von 1966 bis 1968 war der damalige Kölner FDP-Kommunalpolitiker Baum Bundesvorsitzender der Deutschen Jungdemokraten (DJD). In jener Zeit versuchte er in Köln den französischen Film „Nacht und Nebel“ von Alain Resnais (1955/56) zu zeigen, um über die Verleugneten deutschen Verbrechen aufzuklären. Resnais Film handelt von dem deutschen Vernichtungsfeldzug gegen die Juden. Gegen Baums Filmpläne erhob sich ein Sturm des Protests. Und es gab den Versuch, die Vorführung zu verbieten. In dem Film sieht man die ins Leere gerichteten Blicke der Häftlinge, die Leichenberge. Baum wurde selbstredend als „Kommunist“ verdächtigt. Die Realität der deutschen Vernichtungslager rief den Wunsch nach Verleugnung hervor– ein Affekt, der bis heute nicht abgebrochen ist.
In Köln war es vor allem der 1942 geborene Filmemacher Dietrich Schubert, der immer wieder filmisch an die Naziverbrechen und deren Verleugnung erinnerte, so in seinem Film „Widerstand und Verfolgung in Köln 1933-1945“ aus dem Jahr 1975. „Die mutigen Kölner Widerstandskämpfer von damals“, konstatiert Schubert in seinem Film-Begleittext, seien unbequem wegen ihrer Geschichte, aber „auch durch ihre heutige Existenz“. Damit war bereits 1975 der Kern der Nicht-Anerkennung des jugendlichen Widerstandes der Edelweißpiraten, von Persönlichkeiten wie dem Kölner Widerständler Hans Steinbrück (Finkelgruen 2020, Kaufhold 2022) aber auch der jüdischen französischen Demonstranten in Köln im Vorfeld des Lischka-Prozesses benannt. Über eben jene schreibt Jens Tanzmann in seiner bemerkenswerten Lischka-Studie.
Das Drehbuch zu Schuberts Film (1975) schrieb Walter Kuchta. Kuchta, der als Kommunist im antifaschistischen Widerstand engagiert gewesen war, hatte bereits am 10.11.1966 mit einem Plakat vor der Köln-Ehrenfelder Hinrichtungsstätte der Edelweißpiraten Gerechtigkeit gefordert (Finkelgruen 2020, S. 248). Als Finkelgruen 1979 mit dem Verfassen seines Edelweißpiratenbuches „Soweit er Jude war…“ begann, wurde er von Zeitzeugen immer wieder auf Kuchta verwiesen (vgl. Finkelgruen 2020, S. 127, 131, 133, 248). Er lernte Kuchta, der in der VVN engagiert war, persönlich kennen, und dieser gewährte ihm Einblick in dessen „enormes Archiv“ (Finkelgruen 2020, S. 127).
Eine thematische Fortsetzung fand sich in Schuberts Filmen Nachforschungen über die Edelweißpiraten (Schubert 1980) sowie Unterwegs als sicherer Ort über Finkelgruens bewegte Vita (Schubert 1997).
2009 erschien der Kinofilm „Die Hetzjagd“ mit Franka Potente. Hierin spürt man auch Beate Klarsfelds Erleichterung, als der Kriegsverbrecher Klaus Barbie, von 1942 – 1944 Gestapo-Chef in Lyon, 1983 doch noch von Bolivien nach Frankreich ausgeliefert und dort festgenommen und verurteilt wurde. Barbies Verteidigung wurde durch den Schweizer Bankier und Shoah-Leugner Francois Genozid finanziert.1987 wurde dieser wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit verurteilt, vier Jahre später starb er in französischer Haft.
Neu erschienen ist ein französischer Graphic Novel von Pascal Bresson und Sylvain Dorange (2021) über die Klarsfelds sowie eine wissenschaftliche Lischka-Studie von Theresa Angenlahr (2021).
Jens Tanzmanns Studie
Jens Tanzmann zeichnet in seiner nun auf haGalil veröffentlichten Studie den bemerkenswerten, nur 35 Prozesstage beanspruchenden Kölner NS-Prozess und dessen gesellschaftlichen Hintergründe nach. Es reflektiert das bemerkenswerte Medieninteresse an dem Kölner Prozess (1979/1980), welcher den Stellenwert dieses Prozesses für die „Aufarbeitung“ der Nazizeit widerspiegelt. Er erinnert an das „unscheinbare Mietshaus“ der Lischkas in der Köln-Holweider Bergisch-Gladbacher Str. 554 wie auch den nur einen Steinwurf vom Kölner Hauptbahnhof entfernt gelegene Arbeitsplatz des „Schreibtischtäters“ Lischka nach (Tanzmann 2013, S. 193). Lischka arbeitete dort, versteckt in einem Hinterzimmer, für einen befreundeten Getreidegroßhändler als Prokurist.
Lischka lebte in Köln weiter unter seinem Namen, war jedoch, bis auf vereinzelte Angriffe aus der DDR, ein anerkanntes Mitglied der Kölner Gesellschaft. Die Justiz behelligte ihn nicht, bis auf seine Teilnahme als Zeuge an zwei anderen NS-Prozessen. Diese Ruhe des Täters wollten die Klarsfeld, mit Unterstützung des mutigen Kameramannes Harry Zwi Dreifuss (1971 – 1974), ab dem Jahr 1971 nachdrücklich stören, u.a. durch Publikationen in dem französischen Magazin Combat sowie durch besagten filmischen Dokumentationen von Harry Zwi Dreifuss gemeinsam mit den Klarsfelds. Die Szene, wie Lischka sein Gesicht hinter seiner Aktentasche zu verstecken versuchte, gingen als eindrückliches Symbol durch die Weltpresse (Kaufhold 2013). Das israelische Fernsehen strahlte die Filmdokumentation kurze Zeit später als Erste aus. „Erst das deutsch-französische Ehepaar Klarsfeld störte diese Ruhe“ konstatiert Tanzmann zutreffend. Lischkas Anschrift fanden die Klarsfelds im Kölner Telefonbuch. Zwi Dreifuss hatte sich, das sei noch erwähnt, vor einigen Jahren an einem Theater-Zeitzeugenprojekt beteiligt, um Schülern die Shoah und deren Folgen zu vermitteln: Gemeinsam mit seiner Ehefrau Tamar Dreißuß – die 2010 ein anrührendes autobiografisches Kinderbuch über ihre eigene jüdische Überlebensgeschichte publizierte – Peter Finkelgruen, Helmut Scholz sowie Schülern eine Gymnasiums probte ein Jahr lang dieses Zeitzeugen-Theaterstück ein, das dann 2014 mehrfach aufgeführt wurde.
Tanzmann beschreibt die „drastischen Maßnahme“ der Klarsfelds, mit denen Beate Klarsfeld einen Prozess eines Kölner Gerichts gegen sie selbst zu erzwingen versuchte. Am 1.4.1971 erschien sie gemeinsam mit einem Mitglied der Ligue Internationale Contre le Racisme et l´Antisémitisme (LICA) vor dem Kölner Landgericht und legte „belastendes Material gegen Lischka vor“, 16 Tage später kam es zu der vorläufigen Freilassung Beate Klarsfelds. Tanzmann zeichnet im Detail die widersprüchliche Reaktion der französischen sowie der deutschen Presse auf ihre Protestaktionen nach. In Deutschland wurde, analog zum RAF-Terrorismus jener Jahre, von einer „Klarsfeldgruppe“ geschrieben – als sei die nach Paris gegangene Deutsche Beate Klarsfeld mit der Terroristin Ulrike Meinhof vergleichbar. Und immer wieder erklang in der Bundesrepublik Deutschland der mediale Ruf nach einem „Schlussstrich“ aller NS-Prozesse – der im Bundestag u.a. durch den FDP-Abgeordneten Ernst Achenbach protegiert wurde (Kaufhold 2019a, b., 2022).
Die Klarsfelds ließen sich nicht einschüchtern. Ihr außerordentliches Risiko, selbst Opfer von rechtsradikalen Kreisen zu werden, nahmen sie bewusst auf sich. Im Mai 1973 drang Beate Klarsfeld mit französischen Unterstützern in Lischkas Kölner Büro (s.o.) ein und „demolierte das Mobiliar“ (Tanzmann, ebd.). Lischka bedrohte die Eindringlinge daraufhin mit einer Pistole. Im Juni 1974 kam es zu einem Prozess gegen Beate Klarsfeld wegen des Entführungsversuches vor dem Kölner Landgericht – welches sich just gegenüber des Kölner EL-DE Hauses (der früheren Gestapozentrale) befand (vgl. Klein 2013, S. 92-106). Klarsfeld wurde verurteilt – und setzte ihre „Doppelstrategie“ mit ihrem französischen Unterstützerkreis unerschrocken konsequent fort: Ihre Prozessaktionen wurden ergänzt durch begleitende Informationskampagnen über die Naziverfolgung der Juden in Frankreich bis 1945. So demonstrierten sie 1978 im sauerländischen Warstein gegen den dort wohnenden Herbert-Martin Hagen. Auch dort trugen einige Demonstranten, meist Nachkommen von Überlebenden, die frühere Häftlingskleidung aus den Konzentrationslagern. Die „gesellschaftlichen Eliten“, resümiert Tanzmann, zeigten hierbei eine „auffällige Zurückhaltung“. Er zeichnet auch den internationalen Charakter der vehementen Proteste vor den Gerichtsprozessen 1979/1980 nach, an dem sich auch Juden aus Israel, Belgien und Frankreich beteiligten. Dies trug maßgeblich hierzu bei, dass alle Kölner Tageszeitungen intensiv über den Kölner NS-Prozess berichteten. Dies war ohne jeden Zweifel nur dem lang anhaltenden Engagement der Klarsfelds zu verdanken. Und schrittweise veränderte sich auch der mediale Charakter der Berichte hin zu einer Anerkennung des verbrecherischen Charakters der Handlungen der drei Angeklagten. Selbst zahlreiche Zeitzeugen beurteilten den Kölner NS-Prozess als „musterhaft“ (ebd.). Er war ein Meilenstein im Gesamtkomplex der „Vergangenheitsbewältigung“ – die bei der Mehrzahl der deutschen NS-Prozesse eher zu Gunsten der Hunderttausenden von Tätern ausfiel, die eigentlich vor ein Gericht gehört hätten (vgl. Aly 2005).
Die Frage jedoch, „ob die Bevölkerung den Prozess innerlich abgelehnt“ habe, bleibe „unbeantwortbar“ (Tanzmann 2013, S. 200), so Tanzmanns Resümee. Von einer „geläuterten Erinnerungskultur“ (ebd.) in den späten 1970er Jahren könne nur schwerlich die Rede sein.
Tanzmann beschreibt in seiner Studie die Stimmung vor dem Gerichtsgebäude sehr dicht: Dort erklangen auf französisch immer wieder Assasin (Mörder) – Rufe, zahlreiche französische Demonstranten trugen in den Kölner Straßen die KZ-Kleidung. Auch das Moorsoldatenlied wurde immer wieder gesungen. Juden aus Frankreich, Belgien und Israel trugen hebräischsprachige Transparente und Plakate.
Bild oben: Die Klarsfelds in Jerusalem, (c) www.klarsfeldfoundation.org / CC BY 3.0
–> „Es geht uns heute darum, die zu verurteilen, die für die Deportationen verantwortlich waren.“
Die Aktionen der Klarsfelds und der Fils et Filles des Deportés Juifs de France (F.F.D.J.F.) im Kontext des „Lischka-Prozesses“ und ihre mediale Rezeption.
Literatur
Aly, G. (2005): Hitlers Volksstaat. Raub, Rassenkrieg und nationaler Sozialismus. Frankfurt/M.: Fischer.
Angenlahr, T. (2021): Der Kölner Lischka-Prozess. NS-Verbrechen und Erinnerungskultur in der Bundesrepublik Deutschland und in Frankreich. Frankfurt/M.: Peter Lang Verlag.
Baum, G.(2020a): Vorwort (1981) zu: Peter Finkelgruen: „Soweit er Jude war…“ In: Finkelgruen (2020), S. 21-24.
Baum, G. (2020b):Vorwort (2019) zu: Peter Finkelgruen: „Soweit er Jude war…“ In: Finkelgruen (2020), S. 13-17.
Baum, G. (2020c): Edelweißpiraten-Tour 2020: Gastredner zu Ehren der Edelweißpiraten und seines Freundes Peter Finkelgruen: https://www.youtube.com/watch?v=ucKHeR2PwBA&t=532s.
Bresson, P. & S. Dorange: Beate und Serge Klarsfeld: Die Nazijäger. Eine GraphicNovel über den Kampf gegen das Vergessen. Hamburg: Carlsen Verlag.
Brunner, B. (2013): 30 Jahre Ermittlungen und drei Verurteilungen. Die Geschichte des „Frankreich-Komplexes“. In: Klein (Hg., 2013), S. 83-91.
Dreifuss, Tamar (2010): Die wundersame Rettung der kleinen Tamar 1944. Ein jüdisches Mädchen überlebt den Holocaust in Europa. Betrieb für Öffentlichkeit, Köln, https://buecher.hagalil.com/2011/10/dreifuss/
Finkelgruen, P. (2020): „Soweit er Jude war…“. Moritat von der Bewältigung des Widerstandes – die Edelweißpiraten als Vierte Front in Köln 1944. Mit einem Vorwort von Gerhart Baum. Herausgegeben von R. Kaufhold, A. Livnat und N. Englhart. BoD. ISBN-13: 9783751907415
Kaufhold, R. (2013a): Im KZ-Drillich vor Gericht: Ein Sammelband beschreibt, wie Serge und Beate Klarsfeld Schoa-Täter aufspürten und der Gerechtigkeit zuführten, Jüdische Allgemeine, 4.7.2013: https://www.juedische-allgemeine.de/kultur/im-kz-drillich-vor-gericht/
Kaufhold, R. (2013b): „Ich erinnere mich an diesen Deutschen ganz genau“ – Erinnerungen an den Lischka-Prozess, haGalil, 29.5.2013: http://buecher.hagalil.com/2013/05/lischka-prozess/
Kaufhold, R. (2018): Radikaldemokraten und Liberale unter einem Dach. Vor 40 Jahren wurde in Köln das Liberale Zentrum (LZ) gegründet, haGalil, 2018: https://www.hagalil.com/2018/09/lz-koeln/
Kaufhold, R. (2019a): Eine jüdische APO. Vor 40 Jahren gründeten Henryk M. Broder und Peter Finkelgruen in Köln die »Freie Jüdische Stimme«, in: Jüdische Allgemeine, 4.7.2019: https://www.juedische-allgemeine.de/kultur/eine-juedische-apo/
Kaufhold, R. (2019b): Eine „jüdische Apo“: Die Freie jüdische Stimme (1979 – 1980), haGalil, 7.7.2019: https://www.hagalil.com/2019/07/freie-juedische-stimme/
Kaufhold, R. (2020): Die „Kölner Kontroverse“? Bücher über die Edelweißpiraten. Eine Chronologie. In S. 217-342, in: Finkelgruen (2020), S. 217-342https://www.hagalil.com/2019/09/edelweisspiraten-kontroverse/
Kaufhold, R. (2022): „Mich erfüllte ein Gefühl von Stolz. Ich hatte es geschafft“. Peter Finkelgruen wird 80, haGalil, 8.3.2022: https://www.hagalil.com/2022/03/finkelgruen-80/. Die Finkelgruen-Studien erscheinen 2022 als Buch bei BoD.
Klein, A. (Hg.) (2013) unter Mitarbeit von Judith Weißhaar: Der Lischka-Prozess. Eine jüdisch-französisch-deutsche Erinnerungsgeschichte. Berlin: Metropol Verlag.
Müller, I. (2013): Rechtspolitische Rahmenbedingungen des Lischka-Prozesses. In: Klein (Hg., 2013), S. 62-80.
Reinle, R. (2006): Versuchte Entführung von Kurt Lischka. Beate Klarsfeld jagte SS-Mann in Köln, WDR: https://www1.wdr.de/archiv/lischka100.html
Seehaus, G. (2017): Vatersprache, BoDhttps://www.hagalil.com/2017/11/vatersprache/
Tanzmann, J. (2013): Vom „Beate-Klarsfeld-„ zum Lischka-Prozess. Wie die Aktionen der Klarsfelds und der F.F.D.J.F. die Benachrichtigung in der Kölner Presse veränderten. In Klein (2013), S. 191-202 sowie nun auf haGalil (2022).