„Ich habe einen Sternenhimmel gesehen“

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Zum Tode von Gertrud Seehaus-Finkelgruen (1934 – 2021)

Von Roland Kaufhold

Die Schriftstellerin, Drehbuchautorin und Lyrikerin Gertrud Seehaus-Finkelgruen hat ihre letzte Reise unternommen. Sie hinterlässt ein umfangreiches Werk. Ihre Tapferkeit, ihr Mut, ihre Würde und ihre Solidarität imponieren. Gemeinsam mit ihrem Ehemann Peter Finkelgruen unternahm die vielfach Geehrte zahlreiche Reisen bis nach Shanghai, um den Fluchtweg der Eltern Peter Finkelgruens, von Esti und Hans Finkelgruen, gemeinsam nachzuvollziehen. Sie bot Flüchtlingen Schutz, beherbergte nach dem chinesischen Massaker im Jahr 1989 auf dem Tiananmen-Platz in Peking einen heute sehr berühmten ehemaligen Studenten. Nur spät in der Nacht traute er sich anfangs auf die Straße. Bei ihrer Heirat war er später Trauzeuge. Die Idee zur Herausgabe von Salman Rushdies „Satanischen Versen“ entstand an ihrem Schreibtisch, als Mitherausgeberin der deutschen Erstausgabe ist sie verzeichnet.

In Merzig geboren und aufgewachsen arbeitete sie als Schauspielerin, studierte Theaterwissenschaften, arbeitete als Dramaturgin und Sprecherin beim WDR. Nach einem Lehramtsstudium arbeitete sie viele Jahre lang als Grund- und Hauptschullehrerin. Als sie in den 1980er Jahren mit ihrem Ehemann Peter Finkelgruen nach Israel ging hörte sie mit dem Lehrerberuf auf, veröffentlichte zahlreiche Studien und bereiste zahlreiche Länder.

Ich möchte an einige ihrer literarischen Werke erinnern.

Wo denn und wie?

Wo denn und wie? lautet Gertrud Seehaus 2017 erschienener Gedichtband. In Die Angst und die Wörter schreibt sie:

„Habibi komm und lass uns fliehn
Nach Ithaka, vielleicht nach Wien
Zum Sinai
Zum roten Meer
Wir brauchen keine Wörter mehr
Laß uns bei den Korallenbänken
Die Wörter dieser Welt ertränken“

Gertrud Seehaus, die sich bereits früh als Feministin verstand, in Die Frau spricht:

„Ich habe einen Sternenhimmel gesehen
Letztes Jahr
Und immerhin Kamele und Beduinen
Sie belauscht im südlichen Land die Nacht, trinkt harzigen Wein, isst frische Pita
Und Liebe war da
Und Lust (…)
Ich habe kein Echo gehört letztes Jahr
Niemand hat mich wirklich gesehen
Niemand einen Blick
In meine Träume geworfen
Oder die Drohgebärden
Meiner Ängste gesehen.“

Die 1934 Geborene kennt die Ängste, die Kälte. In Kalte Zeit heißt es:

„Schließ deine Augen
Dein Geschlecht
Und deine Seele zu
Nachts fällt ein
Kalte Zeit
Kalte Zeit kommt
Kalte Sonne
Kalter Mond
Kein Rest mehr vom Sommer
Vom Tag“.

Und dann ist da „der kalte Kuss eines wirren Traums“.

In Nur die Nacht dringt sie ein in die schwarze Farbe, den langsamen Traum, die Sehnsucht,

„Ach mein Lieber
so vieles kann man sagen“.

Sie spürt

„die wachsende Versuchung
die Reise zwischen Dämmerung und
Morgengrauen
zu verlängern“

Auch vom Abschied schreibt sie, wie auch ein Gedicht betitelt ist

„Der Flügelschlag des Vogels zur Nacht
Das Rauschen der Stille
Du wirst dich erinnern
hier oder dort“. 

Die intensiven Erlebnisse, die Liebe, der Geruch, alles ist endlich. Am Ende heißt es

„Leben heuchelt im Hellen
was wie du
im Abschied zerfällt
Geblähter Nasenflügel
Atemhauch auf dein Augenlied
alles da und schon fort
während du lebst auf dein Morgen hin“.

Gertrud war Vollblutpädagogin und langjährige Lehrerin für benachteiligte Kinder. In Autistisches Lied schreibt sie

„O nichts von Liebe
nein o nein
und nur von mir
und mir allein“.

Alles scheint sich nur auf ihn zu beziehen, die Liebesspiele, die Speisen, die Träume der Musik, die bunte Kugel.

Sie beschreibt den Autismus in seiner Unendlichkeit und Ausweglosigkeit:

„Ich wiege und ich schaukle mich
ich singe mir die Lieder
Ich denke niemals mehr an dich
du komm nur niemals wieder

Du bist schon in der Galaxie
bist unter bunten Sternen
Ich singe leise vor mich hin
und schaukle schaukle
weil ich bin.“   

Die Hoffnung hat sie nie verloren, als sie Peter Finkelgruen über Jahrzehnte in seinem stillen Kampf für Gerechtigkeit, gegen den Mörder seines Großvaters Martin begleitete, ihn stützte und ihn hierdurch rettete.

Das Gedicht Hoffnung lässt sie so enden

„Schutzlos muss ich hausen
Und Lieder singen gegen den Tod.
Eine Wollmütze über die Träume stülpen
und hoffen, dass sie blühen im nächsten Jahr“.

Die Lebensliste

2003 erscheint ihr Roman Die Lebensliste. Er ist angefüllt mit „Schrecken, Trauer, Witz und Zuversicht“, wie ihre Freundin Wibke Bruhns – in den 1980er Jahren lebten sie gemeinsam in Jerusalem – schrieb. Hierin erzählt sie auch die Lebensgeschichte von Lidia Teifer, 1941 im polnischen Ghetto Lwow geboren, nach. Ihre Eltern habe diese „nie bewußt kennengelernt“. Als Lidia acht Wochen alt ist lässt ihr Vater Frau und Tochter im Ghetto zurück und geht in die Wälder zu den Partisanen. Er hatte keine andere Chance. Als das Ghetto geräumt werden soll vertraut ihre Mutter das Baby einer früheren, katholischen Nachbarin an, mit dem Versprechen, dieses Kind „wenn alles vorbei wäre, der jüdischen Gemeinde, oder was davon übrig wäre, zurückzugeben.“ Die Erinnerung an „die erste Zeit bei ihren Eltern könne sie sich nicht mehr erinnern“, erzählt Gertrud Seehaus, dafür aber an spätere Szenen. Etwa, als sie sich mit ihrer Mutter auf einem Emigrantenschiff befand. „Heiß sei es gewesen, überfüllt, die Leute hätten sich nicht richtig duschen können. Große Pfützen von Erbrochenem hätten das Gehen auf Deck beschwerlich gemacht.“

Vieles, was sie gemeinsam mit Peter Finkelgruen in ihren sechs Jahren im Jerusalem der 1980er Jahre erlebte – hierfür kündigte sie ihren Beamtenstatus als Lehrerin, was sie als einen außerordentlichen Akt der Befreiung empfand – fließt in ihren Roman hinein. Ihre Protagonistin erinnert sich: „In dieser Zeit wurden einige Kinder aus ähnlichen Verhältnissen wie ich gesammelt und von der Sochnut, der Einwanderungsagentur der Jewish Agency, in ein Jugend-Einwanderercamp gebracht, Ramat Hadassah in der Nähe von Tivon. Dort gefiel es mir. Es war Sommer, wir machten Spiele und konnten ausgelassen sein.“ Es folgt ein Leben im Kibbuz Degania.

Vatersprache

Gertrud Seehaus Gedichtband Vatersprache geht zurück auf das Ende der 1970er Jahre. Seinerzeit arbeitete sie noch als Lehrerin. Der Kölner Prozess gegen die NS-Täter Lischka, Hagen und Heinrichsohn rührte sie auf: „Es ging um die Schuld der drei Hauptverantwortlichen“, schreibt sie in ihrem im Sommer 2017 verfassten Vorwort, „für den Tod von 40.000 französischen Juden, die von Paris/Drancy aus nach Auschwitz deportiert und dort getötet wurden.“ Sie wurde an die Biografie ihres 1942 in Shanghai geborenen Ehemannes Peter Finkelgruen erinnert. Auch gehörte Jens Hagen, Sohn des NS-Täters Herbert Hagen, zu ihrem Kölner Bekanntenkreis. Gemeinsam mit ihrem Ehemann besuchte sie an vielen Prozesstagen die Verhandlungen. Die Konfrontation mit den NS-Tätern hinterließen tiefe, verstörende Spuren in ihr, die ein Leben lang anhielten. 100te von jungen Franzosen, meist Verwandte, Kinder der französischen jüdischen Opfer, waren nach Köln gekommen, um dem Prozess beizuwohnen. Sie „machten sich vor dem Gerichtsgebäude durch Gesänge und Sprechchöre bemerkbar. Erst nach Tagen wich die Spannung“, erinnert sie sich im Abstand von knapp vier Jahrzehnten.

Vom Tode war fortgesetzt die Sprache, in den Gerichtssitzungen und beim Nachdenken hierüber. Sie musste schreiben, Gedichte schreiben, um dies überhaupt zu ertragen. In Todesarten spricht sie über den Traum, der „zum Verlöschen gebracht“ wurde.

„Die Hoffnung
vergewaltigt
ausbrütend das Grauen
Das Lied
mitten im Takt entzweigeschlagen
Das Erwachen
erstickt in Asche vor seinem Beginn
Der in der Luft gefangene
Schrei“.

Im Gedicht Damals noch finden sich die an die Kindheit erinnernden Zeilen:

„Da haben wir gelächelt in die Gesichter der Monster
und Hände gereicht in dumpfem Vertrauen
denen die vor uns standen (…) unseren Gehorsam bewachend
im Hochsicherheitstrakt unserer Erziehung.“

Das kurze Stück Wandel der Dinge geht so:

„Da klebt er an der linken Mantelseite
Krätze
Wundmal
löst sich und fliegt
voran dem letzten Grauen
sich unwiederbringlich an den Himmel heftend
Ein Stern ist ein Stern ist…“

Sie möchte aufbegehren gegen die Gewalt, gerade auch die Gewalt der Männer, denen sie auf der Anklagebank begegnete. Ihr Gedicht Was ich mir wünsche endet in dieser Weise:

„Und die Bäusche der Frauen
tragen die Aufschrift:
STREIK“.

Immer wieder versuchten die Verteidiger der später denn doch Verurteilten, das zehntausendfache Morden von Lischka, Hagen und Heinrichsohn juristisch kleinzureden, auch bei Zeugenaussage der französischen Nachgeborenen der Opfer. Im Gedicht Formaljuristisch gedeckt hören wir:

„…Ob Sie als Nebenkläger
zugelassen werden können
sei dahingestellt
Es ist nicht erwiesen
ob Ihr Vater
in Auschwitz nicht an Verkühlung starb“.

Die 1934 Geborene und noch in der Nazizeit Aufgewachsene hat bereits in ihrem gemeinsam mit ihrem Ehemann Peter Finkelgruen verfassten Kinderbuch Opa und Oma hatten kein Fahrrad über ihre katholische Kindheit geschrieben. In dem Text Die Abblocker beschreibt sie, wie ihr die gewalttätige Vergangenheit erst schrittweise bewusst wurde, wie das kindliche Nachfragen unterbunden, unter Tabu gestellt wurde. „In den Lischka-Prozess gehe ich“, bemerkt sie, „um ihm soviel an „Aufklärung“ zu entnehmen wie möglich, jener Aufklärung, die mir keiner meiner damaligen erzieherischen Verantwortlichen in ausreichendem Maße gegeben hat. (…) Lischka schweigt, stürzt sich in notizenmachende Geschäftigkeit, hält seine großen Hände vor Gericht.“

Da Fotografieren im Gerichtssaal verboten ist fertigt die auch zeichnerisch Begabte Skizzen der drei Angeklagten an. Serge Klarsfeld, dessen Vater bei den Ermordeten war, hatte im Vorfeld des international wahrgenommenen Kölner NS-Prozesses Listen jener Menschen angefertigt, die von Drancy aus nach Auschwitz verbracht wurden. Diese Listen hat sie auch zwischen die Gedichte ihres Bandes Vatersprache gestellt. Noch vor Prozessbeginn stellte Peter Finkelgruen Klarsfelds Transportlisten in einem Kölner Theater aus, „ich sah sie dort mit meinen Schülern. Wir waren bestürzt über die Anzahl der Kinder, die zu den Ermordeten gehörten, und die Schüler meinten, dass sich darunter vielleicht jemand finden ließe, der an meinem Geburtstag geboren wäre. Meine Schüler und ich machten uns ans Suchen und fanden Anna Toczynski.“

Dieser Anna widmet sie vier ihren Gedichtband abschließende Kindergedichte. In Späte Verwandtschaft erinnert sie an Annas grausames Schicksal:

„Heute hab´ ich meine Zwillingsschwester gefunden
Anna Tocynski
geboren am 2. Dezember 1934 wie ich

Am 14. September 1942
als ich mit meiner Puppe spielte, die Katja hieß
ist sie im Konvoi Nummer 32
vom Bahnhof Le Bourget/Drancy aus
nach Auschwitz gefahren (…)

Anna Tocynski meine Zwillingsschwester
ist sofort ins Gas gekommen
vom Zug aus
am 16. September 1942. (…)
Im September 1942
hab´ ich auf der Schaukel gesessen
und mit meiner Puppe gespielt die Katja hieß
am 16. September 1942
Anna Tocynskis Puppe
so denk´ ich mir
hieß Malka
Auf der Liste nach Auschwitz
ist keine Puppe verzeichnet“

Ihren eindrücklichen, erinnernden Gedichtband schließt sie mit einem Brief an Anna ab:

„Liebe Anna, ich träume so oft von dir,
und ich möchte dir vieles schenken.
Ich erlaube niemandem, dich zu kränken
ich bin jetzt alt genug, dich zu schützen.

Liebe Anna, kannst du nicht einmal kommen?
Wir werden dann unseren Eltern sagen:
man darf uns nicht auseinanderjagen,
denn Schwestern
gehören zusammen.

Liebe Anna du weißt es vielleicht noch nicht:
wir beide machen den Tag wieder heil,
du bist von mir, ich bin von dir ein Teil,
und wir bleiben
für immer zusammen.“

Gertrud Seehaus ist nach langer Krankheit, die sie tapfer ertragen hat, friedlich eingeschlafen und zu ihrer letzten Reise aufgebrochen.