„Wir sind alle tätowiert“

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Anne-Lise Stern, 1921 in Berlin geboren und in Mannheim aufgewachsen, war 1933 als Jüdin mit ihren sozialistisch engagierten Eltern Heinrich und Käthe nach Frankreich geflohen. Im Exil studierte sie ab 1939 Psychologie, wurde 1944 verschleppt und überlebte ein Jahr Konzentrationslagerhaft in Auschwitz, Bergen-Belsen und Theresienstadt. Nach ihrer Befreiung blieb sie in Frankreich…

Von Galina Hristeva und Roland Kaufhold

Im Konzentrationslager hatte sie ihren Überlebenswillen entdeckt und schrieb 1945 in ihren literarischen Erinnerungen an die Lager über „diese unheimliche und idiotische, wunderbare Kraft, die wollte, dass ich leben sollte“. Sie beschreibt die seelischen Anpassungsleistungen an die brutale Realität: „Jetzt  verstanden wir: los, los – schneller, schneller – raus, raus. Blitzartig dämmerte uns so einiges.“ Das Überleben war nur noch von Zufällen abhängig. Deutsch war durch die Nationalsozialisten einer „unglaublichen Perversion“ unterzogen worden, war zur Sprache der Vernichtung geworden: „Lange Zeit wollte ich durchaus nicht Deutsch sprechen hören.“

Im Sommer 1945 verfasste Stern literarische Erinnerungen an die Lager. Später wurde sie in Frankreich Psychoanalytikerin als Schülerin von Jacques Lacan. Hierzulande blieb ihr Name selbst in Fachkreisen unbekannt. Ihr Weg zur Psychoanalyse war mit einer Rückkehr zur deutschen Sprache verbunden – eine schmerzhafte Erfahrung. Erst Jacques Lacan, bei dem sie in Paris die Psychoanalyse erlernte, habe ihr Deutsch als Sprache wieder zurückgegeben.

Psychoanalyse und Auschwitz

Wie Bruno Bettelheim, Hans KeilsonErnst Federn, Viktor Frankl, Henri Parens und andere Überlebende arbeitete Anne-Lise Stern als Kinderanalytikerin bevorzugt mit psychisch sehr kranken Kindern: „Auch für mich wurde es eine Lebensaufgabe, eine bestimmte Art von wie Abfall segregierten Kindern aus ihrer Verlassenheit herauszuhelfen“. Mehrfach bezieht sie sich auf die 1946 geborene Schriftstellerin Geneviève Jurgensen, Tochter von  Überlebenden, die Mitte der 1970er Jahre in Bettelheims Orthogenic School arbeitete und hierüber ein Buch schrieb.

Inspiriert wurde Stern auch durch die Studentenbewegung; sie bezieht sich in ihrem nun erstmals auf deutsch vorliegenden Buch auch auf Daniel Cohn-Bendit, den 1968 aus Frankreich ausgewiesenen und dann doch wieder nach Paris zurückgekehrten „deutschen Juden“.

Von 1969 bis 1972 arbeitete sie in Paris an einem psychoanalytischen Modellprojekt für  mittellose Patienten; das Pionierprojekt finanzierte sie mit den deutschen Wiedergutmachungsgeldern ihrer kurz zuvor verstorbenen Mutter. Sie zog, vergleichbar wie Bettelheim, eine Verbindungslinie zwischen „der Krankenhausszene und der Konzentrationslagerszene“. Innerlich identifizierte sie sich mit dem Überlebenden Bettelheim, von dem sie schrieb: „Man hielt ihn für nicht vertrauenswürdig, ein Traumatisierter.“ Von ihrer eigenen Zunft ist sie enttäuscht: „Im Allgemeinen sprechen die Psychoanalytiker kaum von den Nachwirkungen der Lager und der „Endlösung“ auf die Psychoanalyse selbst.“

Dabei hatte die Psychoanalyse unermessliche Schäden davongetragen. So hatte sich Anne-Lise Stern bereits 1943 in Nizza mit Eva Freud, einer Enkeltochter Sigmund Freuds, angefreundet. Die zwei Jahre jüngere Eva wurde Anfang 1944 denunziert und als Jüdin verhaftet. Wenig später starb sie an den Folgen einer Infektion.

Sterns von Lacan geprägte Darstellungen der Psychoanalyse und der Shoah sind von einer Aporie geprägt: „Kann man Psychoanalytiker werden, nachdem man nach Auschwitz deportiert wurde? Die Antwort ist nein. Kann man heute noch Psychoanalytiker sein, ohne diese Erfahrung? Die Antwort ist nochmals nein.“

Empörung über Shoahleugner

1969 erschien in Frankreich unter einem Pseudonym ein Buch zweier Psychoanalytikerinnen. Der Titel – L´Univers contestationnaire – spielte auf den berühmten Roman von David Rousset an, den dieser unmittelbar nach seiner Rückkehr aus Buchenwald geschrieben hatte. Stern war aufgebracht und veröffentlichte einen Beitrag hierzu. Diesen kennzeichnete sie nicht mit ihrem Namen, sondern mit ihrer Ausschwitznummer 78765, einem Dreieck und der Berufsbezeichnung Psychoanalytikerin.

Das offensive Auftreten von Shoahleugnern wie Robert Faurisson in Frankreich ab Mitte der 1970er Jahre war für Stern ein Schock. 1978 schrieb dieser in Le Monde: „Die Nichtexistenz der Gaskammern“ sei eine „gute Botschaft für die arme Menschheit“. Stern war empört: „Als Deportierte habe ich sofort die psychoanalytischen Kollegen um Hilfe gebeten. Sie konnten aber nicht nachvollziehen, warum dringend gehandelt werden musste.“ Das Gefühl der Einsamkeit war niederdrückend. Niemand vermochte ihre Empfindungen zu teilen. Interpretationen „von außen“ wirkten auf Überlebende wie eine „Verletzung“, beinahe „Leichenfledderei“: „Es ist für uns im Allgemeinen unerträglich, was auf unsere Kosten in den Geschichtswissenschaften, in der Psychoanalyse, der Philosophie und manchmal sogar in einzelnen Gruppierungen von Überlebenden gesagt wird. Es trifft zwangsläufig nie genau „das“, worum es bei dem Einzelnen selbst geht.“

„Ein Tod im Lager ist immer ein Mord“

Anne-Lise Stern veranstaltete nun psychoanalytisch inspirierte Seminare, in denen sie, an die Shoah erinnerte. Und sie wirkte an Filmen über die Shoah mit. Unermüdlich, kompromisslos und voller Leidenschaft mahnte sie an die in den Lagern verübten Morde. Denn sie ist sich sicher: „Ein Tod im Lager ist immer ein Mord.“

Das Erinnern an den erlebten Terror erwies sich jedoch als nahezu unmöglich: „Das ist eine Auschwitz-Überlebende, die uns seltsame Geschichten erzählt“, war eine häufige Reaktion auf ihre KZ-Erfahrungen. Ihre Erinnerungen störten den kollektiven Verleugnungsprozess. Da komme sie „immer wieder mit ihrer „persönlichen“ Geschichte!“ Und: „Ach, die Arme. Immer noch gebrandmarkt durch ihre Deportation, trotz 20 Jahren Psychoanalyse. Und dann auch noch die Nummer, eintätowiert in ihre Haut.“

Selbst die Analyse bei Lacan vermochte ihr nur begrenzt zu helfen: „Die Lager und Lacan, das ist durchaus nicht dasselbe. Ich denke ausschließlich an das! Oder genauer gesagt: Es denkt sich für mich, diese Nummer von Auschwitz, die in meinen Arm eintätowiert ist. Ob ich spreche oder nicht, die übrigen Psychoanalytiker wissen ja, dass ich dort war.“

Die Überlebensschuld treffe am stärksten auf Lagerüberlebende zu, „die dort unten, an ihrer Seite und beim Geruch von verbranntem Fleisch einen Verwandten, einen Bruder verloren haben.“ Diese sei „das Gewicht, unter dem die Nachgeborenen zermalmt werden. Die wollen sie dann gern auf uns abladen, die Überlebenden.“

Stern hatte 1944 im Viehwaggon die Reise ins KZ angetreten und war innerhalb weniger Monate Insassin von drei Lagern gewesen. Überleben war eine übermenschlich schwere Aufgabe, die Rückkehr gestaltete sich aber nicht weniger schwierig, wie ihre „Texte der Rückkehr“ zeigen. Vor der Deportation noch „unverwüstlich wie ein Feuersalamander“, hatte sie die Lagerhaft zwar überlebt, aber jegliche Lebensfreude verloren: „[…] nun war da etwas zerbrochen, nichts war mehr an der richtigen Stelle und zur richtigen Zeit.“ Als wichtigsten Indikator ihrer Zerbrochenheit bezeichnet sie ihre Fähigkeit zur Empörung – eine Fähigkeit, die ihr durch die Schändlichkeiten der Haft immer mehr abhanden gekommen war. Die Rückkehr bedeutete also auch die Wiedererlangung der Fähigkeit, sich über die „Schrecklichkeiten“ zu empören. Sterns Buch überträgt die Empörung der Autorin auf den Leser und zeigt eindrücklich – wir sind alle durch die Ungeheuerlichkeiten des Holocaust tätowiert, ein Neuanfang ist nur über die Erinnerungsarbeit und die Empörung über die Gräuel möglich. Die Durcharbeitung dieser barbarischen Zeit obliegt jedem von uns und ist dem Umgang mit Sümpfen ähnlich: „austrocknend“ und „gegen jeden Genuss des Horrors“ gerichtet – um Kulturland zu gewinnen.

Anne-Lise Stern: Früher mal ein deutsches Kind. Auschwitz, Geschichte, Psychoanalyse. Mit einem Vorwort von Nadine Fresco und Martin Leibovici sowie einem Nachwort zur deutschen Ausgabe von Ellen Reinke. Aus dem Französischen von Ellen Reinke. Gießen: Psychosozial Verlag 2020, 377 S., 39,90 Euro, Bestellen?

Eine kürzere Version dieser Besprechung ist in der Jüdischen Allgemeinen, 17.12.2020, erschienen.