Theresienstadt: Der Ältestenrat – ein Hohn

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Benjamin Murmelstein, letzter Ältestenrat von Theresienstadt, im Gespräch mit Claude Lanzmann…

Das Interview von Lanzmann mit Murmelstein fand 1975 in Rom statt, es umfasst über elf Stunden und gehört zu den ersten Aufnahmen im Rahmen der Dreharbeiten für Shoah. Die Intensität der Erzählweise Murmelsteins, sein klares Urteilsvermögen und die Informationsdichte machen es zu einem überaus spannenden Zeugnis der Verhältnisse in Theresienstadt. (Siehe auch: Der Letzte der Ungerechten: Der Judenälteste Benjamin Murmelstein im Film)

Hier erklärt Murmelstein, weshalb er als Rat besser für die Juden war, als der Rat seiner Vorgänger.

Murmelstein: … Wer war denn der Ehrenvorsitzende* des Ältestenrates, der den Mund nicht geöffnet hat und kein Wort gesagt hat dagegen? Wissen Sie, wer das war? Das können Sie nachschauen bei Adler, wer damals Vorsitzender des Ältestenrates war, der Ehrenvorsitzende des Ältestenrates. Das war demokratisch. Und jetzt werden wir zurückkommen zu den Lungenkranken. Wissen Sie, was dann passiert ist mit den Lungenkranken? Wissen Sie, was passiert ist?

*gemeint ist Rabbiner Dr. Leo Baeck, Ehrenvorsitzender des Ältestenrates in Theresienstadt.

[youtube]https://www.youtube.com/watch?v=LuDq8I_l19U[/youtube]

Claude Lanzmann: Das kann ich nicht wissen.

Murmelstein: Die Liste hatte großen, durchschlagenden Erfolg gehabt. Mit dem nächsten Transport sind alle weggegangen. Damit war das Problem gelöst.

Lanzmann: Wer hat das gemacht?

Murmelstein: Was? Das hat die Kommandantur … Sie hat von der Liste den einzigen Gebrauch gemacht, den sie machen konnte. Sie hat gesagt: Zu viele Lungenkranke? Weg mit ihnen. Fertig. … Das waren die Erfolge des Ältestenrates.

Lanzmann: Aber wie waren die…

Murmelstein [unterbricht]: Schauen Sie, ich werde Ihnen was sagen. Wie ich im Oktober – das habe ich in meinem Buch geschrieben, also ich stehe über dem Verdacht, dass ich das jetzt erfunden habe wie ich im Oktober noch interveniert habe für die letzten Ältestenratsmitglieder, die man mir wegschicken wollte – denn ich meine, ich war dage… gegen sie, aber menschlich musste ich mich für sie einsetzen da habe ich eine Rede zu hören bekommen, wo man mir all die Schweinereien aufgezählt hat. Da habe ich gesehen, dass die sogenannte Kommandantur, die ihnen all diese Privilegien bewilligt hat, gleichzeitig Buch geführt hat darüber, [was] sie alles anstellen. Es wurde genau Buch geführt. Man hat es ihnen genau angerechnet. (…jede Korruption und Vorteilnahme) Zu mir hat man noch gesagt, sie gehen in ein anderes Ghetto, dort sollen sie von neuem anfangen, sich bewähren. Gut, das war ja der Schwindel. Darauf kommt es jetzt nicht an, leider. Aber es kommt darauf an, dass man genau gewusst hat, dass man genau Buch geführt hat über all diese Korruption. Und jetzt kommen wir zum zweiten Ältestenrat.
Den habe ich mir gebildet im Sinne der Stadt-Verschönerung. Ich habe fünf Leute genommen, die jeder einen großen Namen gehabt haben:
Leo Baeck, der der große Baeck war,
Alfred Meissner, ehemaliger tschechischer Justizminister,
[Max] Friediger, Rabbiner, Oberrabbiner von Kopenhagen, Freund des dänischen Königs,
[Eduard] Meijers, Rechtsberater der holländischen Königin,
und [Heinrich] Klang, der berühmteste österreichische Jurist, dessen Kommentare auch zur Zeit des Dritten Reiches nicht abgeschafft werden konnten. Wirklich ein berühmter Jurist.

Also fünf. Alles Vertreter der Landsmannschaften. Dänen, Holländer, Deutsche und Österreicher. Warum habe ich sie so ausgewählt? Weil ich gesehen habe, dass man Ältestenräte liquidiert. Jetzt habe ich sie so gewählt, Leute, die man nicht liquidieren kann. Man konnte einen Minister Meissner nicht spurlos verschwinden lassen. Man konnte einen Meijers, für den die holländische Regierung bereit war, Millionen zu zahlen, damit man ihm die Ausreise bewilligt, den konnte man nicht spurlos verschwinden lassen. Und so weiter. Die Leute habe ich mir genommen. Selbstverständlich waren das fünf arme Mummelgreise, die nichts machen konnten. Der Baeck, der war so weit gescheit noch, dass er gesehen hat, dass es von mir eigentlich ein Hohn ist: Ältestenrat, und hat es mir nie verzeihen können, denn er hätte gern eine Aktion entwickelt. Aber es war nicht möglich. Die Leute waren da, um als Strohpuppen, ihre Namen herzuhalten für die Stadtverschönerung.

Auszug aus dem Gespräch zwischen Claude Lanzmann und Benjamin Murmelstein in Rom.
Quelle: Der Letzte der Ungerechten

1 Kommentar

  1. It rings a bell…

    Ging man an Ilse L.’s Fenster vorbei und sie sah einen, öffnete sie meist das Fenster und rief: „Hörensemal“ und erzählte dann irgendwas, meist Klatsch und Tratsch, aber stets mit einem Augenzwinkern. Später durfte ich sie auch ab und an besuchen, und sie bot mir das Du an.

    Ihr Vater war ein bekannter Kommunist gewesen. Sie sagte, aus der Stadt hier, in die sie als einzige Ãœberlebende ihrer Familie, von langjährigem Leiden in Theresienstadt, nach 1945 zurückkehrte, hätten nur „die reichen Juden“ flüchten können, der Rest musste bleiben bis zur Deportation – auch weil die Fliehenden sich nicht um sie gekümmert hätten… Ja, und in Theresienstadt, worüber sie sonst nicht viel redete, was allgemein ein bekanntes Phänomen bei vielen Ãœberlebenden*) ist, hätten die „kleinen Leute“ auch nichts zu sagen gehabt. Ist ja fast logisch, dass sie, als Tochter eines überzeugten Kommunisten, der übrigens nicht jüdisch war, während, worauf sie sich schon zu Recht was einbildete, ihre Mutter aus einer sehr frommen Familie stammte, so sprach.

    Aber – wäre mir doch nur die oben gegebene Information, für deren Veröffentlichung ich mich ausdrücklich bedanken möchte, bekannt gewesen! Dann hätte ich vorsichtig versucht, darauf hinweisend, durch die Mauer ihres Schweigens zu dringen. Schade.

    Liebe Ilse, lass es dir gut gehen in der jenseitigen Welt!

    * so selbst erlebt, weil sie hier wohnten, bei Musje J. und Ilja J., bei Marianne Y., bei Arno N., bei Genia G., bei Emma K., denen allen damit ein kleines virtuelles Denkmal gesetzt sei – und bei noch anderen, nicht jüdischen Menschen, so z.B. hier gebliebenen ZwangsarbeiterInnen.

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