Presseschau: Ungarns Verfassungsgericht entmachtet

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Das ungarische Parlament hat am Montag mit der Mehrheit der rechtskonservativen Regierung von Viktor Orbán eine umstrittene Verfassungsreform beschlossen und damit die Rechte des Obersten Gerichts beschnitten. Kommentatoren sprechen von einem Stich ins Herz des Rechtsstaats und betonen, dass Europa jetzt nicht wegsehen darf…

Die Verfassungsänderung in Ungarn vom Montag ist international auf heftige Kritik gestoßen. EU-Kommission und Europarat kündigten in einer gemeinsamen Erklärung an, die Novellierungen genau zu prüfen. Leider fehlen der Union wirkungsvolle Instrumente, um ihre Mitglieder zu sanktionieren, bemerken Kommentatoren und kritisieren die Zurückhaltung der EU-Regierungschefs.

De Volkskrant – Niederlande
Europa schaut Orbán mal wieder nur zu

Premier Viktor Orbán höhlt mit der Verfassungsänderung erneut den Rechtsstaat in Ungarn aus – doch Konsequenzen drohen ihm nicht, fürchtet Kolumnistin Sheila Sitalsing in der linksliberalen Tageszeitung De Volkskrant: „Gequält verfolgen die übrigen EU-Regierungschefs das Spektakel: Ach, dieser Viktor, das geht doch echt nicht, sagen sie. Ein Maulkorb für die Presse, Mobbing von Homosexuellen – und das in dem Block, der sich selbstgenügsam ‚Wertegemeinschaft‘ nennt. Sagst du was? Wenn du ihm nun den Absatz aus dem Vertrag vorliest, in dem steht, dass wir den Mitgliedstaaten, die Journalisten, Homosexuelle, Richter oder Obdachlose angreifen, das Stimmrecht wegnehmen können? Nein, du musst das tun. Nein, du. … Die Regierungschefs schauen wieder von der ersten Reihe aus zu, wie sich ihr schönes Ungarn zu einem Staat mit immer hässlicheren Zügen entwickelt. … Wir warten darauf, dass sie sich endlich trauen, gemeinsam zu sagen: Jetzt ist Schluss, sonst musst du gehen. Morgen können sie das tun, denn dann treffen sie sich zufällig in Brüssel. Dreimal können wir raten, wie das Treffen ausgeht.“ (13.03.2013)

El País – Spanien
Ungarn fordert die EU heraus

Die antidemokratische Verfassungsänderung in Ungarn stellt die EU vor eine schwere Prüfung, befürchtet die linksliberale Tageszeitung El País: „Die Aushöhlung des demokratischen Gleichgewichts ist nicht nur für Ungarn tragisch. Für die EU ist es eine neue, hohe Hürde bei dem Versuch, die Demokratien einiger Länder in Mittel- und Osteuropa zu konsolidieren. … Der Fehltritt Budapests verlangt neue und energische Druckmittel von Seiten der EU-Partner. Gleichzeitig zeigt er jedoch auch den Mangel an praktikablen und zügigen Maßnahmen auf, mit denen man die eigenen Mitglieder zur Ordnung zu rufen könnte. Zwar verfügt Brüssel über ein beachtliches Arsenal an Repressalien, die von spürbaren Wirtschaftssanktionen bis zum Stimmrechtsentzug reichen. Aber diese Waffen existieren eher in der Theorie als in der Praxis, da ihr Einsatz zahlreiche Zwischenschritte und rechtliche Voraussetzungen erfordert und das Funktionieren der Union im Wesentlichen auf dem Konsens seiner 27 Mitglieder basiert.“ (13.03.2013)

Heti Válasz – Ungarn
Verfassungsänderung diskreditiert Legislative

Die Verfassungsänderung, die das ungarische Parlament am Montag beschlossen hat, war bereits die vierte seit Inkrafttreten des neuen Grundgesetzes im Januar 2012. Für die konservative Wochenzeitung Heti Válasz beschädigt die Regierungspartei die Glaubwürdigkeit des ungarischen Parlaments: „Die Politiker der Regierungspartei Fidesz haben viele ungarische Wähler vor den Kopf gestoßen, wodurch sie nicht nur sich selbst Schaden zugefügt haben. … Wenn sie binnen zwei Jahren gleich vier Mal ihr Werk ‚aus Granit‘ modifizieren müssen, untergräbt das an sich schon die Glaubwürdigkeit der Gesetzgeber. Sie degradieren damit nicht nur ihre eigene Verfassung, sondern untermauern auch die Vorwürfe der Opposition, wonach das Grundgesetz das Ergebnis einer schlampigen, unausgereiften Arbeit sei. Was aber noch viel schwerer wiegt: Der Verfassung wurden Details eingeschrieben, die eindeutig die Interessen der Fidesz widerspiegeln.“ (11.03.2013)

La Repubblica – Italien
Ein angekündigter Staatsstreich

Viktor Orbán hat seine düstere Prophezeiung wahr gemacht und in Ungarn die Demokratie durch die Autokratie ersetzt, klagt die linksliberale Tageszeitung La Repubblica: „‚Eines Tages könnte es sein, dass die Demokratie von einem anderen System abgelöst werden muss‘, dies sind Viktor Orbáns eigene Worte, die den Kern seiner Weltanschauung enthalten. Die Verfassungsänderung ist ein angekündigter Staatsstreich. …
Aus Rache entmachtet Orbán die Verfassungsrichter, die seine die Freiheit beschneidenden Gesetze ablehnten und verleiht letzteren Verfassungsrang. Freie Bahn für die Einschränkung der Meinungsfreiheit, geschlossene Grenzen – eine neue Berliner Mauer – für Hochschulabsolventen, Obdachlose, die zur Verbrechern werden, wenn sie auf der Straße schlafen, und eine stalinistische Kontrolle der wenigen verbliebenen unabhängigen Medien.“ (12.03.2013) La Repubblica

Süddeutsche Zeitung – Deutschland
Retter der Nation und überzeugter Europäer

Ungarns Regierungschef Orbán hat seine umstrittene Verfassungsreform durch das Parlament gebracht. Seine vielen Rollen beherrscht Ungarns Premier virtuos, bemerkt die linksliberale Süddeutsche Zeitung sarkastisch: „Seine liebste ist die des Retters der Nation, der Ungarn vom Kommunismus befreit, traditionellen Werten wieder zur Geltung verhilft und die Ehre des Landes verteidigt. …

Im Schnellverfahren wurde eine neue Verfassung verabschiedet, die Glaube, Familie und Nationalstolz als höchste Güter nennt. … Auf Mahnungen aus Brüssel hin schlüpft Orbán stets in seine zweitliebste Rolle: die des guten Demokraten und überzeugten Europäers, der Verständnis für die Sorgen der Partner zeigt, zu Hause ein paar Kleinigkeiten ändert – um dann zum nächsten Schlag anzusetzen. Der jüngste trifft das Herz des Rechtsstaats: die Unabhängigkeit der Justiz. Die größte Gefahr für die Nation, diesmal droht sie von ihrem größten Verehrer.“ (11.03.2013) Süddeutsche Zeitung

Wiener Zeitung – Österreich
Europa darf nicht wegsehen

Tausende Menschen haben am Wochenende gegen die Verfassungsänderung in Ungarn protestiert, der Europarat und das US-Außenministerium empfahlen zumindest einen Aufschub. Die rechtlichen Bedenken wiegen schwer, kommentiert die staatliche liberale Wiener Zeitung, und Europa darf nicht wegsehen, „denn nach dem Willen des ungarischen Premiers wird ab nun eine parlamentarische Zweidrittelmehrheit jedes beliebige Gesetz beschließen können, ohne dass das Verfassungsgericht eine Einspruchsmöglichkeit hätte. Die Gewaltenteilung ist ausgehebelt, Ungarn kann nicht mehr länger für sich beanspruchen, ein lupenreiner Rechtsstaat zu sein.

Noch am Wochenende haben tausende Menschen vor dem Parlament in Budapest gegen die neue Verfassung protestiert. Was nun? Welche Sanktionsmöglichkeiten hat die EU? Wie kann ein immer tieferes Abgleiten Ungarns in eine immer radikalere rechtsnationalistische politische Unkultur verhindert werden? Europas Politiker müssen nach Ungarn blicken, auch wenn sie das ungern tun.“

(12.03.2013) deutsch

Komment – Ungarn
Orbáns starker Staat versagt

Das ungarische Parlament hat mit der Mehrheit der nationalkonservativen Regierung am Montag eine umstrittene Verfassungsänderung durchgebracht – die vierte unter Premier Viktor Orbán. Es schränkt damit die Befugnisse des Verfassungsgerichts ein. Der Publizist József Makai kritisiert auf dem Meinungsportal Komment Orbáns Ideologie vom starken Staat:
„Die Verfassungsänderung hat neben dem inhaltlichen auch einen prinzipiellen Teil. Dieser spiegelt die Machtauffassung Orbáns wider. Orbán suggeriert seit jeher, dass nur eine starke Regierung, ein starker Staat, dazu fähig sind, Veränderungen herbeizuführen. Und was hat uns der stabile und starke Staat Positives gebracht? Die Verstaatlichung der Schulen etwa? Studiengebühren, die es angeblich gar nicht gibt? … Die angeblich unerlässlichen Sondersteuern? Und konnte dieser starke Staat die nationale Fluglinie Malév retten? Nein.“

(11.03.2013) ungarisch

Diário de Notícias – Portugal
Kriegsgefahr in Europa nicht unterschätzen

Der Ex-Chef der Euro-Gruppe Jean-Claude Juncker hat davor gewarnt, dass sich die wirtschaftlichen Konflikte in Europa gefährlich zuspitzen könnten: „Wer glaubt, dass sich die ewige Frage von Krieg und Frieden in Europa nie mehr stellt, könnte sich gewaltig irren“, sagte er dem Nachrichtenmagazin Der Spiegel. Man sollte ihn ernst nehmen, mahnt die liberal-konservative Tageszeitung Diário de Notícias: „Diesen Satz sprach kein Radikaler. Auch kein Führer eines unterentwickelten Landes. Er kommt auch nicht aus dem Iran. …

Die Warnung mag zwar übertrieben wirken. Da sie aber von jemandem kommt, der die europäische Realität und die Auswirkungen, die die Krise auf die Gesellschaft hat, gut kennt, sollte die Warnung zumindest von den EU-Verantwortlichen als besorgniserregend angesehen werden. Juncker fordert sie auf, wachsam zu bleiben und sich stets bewusst zu sein, dass ihnen nur die europäische Einheit die Macht verleiht, die sie in der Welt besitzen. Und – nebenbei bemerkt – schon die Geschichte hat gezeigt, dass es Anzeichen gibt, die nicht ignoriert werden dürfen.“

(11.03.2013)

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