Yair Lapid zum Internationalen Holocaust-Gedenktag

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Wer ist Yair Lapid, fragt sich die politisch interessierte Welt. Sein Name soll dieser Tage einer der am häufigsten gesuchten Google-Begriffe sein. Vielleicht wirft dieser heute auf Lapids Facebook-Seite veröffentlichte Beitrag ein wenig Licht auf Israels heimlichen Wahlsieger und Chef der Zukunftspartei Yesh Atid…

Fragen der Schoah 

von Yair Lapid
(aus dem Hebräischen von Rachel Grünberger-Elbaz)

Heute ist der Internationale Holocaust-Gedenktag. Ich will daher einen Text einstellen, den ich vor einem Jahr geschrieben habe. Seine Fragen beschäftigen mich noch immer:

Seit der Schoah sind 65 Jahre vergangen und noch immer wissen wir nur, was geschehen ist, unfähig, zu verstehen, was wir mit diesem Wissen anfangen sollen. Man fühlt, dass die Schoah etwas in einem verändern müsste – als Jude, als Mensch, als Israeli – aber was?

»Wenn ihr die Vernichtungslager besucht«, sagte ich meinen Schülern, »dann fragt euch nicht, was ihr getan hättet, wenn ihr als Juden dort gewesen wäret, denn das ist eine leichte Frage. Fragt euch vielmehr, was ihr getan hättet, wenn ihr Deutsche gewesen wäret?«

Sie schwiegen. Was hätten sie darauf schon antworten können?

Die Schoah hat alles erschüttert, was die Menschheit über sich zu wissen glaubte. Dann lehrte sie uns zwei unvergessliche Lehren: Die erste ist, dass wir um jeden Preis überleben müssen. Die zweite, dass es unsere Pflicht ist, moralisch zu bleiben.

Was wir immer noch nicht wissen ist, was wir zu tun haben, wenn diese beiden Lehren zueinander in Konflikt geraten.

Die Schoah-Überlebenden kamen nach Israel, um hier eine neue, menschlichere Gesellschaft zu schaffen, eine Gesellschaft, in der ihnen keiner allein deshalb etwas antun kann, weil sie Juden sind. Diese Botschaft ist ebenso zornig wie verletzlich. Nicht nur, dass wir alles, aber wirklich alles tun dürfen, damit sich die Schoah nicht wiederholt, ist dies auch unsere oberste Pflicht. Das jüdische Schicksal kann keinen weiteren Schlag ertragen, der auch nur annähernd an die Schoah erinnert. Das sind wir nicht nur uns selbst, sondern auch allen vorherigen Generationen schuldig – vom Stammesvater Abraham bis zu den ausgemergelten Gestalten, die nach der Befreiung der Konzentrationslager zwischen den Leichen herumkrochen.

Jeder Israeli, der auch nur einen Funken historisches Erinnerungsvermögen besitzt (und wer von uns besäße kein solches), weiß, dass unsere Existenz zerbrechlich ist. Unsere Häuser, unsere Einkaufszentren und die Straßen, die wir geebnet haben – all diese Monster aus Asphalt und Stahl, die unwiderrufliche Standfestigkeit demonstrieren sollen, sind nichts als ein dünnes Tarnnetz zur Überdeckung unserer Angst vor denen, die kommen werden, um uns zu töten.

Wenn wir nur einen Augenblick lockerlassen, uns nicht auf den Gedanken des Überlebens konzentrieren, werden die neuen Nazis ihre Häupter erheben und versuchen, uns umzubringen – wobei es keine Rolle spielt, ob diese Häupter nun die arabischen Keffiyehs oder die Stahlhelme der Wehrmacht tragen.

Wir haben auch gelernt, dass wir uns nicht darauf verlassen dürfen, von der Welt verteidigt zu werden. Diese Welt wird natürlich bis in die Tiefen ihrer Seele erschüttert sein und vielleicht sogar am Stadtrand von Brüssel ein Waisenhaus für unsere Kinder bauen, aber wir wären besser beraten, wenn wir uns nicht mehr erhoffen.

Das ist übrigens auch der Grund dafür, dass der durchschnittliche Israeli von heiligem Zorn gepackt wird, wenn er auf Intellektuelle der Neuen Linken stößt, die so tun, als sei Israel ein Teil des aufgeklärten Europas und als sei es um der Menschenrechte willen unsere Pflicht, Nachgiebigkeit gegenüber jenen unterdrückten Menschenmassen zu zeigen, deren ganze Sünde es ist, uns töten zu wollen. »Auschwitz«, so tönt es aus ihrer Ecke immer wieder, »darf keine Ausrede für alles sein«. Nur dass Auschwitz keine Ausrede ist, sondern ein handfester, immer noch aktueller,  von Millionen Leichen untermauerter Grund.

Ich bin kein großer Fan von Holocaust-Witzen, einer jedoch geht mir nicht aus dem Kopf: Warum waren in Auschwitz nur Optimisten? Weil alle Pessimisten längst schon in New York waren. Wie jeder gute Witz enthält auch dieser ein fundamentales Stück Wahrheit: Wir müssen immer auf das Schlimmste aller Szenarien gefasst sein, sonst tritt es wirklich ein.

Würde sich die Lehre der Schoah jedoch nur darauf beschränken, dann hätte sie uns mit keinerlei Dilemma konfrontiert. Das Problem ist, dass die Schoah uns noch eins gelehrt hat: dass ein Teil, und vielleicht der bedeutendste Teil des Überlebens vom Vorhandensein einer menschlichen Moral abhängig ist.

Ohne menschliche Moral hätte es keinen Churchill und keine Partisanen gegeben, Amerika wäre nicht in den Krieg eingetreten, und jenes Bataillon der Roten Armee unter dem Kommando des jüdischen Majors Anatoli Shapiro hätte Auschwitz nicht befreit.

Die Schoah hat unsere Auffassung von Moral nicht nur deshalb verändert, weil wir gelernt  haben, dass Moral das einzige ist, was sich dem absoluten Bösen entgegenstellen kann, sondern auch, weil sie den Schwerpunkt von der Gesellschaft auf das Individuum verlagert hat.

Bis zur Schoah betrachtete die Menschheit Moral als gesellschaftliches Produkt. Die Zehn Gebote sind ein gutes Beispiel – das »Establishment« erteilte uns Anweisungen, und wir erfüllten diese, weil wir wussten, dass dieses Establishment klüger ist und unser Bestes will.

Nur: Während der Schoah waren gerade die moralischen Menschen die einzigen, die sich weigerten, auf das herrschende Establishment ihres Landes zu hören. Hannah Arendt schrieb, wenn wir die Auffassung von Moral übernommen hätten, die bis zur Schoah gültig gewesen war, hätte man Eichmann nicht vor Gericht stellen können. Schließlich hatte er nach der zu seiner Zeit und ganz gewiss in seinem Land geltenden Moral gehandelt. Wenn wir Eichmann also dennoch zur Verantwortung zogen, dann geschah dies als Akt des Glaubens an die Menschheit: wir glaubten und glauben immer noch, dass jeder Mensch imstande ist, zwischen Gut und Böse zu unterscheiden, auch, wenn die ganze Welt etwas anderes sagt. Wenn wir Eichmann dennoch zum Tode verurteilt haben, dann als nachhaltige Botschaft, dass sich kein Mensch der Verantwortung entziehen kann, im Leben eine moralische Position zu beziehen. In einem hat sich Hannah Arendt geirrt: es ist nicht die »Banalität des Bösen«, die uns bedroht, sondern die Banalität des Schweigens. Keiner hat das Recht, angesichts des Todes zu schweigen.

Mit schmerzhafter Verspätung haben uns die Überlebenden gelehrt, dass diese Wahrheit nicht nur für die Deutschen galt, sondern sogar für deren Opfer. In seinem großen Werk  »Der Mensch auf der Suche nach Sinn« schreibt Viktor Frankl, ein Auschwitz-Überlebender, der seine ganze Familie verlor:

»Im Konzentrationslager, diesem lebenden Labor und Experimentierfeld, erlebten wir, wie manche unserer Mitmenschen zu Schweinen, andere hingegen zu Heiligen wurden. Diese wie jene Möglichkeit liegt im Menschen verborgen, welche davon sich verwirklicht, hängt von dessen Entscheidungen ab, und nicht von den Umständen.«*

Daher dürfen wir infolge der Schoah nicht nur die anderen, sondern müssen stets auch uns selbst verdächtigen: Lähmt die uns umgebende, allgemein vorherrschende Moral nicht unsere Fähigkeit, die Geschehnisse selbst zu untersuchen, unsere eigenen Schlüsse zu ziehen, selbst zwischen Gut und Böse zu wählen?

Mehr als das: lässt unsere Einstufung des Überlebens als höchsten Wert uns noch die Möglichkeit, das zu sehen, was Viktor Frankl, einer der bedeutendsten Psychiater unserer Zeit, als »Mensch hinter der Maschine« bezeichnete? Sind wir überhaupt noch fähig, moralische Entscheidungen treffen, wenn uns die ganze Welt nur als gut geölte Vernichtungsmaschine erscheint, die lediglich auf ihre Gelegenheit wartet? Haben wir uns nicht auf eine Existenz reduziert, die nur noch aus Umständen besteht, um uns vor den Entscheidungen zu drücken?

Ich weiß es nicht. Wahrscheinlich weiß das keiner. Gerade weil die Schoah ein kosmisches Ereignis ist, das sich mit keinem der uns bekannten Begriffe erfassen lässt, zwingt sie jeden Menschen dazu, aus ihr seine ganz eigenen Folgerungen zu ziehen. Alles, was ich über sie zu sagen habe, ist keine Folgerung, sondern ein Credo.

Ich glaube an die Gültigkeit des ersten Prinzips: Es ist unsere Pflicht, angesichts jeglicher Bedrohung unserer Existenz alles zu tun, um als Volk weiter zu existieren.

Ich glaube aber auch, dass das zweite Prinzip uns dazu zwingt, das erste Prinzip unermüdlich und immer wieder zu hinterfragen… damit wir es verstehen, bei allem, was auch nur ein Quäntchen kleiner ist als eine existenzielle Bedrohung, eine moralische Entscheidung zu treffen, eine Entscheidung, die die Menschlichkeit des anderen nicht vergisst, ebenso wenig wie unsere Pflicht, diesem Leid zu ersparen.

Anmerkungen der Übersetzerin:

  • * Yair Lapid unterrichtete in den letzten Jahren unentgeltlich Sozialkunde an einem Letzte-Chance-Gymnasium für Schul-Dropouts in Yaffa. U.a. ermöglichte er es diesen Jugendlichen mit Hilfe einer Spendenaktion, wie ihre Altergenossen eine Erinnerungs- und Studienfahrt nach Polen zu machen.
  • ** Dieses Zitat ist eine Übersetzung aus dem Hebräischen, da ich auf Grund des Zeitdrucks nicht nach dem Original suchen konnte. Der Leser möge mir verzeihen.
  • *** Rachel Grünberger-Elbaz lebt seit 1977 als freiberufliche Übersetzerin in Israel.
    Kontakt: ragrunb@yahoo.com oder unter »Rachel Gruenberger« im Facebook.

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