Rabbinerin Elisa Klapheck: Über die säkulare Dimension der Religion

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Gerade die im Talmud bezeugte Tradition des rabbinischen Judentums hätte viel einzubringen. Denn sie hat nicht die säkulare Wirklichkeit als schmutzige Niederung verdammt und sich ihr entzogen, sondern sich vielmehr bewusst in sie eingehakt. Sie hat einen religiösen Maßstab mit einem säkularen Realismus zu verbinden vermocht und damit auf allen Feldern des Zusammenlebens den Anspruch vertreten, konkret zur Verwirklichung einer besseren Welt beizutragen…

Rabbinerin Elisa Klapheck

Die säkulare Dimension der Religion wie auch die religiöse Dimension in den gesellschaftlichen Prozessen erschließen.

Der Talmud diskutiert in den entsprechenden Traktaten – allein drei Traktate zum rabbinischen Verständnis von Politik, drei weitere zur Wirtschaft, sogar eine ganze Ordnung von Traktaten zur Landwirtschaft, die als Grundlage einer ökologischen Theologie gelesen werden kann – wie der religiöse Maßstab der Rabbinen auf eine säkulare Weise die Politik, die Wirtschaft und die sozialen Verhältnisse konkret und im Detail mitbestimmt. Diese Art von Debatte, das heißt von religiöser Annäherung an die säkulare Wirklichkeit, ohne in eine theokratische Falle zu gehen, wünsche ich mir heute.

Schnittstellen, an denen sich die jüdische Religion heute erneut auf die säkulare Wirklichkeit einlassen kann, habe ich bereits in Amsterdam im Rahmen eines sogenannten »säkularen Mincha« – eines »säkularen Nachmittagsgottesdienstes« – aufzuzeigen versucht. Die Gemeinde lud Menschen jüdischer Herkunft ein, die eine Rolle im wirtschafts-, gesellschafts- und kulturpolitischen Leben spielen, und beleuchtete ihr Engagement in einem religiösen Licht. Im Frankfurter Egalitären Minjan bildete sich später ein ähnliches Forum. Im Rahmen von Schiurim diskutierten wir über allgemeine, gesellschaftspolitische Fragen. Dies verbanden wir immer mit der Lektüre vergleichbarer rabbinischer Auseinandersetzungen im Talmud. Dabei bildete sich unverhofft ein neuer Schwerpunkt heraus. Die wirtschaftlich versierten Mitglieder bemühten sich anhand von Rechtsvergleichen, politischer Ökonomie und Verhaltenstheorien um eine spezifisch jüdisch-religiöse Sicht auch auf die globale Wirtschaftsentwicklung. Im Zentrum standen Themen wie »Zinsen«, »Wert und Profit«, »Preispolitik« und »Anti-Krisenstrategien«. Für viele der aufgeworfenen Fragen finden sich aufschlussreiche Referenzen im Talmud. Die einstigen Rabbinen fragten, ob und wie sich die Gott-Mensch-Beziehung auch in der Wirtschaft verwirklichen lässt.

Gewiss – die Gesellschaft von damals war eine andere als die heutige. Die rabbinischen Vorstellungen im Talmud greifen darum nur bedingt. Trotzdem beeindruckt, wie sie die säkulare Wirklichkeit – nämlich die Notwendigkeit einer funktionierenden Wirtschaft – nicht ablehnten. Auch Wirtschaftspolitik konnte nach rabbinischer Ansicht Gottesdienst sein, wenn sie der Verwirklichung der Gott-Mensch-Beziehung, widergespiegelt in einem sozialen Gemeinwesen, diente.

Eine Folge hiervon war die Gründung eines neuen, mittlerweile viel beachteten Vereins, an der ich mitwirkte und der interessierten Juden und NichtJuden offensteht: Torat haKalkala -Verein zur Förderung angewandter, jüdischer Wirtschafts- und Sozialethik.

Aus: Elisa Klapheck: Wie ich Rabbinerin wurde, p.203
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