Die jüdische Kindertherapeutin Isca Salzberger-Wittenberg (4.3.1923 – 23.12.2023) verstarb im Alter von 100 Jahren
Von Roland Kaufhold
Noch im Alter von 100 Jahren zeigte die große jüdische, in London lebende aber aus Frankfurt stammende Kindertherapeutin Isca Salzberger-Wittenberg in einem Interview großes Verständnis für die Zukunftsängste protestierender Jugendlicher: Heutige Kinder und Jugendlichen seien objektiv durch den Klimawandel ganz massiv gefährdet. Deren Ängste seien nicht neurotisch, sondern real und realitätsnah. Auch sie selbst mache sich große Sorgen um die Zukunft ihrer Kinder, fünf Enkel und vier Urenkel. Es werde Dürren, Hungersnöte und hierdurch bedingt große Fluchtbewegungen geben. Viele Menschen nähmen diese Gefahr nicht ernst, verleugneten sie, gewiss auch zur eigenen Angstabwehr: „Wir beuten die Natur und unsere Lebensgrundlagen aus. Das ist sehr deprimierend“, betonte Salzberger-Wittenberg im Juli 2023 im taz-Interview (Stadlmayer 2023), aus dem ich nachfolgend vielfach zitieren werde. Vor drei Wochen, am 23.12.2023, ist Isca Salzberger-Wittenberg hundertjährig in London verstorben.
Es sei „absurd“, protestierende Jugendliche als Kriminelle zu bezeichnen und zu verfolgen, so Salzberger-Wittenberg: „Das Problem sind die Erwachsenen, die den Klimawandel und die Umweltzerstörung verdrängen, nicht die protestierenden Jugendlichen“, betont die Kindertherapeutin. Die Entwicklung von Jugendlichen sei natürlich auch schon in ihrer eigenen Kindheit durch die Veränderungen mit ihrem Körper sowie die Auseinandersetzung mit den eigenen Eltern und der sozialen Umwelt oft sehr schwierig gewesen. Aber diese Ängste vor der Umweltzerstörung, die seien neu.
Kindheit als Jüdin in Frankfurt
Isca Salzberger wurde am 4.3.1923 als jüngste Tochter der Frankfurter Rabbiners Georg Salzberger und dessen Frau Nenny in Frankfurt in der Eschersheimer Landstraße 67 geboren. Ihre Schwestern hießen Lore und Ruth. Sie besuchte bis 1939 – bis zu ihrer erzwungenen Emigration – das Frankfurter Philanthropin, eine Schule der israelitischen Gemeinde (Psychoanalytikerinnen o. J.).
Ihr Vater Georg Salzberger wurde 1882 geboren und verstarb 1976 in seiner neuen Heimat London. Georg Salzberger war wiederum Sohn des Erfurter Rabbiners Moritz Salzberger. Georg Salzberger hatte 1907 in Heidelberg promoviert und arbeitete von 1910 – 1937 als Rabbiner an der Westend-Synagoge in Frankfurt. Weiterhin war er Mitglied und ab 1928 Präsident der Loge B’nai B’rith. Er war auch am Aufbau des Freien jüdischen Lehrhauses – in Kooperation mit Erich Fromm – sowie des neugegründeten Kulturbundes Deutscher Juden in Frankfurt maßgeblich beteiligt.
1938 wurde Georg Salzberger nach Dachau verschleppt. Um den Ereignissen vorzugreifen: Nach ihrer gemeinsamen Emigration nach London im Frühjahr 1939 war Salzberger Rabbiner der New Liberal Jewish Congregation (heute Belsize Square Synagoge, in Nordwest-London gelegen), der einzigen deutschsprachigen jüdischen Gemeinde in London. Dort lebten sehr viele aus Deutschland geflohene Juden, und er predigte dort auf Deutsch.
Sie habe in Frankfurt eigentlich eine glückliche Kindheit gehabt, erinnert sich Isca Salzberger in besagtem taz-Interview (Stadlmayer 2023). Ihre beste Freundin sei ein christliches Mädchen – „Hannelore“ – gewesen. Hannelore und deren Familie seien sehr oft zu Besuch im Haus ihres Vaters, des bekannten Frankfurter Rabbiners, gewesen, und sie hatten gemeinsam „viel Spaß“: „Ich war die jüngste Tochter des Rabbiners Georg Salzberger. Die Leute kamen mit allen ihren Problemen zu ihm. Ich mochte es nicht so sehr, dass immer fremde Leute bei uns zu Hause waren. Aber ich liebte die jüdischen Festtage, Pessach zum Beispiel. Da durften wir lange aufbleiben und es wurde viel gesungen“, erzählt sie (Stadlmayer 2023).
Sie habe auch viele jüdische Besucher im Haus ihrer Eltern gehabt, die bereits seinerzeit oder wenig später sehr bekannt wurden, darunter Martin Buber und der Psychoanalytiker und Sozialpsychologe Erich Fromm. Nach 1933 erlebte Isca Salzberger in immer bedrohlicherer Weise die schrittweise, systematische Ausgrenzung als jüdisches Kind durch die nationalsozialistische Mehrheitsgesellschaft: Es habe schleichend, begonnen. Dann, plötzlich, „musste ich Angst haben, dass mich christliche Schulkinder vom Fahrrad schubsten. Auf den Litfaßsäulen waren judenfeindliche Bilder und Schlagzeilen. Wir lernten schnell, den Mund zu halten, um uns und unsere Familien nicht zu gefährden. Dann durften wir plötzlich nicht mehr ins Theater gehen, Geschäfte wurden angegriffen, und die ersten Bekannten emigrierten.“ (Stadlmayer 2023)
Während ihrer letzten beiden Jahre in Frankfurt, insbesondere nach der Verhaftung ihres Vaters und dessen Verschleppung nach Dachau 1938, habe sie „immer Angst“ gehabt, „dass sie uns abholen und töten würden. Ich konnte die Erwachsenen nicht verstehen, die sagten, das würde alles vorbeigehen.“ Verdrängung einer gewalttätigen Realität als Form der „Verarbeitung“, des Überlebens, das erschien der späteren Kindertherapeutin nicht als hilfreich. Das Verleugnen vermochte ihr nicht die Ängste zu nehmen, die sie tagtäglich als jüdisches Mädchen erlebte.
Die Pogromnacht im November 1938 erlebte Isca Salzberger als „die Hölle“. Sie erinnert diese Szenen noch über 80 Jahre später in dichter, weiterhin verängstigender Weise: „In der sogenannten Kristallnacht wurden beide Synagogen, an denen mein Vater Rabbiner war, von den Nazis angezündet. Mein Vater lief frühmorgens hin, aber er konnte nichts mehr ausrichten.“ (Stadlmayer 2023)
Ihr Vater wurde von der Gestapo gesucht, floh und versteckte sich. Dann stellte er sich doch, weil er vermutete, dass dies für seine Familie besser sei, wurde in das Konzentrationslager Dachau verschleppt und dort schwer misshandelt. Hiervon vermochte oder wollte er seinen Kindern und seiner sonstigen Familie selbst viele Jahre später im sicheren London nahezu nichts zu erzählen. Das Schweigen sollte seine Kinder vor einer weiteren Traumatisierung schützen, so seine Überzeugung als Vater.
Gerettet wurde Georg Salzberger durch einen Akt der Solidarität und des Mutes: Gemeindemitglieder besorgten ihm eine gefälschte Arbeitserlaubnis für Amerika – seinerzeit für wenige Jahre das letzte Schlupfloch, um doch noch aus dem nationalsozialistischen Österreich zu entkommen. Er kam Ende 1938 wieder frei, hatte eine Lungenentzündung. Anfang April 1939 gelang der Familie mit der gefälschten Arbeitserlaubnis die Flucht nach England.
Die alltägliche kindliche Angst als jüdisches Kind
Isca Salzberger-Wittenberg erinnert sich auch noch im hohen Alter in dichter Weise an ihre kindlichen Bedrohungserlebnisse und an ihre Sehnsucht nach dem verschleppten Vater: „Ich hatte, während er weg war, jeden Tag ängstlich am Fenster gestanden und auf den Postboten gewartet, der den Nachbarn kleine Schachteln mit der Asche ihrer Angehörigen gebracht hatte. Zum Glück kam es mit ihm nicht so weit.“ (Stadlmayer 2023)
Einmal berichtete ihr Vater seiner Familie doch ein besonders erschütterndes und doch für den systematischen Terror (vgl. Federn 2014) kennzeichnendes Detail: Während die jüdischen Gefangenen in Dachau geschlagen und entwürdigt wurden, musste zeitgleich ein jüdisches Quartett musizieren. Die Parallelitäten zu dem Mädchenorchester von Auschwitz, in dem u.a. Else Lasker-Wallfisch (Kaufhold 2021) sowie Esther Bejarano (Kaufhold & Hößl 2021) musizieren mussten – es war die einzige Chance des eigenen Überlebens – sind offenkundig und erschütternd.
Selbst nach seiner Freilassung Ende 1938 aus Dachau zögerte Salzberger wohl noch, ob er sofort fliehen sollte: Er hatte Hitlers „Mein Kampf“ gelesen, und doch hatte er als Rabbiner die Grundhaltung: „Der Kapitän verlässt als Letzter das sinkende Schiff.“
„Es dauerte noch vier Monate“, erinnert sie sich, „bis wir nach England ausreisen konnten. Es war eine schlimme Zeit. Ich half meiner Mutter, unser Visum für England zu organisieren. Das konnte ich, weil an meiner jüdischen Grundschule der Unterricht komplett auf Englisch gewesen war. Wir mussten Leute in Großbritannien finden, die für uns bürgten, dass wir dem Staat nicht zur Last fallen würden. Wir fanden sie schließlich in der jüdischen Gemeinde in London, und so konnten wir an Ostern 1939 mit einem kleinen Koffer pro Person und meinem Cello nach London fliegen. Als wir in der Luft waren, sagte mein Vater: „Jetzt kannst du ihnen auf den Kopf spucken!““ (Stadlmayer 2023).
London 1939: Tavistock Clinic
Das Jewish Refugee Committee ermöglichte ihr Anfang der 1940er Jahre in Yorkshire eine einjährige Ausbildung zur Kinderkrankenschwester. Anschließend arbeitete sie in einem Kriegskinderheim in Hemel Hempstead. Bald musste sie – wie viele deutsch-jüdische Emigranten, darunter auch Freuds Enkel Anton Freud (Hristeva & Kaufhold 2023), die schmerzhafte Erfahrung machen, dass sie als deutschstämmige Jüdin in England anfangs nur wenig Verständnis fand: Deutsche Juden wurden in England, das gegen Nazideutschland einen Krieg führen musste, zuerst einmal als potentiell „feindliche Ausländer“, als potentielle deutsche Spione verdächtigt. Mit einem Stipendium des Jewish Refugee Committe studierte sie ab 1943 Sozialwissenschaften an der Universität Birmingham und schloss mit einem BA ab (Psychoanalytikerinnen o. J.).
1956 begann sie eine Ausbildung an der renommierten, von Anna Freud aufgebauten Tavistock Clinic für seelisch kranke Kinder. Das Institut mit dem Schwerpunkt Kindertherapie genoss in internationalen Fachkreisen einen hohen Ruf. Die britische Kinderanalytikerin Esther Bick und der Bindungsforscher John Bowlby lehrten dort. Bei Tavistock zu arbeiten galt in psychoanalytischen Kreisen gewissermaßen als ein Adelstitel. Hierbei orientierte sie sich, wie Esther Bick, an der theoretischen Schule Melanie Kleins: „Sie ging viereinhalb Jahre zu dem Kleininaner Sonny S. Davidson in die Analyse, die sie nach dessen Tod von 1962 bis 1968 bei Wilfred R. Bion fortsetzte. Später machte sie noch eine Ausbildung zur Erwachsenentherapeutin.“ (Psychoanalytikerinnen o. J.)
Anna Freud hatte in London einen Kreis auch von deutschsprachigen, meist jüdischen Emigrantinnen um sich gesammelt und zu psychoanalytisch geschulten Kinderpflegerinnen, teils auch zu Kinderanalytikerinnen ausgebildet, darunter auch Manna Friedmann (Ludwig-Körner (2022), Kaufhold (2022)). Auch der junge sozialistische Psychoanalytische Pädagoge und Widerständler Rudolf Ekstein (Kaufhold 2001) war diesem kleinen, von Anna Freud inspirierten Kreis zugehörig.
Ihre Arbeitsweise in Tavistock beschreibt sie so: „Ich wollte, dass Jugendliche einfach einen Termin machen und sich beraten lassen können. Das Angebot gibt es heute noch.“ Unkompliziertheit, Hilfsbereitschaft, spontanes Eingehen auf die seelischen Nöte von Kindern, das war ihre Grundhaltung.
In der Psychotherapie versuche sie, ihren Patienten sowohl die eigenen aggressiven Gefühle wie auch die eigenen Ängste nahezubringen. Diese zu verdrängen sei auf Dauer keine Hilfe. Projektionen, Abspaltungen der eigenen Gefühle, sei auf Dauer keine günstige Umgangsweise. Solche abgespaltenen Affekte führten zu Fremdenfeindlichkeit, zu Angriffen auf Fremde und letztlich, in einigen Fällen, zum Völkermord. Die Shoah war ihr zeitlebens sehr gegenwärtig.
Ihr wichtigstes Arbeits- und Behandlungskonzept als Kindertherapeutin war die – insbesondere von John Bowlby (1982) auch theoretisch vorangetriebene Säuglingsbeobachtung, die in seiner Bindungstheorie mündete.
Die von ihr in London protegierte Säuglingsbeobachtung sei „eine wundervolle Sache. Die Studierenden gehen zu den Familien nach Hause und beobachten das Baby, was es macht und wie die Eltern mit ihm interagieren. Sie dürfen sich nicht einmischen, sie müssen die kleinsten Veränderungen beobachten und später im Seminar darüber berichten. Die Fähigkeit zu beobachten ist essenziell für Therapeuten“ hebt Salzberger hervor.
Anfangs, so war die damalige Vorstellung, durfte man Säuglinge selbst in der Klinik nicht in den Arm nehmen. Das habe sie und habe man gemeinsam sehr rasch geändert: „Wenn man selbst Schmerz erlebt hat, kann man den Schmerz der anderen vielleicht besser verstehen und ihnen helfen, ihn zu akzeptieren.“ Heute wisse man, dass man sich sehr liebevoll um Säuglinge kümmern müsse.
25 Jahre blieb Isca Salzberger in Tavistock als Kindertherapeutin tätig und verankerte hierbei insbesondere einen engen Kontakt von Müttern und Krankenschwestern mit Säuglingen als pädagogisches Primat. Sie erwarb sich rasch einen Ruf als Kindertherapeutin und war 10 Jahre lang Leiterin der Tavistock Clinic. 1968 – mit 65 Jahren – schied sie aus der Tavistock Clinic aus, arbeitete dort aber neben ihrer Privatpraxis in Teilzeit weiter. Sie publizierte mehrere Bücher zu psychoanalytischen Themen, die später zum großen Teil auch auf deutsch erschienen. Als ein Standardwerk gilt ihr Buch Psycho-Analytic Insight and Relationships. A Kleinian Approach, in dem sie erklärt, wie sich die Melanie Kleins Konzepte auf die Sozialarbeit anwenden lassen (vgl. Salzberger-Wittenberg 1973 und 1997).
Als ihre älteste Schwester 1962 starb heiratete sie dessen Ehemann und zog die Kinder ihrer Schwester auf. Sie mochte ihn, es war eine freie Entscheidung. Ihre Schwester hatte sie als letzten Wunsch gebeten, sich um die beiden zwei- und achtjährigen Kinder zu kümmern: „Es war nicht einfach, neben meinem Beruf die beiden Jungs großzuziehen“, erinnert sie sich im taz-Interview.
Ihre seelische Gebundenheit an die Shoah, die ein Teil von ihr blieb, mag sich in ihrer psychoanalytisch-klinischen Studie „Working with women survivors of the Holocaust. Affective experiences in transference and countertransference“ (Salzberger-Wittenberg 1973) widerspiegeln.
Die späten Jahre: Israel als seelische Heimat
Wo sie sich zu Hause fühle, wurde sie im Sommer 2023 von Stadlmayer (2023) gefragt. „Nirgends, aber am ehesten noch in Israel“, entgegnete die Emigrantin. „Ich war sehr oft da.“ In Israel werde „mehr Wert auf die emotionale Gesundheit älterer Leute gelegt als in Großbritannien.“
Ihr anstehender Tod mache sie, die mit einer Pflegerin immer noch in ihrer großzügigen Wohnung lebte, „sehr betroffen. Die Natur und die Bäume trösten mich. Wenn ich Blumen und Pflanzen sehe, den Vögeln zuhöre, die Wolken beobachte, fühle ich mich dem Leben verbunden und freue mich, dass es weitergehen wird, wenn ich nicht mehr da bin. Außerdem mache ich weiterhin einiges, was ich sehr liebe. Zum Beispiel treffe ich interessante Menschen und spiele jeden Tag Klavier. Ich denke dann an nichts anderes. Erst vor zwei Jahren habe ich wieder mit dem Klavierspielen angefangen. Davor hatte ich Cello gespielt, aber das schwere Cello konnte ich nicht mehr halten.“
Ihre Neugier auf Menschen habe nicht nachgelassen. Und sie liebe ihre therapeutische Arbeit: „Ich bin ein sehr positiv gestimmter Mensch. Ich habe schlimme Zeiten erlebt, aber ich habe auch sehr viel Glück gehabt in meinem Leben.“
Sie habe zeitlebens versucht, die Motive zu verstehen, worum sie als jüdisches Kind von den Deutschen verfolgt und entwertet wurde. Warum und wie „aus guten Freunden plötzlich Feinde werden konnten. Ich habe das am eigenen Leib erlebt. Die christlichen Kinder haben uns plötzlich angespuckt, wenn wir ihnen auf dem Weg zur Schule entgegenkamen. Mein Vater hatte viele nichtjüdische Bewunderer. Ich konnte nicht verstehen, dass die Leute uns plötzlich hassten und verfolgten. Wie können Menschen so grausam sein und solche Verbrechen begehen?“
Sie hatte selbst als 100-Jährige noch einige Patienten in ihrer Wohnung.
„Einen Tag waren wir gute Freunde und am nächsten waren wir Feinde“
Im Jahr 2023 – in Isca Salzberger-Wittenbergs 100.tem Lebensjahr – beschrieb sie ihre durch die Shoah und das Exil geprägten Lebenserinnerungen in der von Ludger M. Hermanns herausgegebenen Buchreihe „Psychoanalyse in Selbstdarstellungen“ (Band XIV, 2023). „Auf der Flucht vor Hitler von Frankfurt nach London. Von der Sozialarbeit zur Psychoanalyse“ hat sie ihre berührenden Erinnerungen überschrieben (Salzberger-Wittenberg 2023).
Sie erinnert sich in ihren ersten Sätzen an ihren Vater, den Rabbiner Georg Salzberger und dessen „wunderbaren Predigten“ (S. 159) in seiner Synagoge; diese Predigten schmückte er mit Zitaten aus der Literatur: „Ich erinnere mich dass ich in der Synagoge saß und meinen Vater sehr bewunderte.“ (ebd.) Lebenslang sollte sie innerlich versuchen, psychoanalytische Beobachtungen und Erkenntnisse mit überlieferten jüdischen Grundhaltungen zu legieren.
Bei ihrer glücklichen Flucht nach England durfte sie ihr geliebtes Cello mitnehmen. Anfangs fand sie sogar noch einen neuen Cellolehrer, vermochte also ihre Frankfurter musikalischen Erfahrungen auch im Exil fortzuführen, bis ihr das Cellospielen angesichts ihrer schwierigen neuen Lebenssituation doch zu beschwerlich wurde. Sie schenkte ihr Instrument der Nichte ihres Mannes in Jerusalem – ihrer späteren seelischen Heimat – , welche diese für ihren Hausbau verwenden konnte.
Salzberger erinnert sich auch in lebendiger Weise an ihre Verfolgungs- und Ausstoßungserlebnisse in Nazideutschland. In den Ferien sei sie mit ihren Eltern oft in den Schweizer Bergen gewesen: „Dort lasen meine Eltern auch schon sehr früh Hitlers „Mein Kampf“ und wurden danach sehr ernst. Das war meine erste Begegnung mit dem Nationalsozialismus“ (S. 163)
Bis an ihr Lebensende nah blieben ihr die antisemitischen Beleidigungen und Karikaturen, denen sie ab 1933 – da war sie zehn – auf ihrem Schulweg ausgesetzt war. „Ich hielt immer meinen Mund, bis ich zuhause angekommen war.“ (ebd.) Sie musste die Erfahrung machen, dass auch ihre Eltern sie nicht vor solchen antisemitischen Übergriffen zu schützen vermochten. Das Gefühl ließ sie nie wieder los.
Am 9.11.1938 erlebte sie, wie in einem in der Nachbarschaft gelegenen jüdischen Jugendzentrum die Fensterfront eingeschmissen wurde: „Ich kann mich an alles genau erinnern, als wäre es gestern gewesen. Die Gestapo kam in unsere Wohnung und suchte meinen Vater.“ (S. 164)
Als sie am Ostermontag, den 9.4.1939 mit ihrer Familie nach London zu fliegen vermochte hatte die 16-Jährige zwar große Angst vor dem Fliegen, konnte diese Angst jedoch durch die innerliche Gewissheit zu überwinden: „Ich werde sterben, wenn ich bleibe, aber das Fliegen wird mich hoffentlich retten.“ (S. 165)
Die Erfahrung, dass in ihrer neuen Heimat London die organisierte Destruktivität der deutschen Nationalsozialisten teils verleugnet wurde – niemand konfrontiert sich gerne mit dem Bösen im Menschen – verstärkte ihr Gefühl der Unzugehörigkeit auch in ihrer neuen Heimat: „Ich war total schockiert. Voll der Bewunderung für die deutsche Effizienz und nichts über die deutsche Effizienz beim Morden. Damit kam ich gar nicht klar und konnte nichts erwidern. (…) Ich trauerte über die vielen Menschen, die ich in Deutschland hatte zurücklassen müssen. Und sie interessierten sich für Lippenstifte und Jungensgeschichten.“ (ebd., S. 166). Erst ihre enge Freundschaft zu einem anderen, aus Breslau gebürtigen jüdischen Flüchtlingsmädchen vermochte ihre Gefühle der Vereinzelung und Nichtzugehörigkeit zu lindern
Detailreich und in persönlicher Weise erinnert sich Isca Salzberger an ihre sie prägenden psychoanalytischen Lehrer John Bowlby, Esther Blick – welche sie zur Kindertherapie führte – Sony Davidson, Neville Symington, dem legendären Wilfred R. Bion, sowie dem Autismusforscher Donald Meltzer (vgl. Rudolf Eksteins Autismus-Forschungen) : Wir machten „eine kleine Konferenz über autistische Kinderpatienten, wo wir zu viert mit ihm unsere Fälle besprachen.“ (S. 174)
Über Bion erinnert sie: „Er war sehr klar, brachte einen auf Dinge, die einem nie in den Kopf gekommen wären. Seine Deutungen waren dabei aber bodenständig. Er war mehr wie ein Buddha, sehr weit weg und nicht so nah und warmherzig wie mein südafrikanischer Analytiker vorher. Bion war klug und originell, aber ich konnte bei ihm nicht die Wärme finden.“ Selbst im hohen Alter von knapp 100 Jahren interessierte sich die Kindertherapeutin für kleine Kinder. Hierbei wurde sie innerlich immer wieder von der Frage bedrängt „wie das möglich gewesen war in Deutschland: Einen Tag waren wir gute Freunde und am nächsten waren wir Feinde.“ (S. 168)
Mit innerer Freude bemerkt sie, dass alle ihre englischen Bücher mit einiger Verzögerung auch ins Deutsche Übersetzt wurden.
Auch wenn ihr Vater bereits 1950 zur Wiedereröffnung seiner ehemaligen Synagoge nach Frankfurt eingeladen wurde so hatten sie doch niemals erwogen, wieder fest nach Deutschland zurückzukehren. Mit Israel blieb sie innerlich zeitlebens eng verbunden: „Ich habe Probleme mit Gott, aber ich liebe die jüdischen Feiertage und die religiösen Rituale.“ (Salzberger-Wittenberg 2023, S. 178)
Im Juni 2021 wurden an ihrer früheren Frankfurter Wohnung mehrere Stolpersteine verlegt. Für ihren Vater Georg Salzberger, ihre Mutter Natalie Charlotte und deren drei Töchter. Noch in einem Interview mit der Frankfurter Rundschau erinnerte sich Isca, die mit 10 Jahren die „Machtergreifung“ der Nationalsozialisten sehr konkret erlebte und mit 15 Jahren mit großem Glück zu fliehen vermochte, vor allem einer glücklichen Kindheit.
Sie sehe auch die britische Demokratie in Gefahr, aber es stehe ihr nicht zu, dies öffentlich zu kritisieren. Das Erlangen der britischen Staatsbürgerschaft habe sie sehr gefreut, betonte die 100-Jährige.
In einem Nachruf schreibt die Psychoanalytikerin Jane O’Rourke:
„It’s with great sadness I am writing to share the news that Isca Salzberger-Wittenberg, the world’s oldest child psychotherapist died last night aged 100 years old. For those of us who are feeling her demise, she left behind a body of work that is truly remarkable and in many ways, a preparation for the emotional turbulence that loss always brings.
Having fled the Holocaust as a teenager Isca knew more than most about loss, yet it was this experience that also helped bring to life a career devoted to helping children and young people.
Isca was one of the first people to undertake the child psychotherapy training at the Tavistock Clinic. Having taught infant observation for over 50 years, Isca explained to me her passion for it and why it is an essential part of understanding babies and their parents.“
Literatur
Bowlby, J. (1982): Bindung – Eine Analyse der Mutter-Kind-Beziehung. Hamburg: Kindler Verlag.
Federn, E. (2014): Versuche zur Psychologie des nationalsozialistischen Terrors. Herausgegeben von Roland Kaufhold. Gießen: Psychosozial-Verlag.
Gossling, G. (2020): Isca Wittenberg. The Tavistock and Portman. Internet: https://tavistockandportman.nhs.uk/about-us/our-history/
Kaufhold, R. (2001): Bettelheim, Ekstein, Federn. Impulse für die psychoanalytisch-pädagogische Bewegung. Gießen: Psychosozial-Verlag.
Kaufhold, R. (2021): Rezension von: Maya Lasker-Wallfisch mit Taylor Downing (2020). Briefe nach Breslau. Überleben, Sprachlosigkeit und transgenerationales Erbe, Psychosozial 44. Jg., Heft IV/2001, S. 110-113: https://www.psychosozial-verlag.de/26628
Kaufhold, R. (2022): „Ich wollte immer nach Israel“. Manna Friedmann, Mitarbeiterin von Anna Freud, haGalil, 12.10.2022: https://www.hagalil.com/2022/10/manna-friedmann/
Kaufhold, R. & S. Hößl (2021): Zum Tode von Esther Bejarano (1924-2021), haGalil, 10.7.2021: https://www.hagalil.com/2021/07/bejerano/
Ludwig-Körner, C. (2022): Manna Friedmann – Als Überlebende das Überleben anderer sichern, in; Ludwig-Körner (2022): Und sie fanden eine Heimat. Leben und Wirken der Mitarbeiterinnen von Anna Freud in den Kriegskinderheimen. Stuttgart-Bad Cannstatt: Problemata frommann-holzboog, S. 133-209.
Mind in Mind (o. J.): Isca Wittenberg: The oldest living child psychotherapist: https://mindinmind.org.uk/interviews/isca-wittenberg-interview/
Psychoanalytikerinnen (o. J.): Isca Salzberger-Wittenberg (1933), Internet: https://www.psychoanalytikerinnen.de/england_biografien.html#Riviere
Raffray, N. (2023): Former Holocaust refugee Isca Wittenberg on turning 100: https://www.hamhigh.co.uk/news/23402011.former-holocaust-refugee-isca-wittenberg-turning-100/ (29.8.2023)
Refugee Voices: Isca Wittenberg interviewed by Bea Lewkowicz in London, 3.8.2006. Internet: https://www.ajrrefugeevoices.org.uk/RefugeeVoices/isca-wittenberg (29.8.2023)
Salzberger-Wittenberg, I. (1972a): Pregnancy and motherhood. Interaction between fantasy and reality. Brit J Med Psychol 45, 1972, S. 333-343.
Salzberger-Wittenberg, I. (1972b): Hilda Abraham (1906-1971). IJP 53, 1972, S. 331.
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Salzberger-Wittenberg, I. (2002): Psychoanalytisches Verstehen von Beziehungen. Ein Kleinianischer Ansatz. Aus dem Englischen übersetzt von Michael Ermann, überarbeitet von Brigitte Rapp. Facultas, Wien.
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Stadt Frankfurt a.M.: Stolperstein-Biografien im Westend: Salzberger, Georg, Isca, Lore Shulamit, Natalie Charlotte und Ruth, Internet: https://frankfurt.de/frankfurt-entdecken-und-erleben/stadtportrait/stadtgeschichte/stolpersteine/stolpersteine-im-westend/familien/salzberger-georg-isca-lore-shulamit-natalie-charlotte-und-ruth
Salzberger-Wittenberg, I. (2023): Auf der Flucht vor Hitler von Frankfurt nach London. Von der Sozialarbeit zur Psychoanalyse. In L. M. Hermanns (Hg., 2023): Psychoanalyse in Selbstdarstellungen. Bd. XIV. Frankfurt/M. (Brandes & Apsel), S. 159-180.
Stadlmayer, T. (2023): Kindertherapeutin über Zukunftsangst: „Das Problem sind die Erwachsenen“. Isca Salzberger-Wittenberg musste als Kind eines Rabbiners vor den Nazis fliehen. Taz, 15.7.2023: https://taz.de/Kindertherapeutin-ueber-Zukunftangst/!5944676/
Wachmann, D. (2013): Rabbi’s epic walk with a blogging dog for company. Jewish Telegraph: https://www.jewishtelegraph.com/prof_194.html