Zum Tod von Esther Bejarano (1924 – 2021)

0
130

Im Jahr 2009 klingelt bei der Auschwitz-Überlebenden Esther Bejarano das Telefon. Ein junger Mann erzählt ihr etwas von einem Musikprojekt. Und von der Mafia. Die couragierte Esther ist verunsichert: mit der Mafia möchte sie nichts zu tun haben. Das Missverständnis klärt sich schnell: Kutlu Yurtseven, ein engagierter linker Rapper der Kölner Gruppe Microphone Mafia bittet um eine Zusammenarbeit. Seitdem steht die betagte Antifaschistin und ausgebildete Musikerin regelmäßig auf der Bühne…

Von Stefan E. Hößl und Roland Kaufhold

Anfänge: Esther Loewy wird am 15. Dezember 1924 in Saarlouis als Tochter von Margarethe und Rudolf Loewy in eine sehr musikalische, jüdische Familie geboren. Bei ihren Auftritten als Zeitzeugin, aber auch in ihren autobiographischen Schriften erinnert sie sich an eine behütete, unbeschwerte und glückliche Kindheit. Dieses Glück hielt jedoch nicht lange an: Antisemitische Beleidigungen und Bedrohungen prägten zunehmend den Alltag von Esther und den ihrer Familie. 1935 übernahmen die Nationalsozialisten die Regierungsgewalt im Saarland und gliederten es ins Deutsche Reich ein. An den 9. November 1938 erinnert sich Esther als großen Schock: Ihr Vater, Veteran des Ersten Weltkriegs, Träger des Eisernen Kreuzes und deutscher Patriot, wird verhaftet und verbringt mehrere Tage im Gefängnis; andere jüdische Männer werden nach Dachau deportiert; ihre Schwester und andere werden fürchterlich zusammengeschlagen. Anfänglich vertraute ihr Vater noch auf seine Auszeichnung als Soldat, 1938 ist klar, dass es für die Familie im nationalsozialistischen Deutschland keine Zukunft gibt.

Emigrationspläne in die Schweiz scheiterten, weil Rudolf Loewy als ‚Halbjude‘ galt. In Berlin besucht Esther eine Jugend-Aliah-Schule, die sie für die Emigration nach Palästina vorbereitet. Ihrer Schwester Tosca gelingt die Auswanderung nach Palästina, Esther jedoch nicht. Sie wird zur Zwangsarbeit gezwungen. Im November 1941 werden ihre nach Litauen verschleppten Eltern ermordet, was sie jedoch erst nach 1945 erfährt.

Am 20. April 1943 wird die 18jährige Esther nach Auschwitz verschleppt, ihr wird die Nummer 41948 auf den Arm tätowiert. Auge in Auge mit Mord, Kälte, Krankheiten, Zwang, Mangelernährung und Gewalt erscheint ihre Lage aussichtslos. Eines Tages wird sie jedoch von Zofia Czajkowska gefragt, ob sie eine Musikerin sei. Sie stellte in Auschwitz ein Mädchenorchester zusammen und suchte eine Akkordeonspielerin. Esther, die in ihrer Jugend leidenschaftlich gerne gesungen und Klavier, aber nie Akkordeon gespielt hatte, lügt und äußert, dass sie auch dieses Instrument beherrsche. Durch die Übertragung ihrer Erfahrungen mit dem Klavierspielen gelingt es ihr, die richtigen Töne zu erzeugen. „Das war wie ein Wunder“, schreibt sie in ihrer Autobiographie. Jeden Tag muss sie fortan mit dem Orchester in Auschwitz spielen. „Wenn neue Transporte ankamen, die für die Gaskammer bestimmt waren, mussten die Musikantinnen am Tor stehen und Musik machen“ erinnert sie sich in ihren 2013 erschienenen Erinnerungen. „Als die Menschen in den Zügen an uns vorbeifuhren und die Musik hörten, dachten sie sicher, wo Musik spielt, kann es ja so schlimm nicht sein. Was für eine schreckliche psychische Belastung war das für das Orchester!“.

Im November 1943 wird Esther nach Ravensbrück verschleppt und zur Zwangsarbeit gezwungen. 1945 gelingt ihr auf einem Todesmarsch die Flucht – und sie überlebt. Nach der Befreiung Deutschlands ist es ihr trotz zahlreicher Widrigkeiten möglich, im August 1945 nach Palästina zu emigrieren, wo sie bereits von ihrer Schwester Tosca erwartet wird. Am 15. September kommt sie an Deck des Schiffes Mataroa in Haifa an.

Zeitweilig arbeitet sie als Kinderpflegerin, absolviert ein Gesangsstudium und engagiert sich als Musikerin in einem mehrheitlich kommunistisch bzw. sozialistisch orientierten Arbeiterchor. Ende der 1940er Jahre lernt sie Nissim Bejarano kennen, den sie 1950 heiratet, den Vater ihrer beiden Kinder Edna (1951) und Joram (1952). Mit beiden steht Esther, gemeinsam mit ihren Freunden von der Microphone Mafia, auf der Bühne.

Nach den Erfahrungen im Israelischen Unabhängigkeitskrieg und im Sinai-Krieg, die ihre tiefe Aversion gegenüber jeglichem Krieg verstärkten, sowie vor dem Hintergrund, dass sie die Hitze dieser Wüstenregion nicht vertrug, fiel die Entscheidung, den Staat Israel zu verlassen. Im Jahr 1960 war es soweit und die Familie migrierte – und trotz aller Bedenken, nach all dem Erlebten gerade wieder nach Deutschland zu ziehen, ließ sie sich letzten Endes in Hamburg nieder. Über ihre traumatischen Erlebnisse vermochte Esther lange nicht zu sprechen.

Nach und nach beginnt sie wieder zu musizieren. Auch ihre Tochter Edna wird Musikerin, Anfang der 1970er Jahre steht sie als Sängerin mit der Rockgruppe ‚The Rattles‘ auf der Bühne. Mehr und mehr wird es Esther möglich, über ihre Erfahrungen in Auschwitz zu sprechen. Sie engagiert sich politisch in linken Zusammenhängen, auch im Umfeld der Deutschen Kommunistischen Partei (DKP) und für die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten (VVN-BdA). Als Zeitzeugin tritt sie unzählige Male in Schulen auf – bis zum heutigen Tag. Dabei wendet sie sich mit den Worten „Ihr habt keine Schuld an dieser Zeit. Aber ihr macht euch schuldig, wenn ihr nichts über diese Zeit wissen wollt“ an Schülerinnen und Schüler.

1989 erscheint ihr Buch „Man nannte mich Krümel. Eine jüdische Jugend in den Zeiten der Verfolgung“. Esther wird nun immer wieder zu Lesungen eingeladen. Sie wird zu einer Person des öffentlichen Lebens, spricht im Bundestag, tritt in Filmen auf, erhält zahlreiche Auszeichnungen für ihr Engagement. 1986 gehört sie zu den Mitbegründern des „Auschwitz-Komitee in der Bundesrepublik Deutschland e.V.“. Immer wieder warnt sie vor dem Wiedererstarken rechter Kräfte in Deutschland und beteiligt sich auch als betagte Dame an antifaschistischen Demonstrationen. 2013 erscheinen ihre „Erinnerungen“ in Buchform. Die Autobiographie trägt den Untertitel „Vom Mädchenorchester in Auschwitz zur Rap-Band gegen Rechts“. Diese Rap-Gruppe, die Microphone Mafia, begeistert sie vor allem deshalb, weil sich hier Menschen mit sehr unterschiedlichen Hintergründen gemeinsam gegen Rechtsextremismus und Rechtspopulismus positionieren. Bei ihren Auftritten mit dem türkischstämmigen Kutlu Yurtseven und dem italienischstämmigen Rossi Pennino betont Esther so immer wieder, wie großartig sie es findet, dass eine Jüdin, ein Moslem und ein Christ gemeinsam auf der Bühne stehen, zusammen Musik machen und ein sie verbindendes Ziel verfolgen. Seit vielen Jahren sind die drei freundschaftlich verbunden, obwohl Esther zugibt, dass sie Rap eigentlich nicht wirklich mag, er ist ihr zu laut. In den letzten Jahren ist die vitale Antifaschistin für ihr Engagement vielfältig geehrt worden. So verlieh z. B. die Kölnische Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit ihr und ihrer Rap-Gruppe im Jahr 2014 den Giesberts-Lewin-Preis.

Nachdem vor Kurzem die Pläne des Bundesfinanzministers Olaf Scholz bekannt wurden, dass der VVN-BdA die Anerkennung der Gemeinnützigkeit entzogen werden soll, schrieb sie einen sehr emotionalen Brief und betonte: „Das Haus brennt – und Sie sperren die Feuerwehr aus!“ Dass Esther Bejarano auch noch mit über 95 Jahren gemeinsam mit ihren Kindern und ihren ein halbes Jahrhundert jüngeren Freunden der Microphone Mafia auf der Bühne stehen wird, davon kann man sehr sicher ausgehen, denn wie sie selbst es in ihrem Brief an Olaf Scholz formuliert: „Wir Überlebenden haben einen Auftrag zu erfüllen, der uns von den Millionen in den Konzentrationslagern und NS-Gefängnissen Ermordeten und Gequälten erteilt wurde.“

Eine gekürzte Version erschien in der Jüdischen Allgemeinen v. 12.12.2019.
Bild oben: Sven Teschke / Lizenz: Creative Commons CC-by-sa-3.0 de