„Ich wollte immer nach Israel“

0
94
Bild oben: Manna Friedmann in England, © Familienarchiv / Eran Wolkowski

Manna Friedmann, Mitarbeiterin von Anna Freud

Von Roland Kaufhold

Die Kinderanalytikerin Anna Freud (1895-1982) (Kaufhold 2003), Tochter Sigmund Freuds, war 1938 mit ihrem schwer kranken, 82-jährigen Vater von Wien nach England emigriert (Kaufhold & Wirth 2006). In England machte sie sich einen Namen als Kindertherapeutin. Sie baute dort, in Fortsetzung ihres Wiener psychoanalytisch-pädagogischen Engagements (vgl. Kaufhold 2001, 2003), Einrichtungen für Kriegskinder auf. Dies waren zum größten Teil jüdische Kinder, darunter auch KZ-Überlebende. Über ihre Arbeit hat Anna Freud publiziert (Freud & Burlingham 1971): So holte sie eine kleine Gruppe von sechs Kindern aus Theresienstadt nach London. Sie wurden unter ihrer Supervision psychologisch versorgt und betreut (Ludwig-Körner 2022a, S. 77-131). Über ihre pädagogischen, überwiegend aus Deutschland gebürtigen jüdischen Mitarbeiterinnen war bisher höchstens in Fachkreisen etwas bekannt.

Die Psychoanalytikerin Christiane Ludwig-Körner hat, in Fortsetzung ihrer Studie über 16 Berliner Psychoanalytikerinnen (Ludwig-Körner 2014, vgl. Kaufhold 2022b), ein aus langjährigen Forschungen und lebensgeschichtlichen Interviews mit sechs Frauen erwachsenes Buch vorgelegt; diese waren bereits während der Nazizeit und in den Jahren danach Mitarbeiterinnen von Anna Freud in deren Kriegskinderheimen. Der Titel ihrer bemerkenswerten biografischen Rekonstruktion – „Und sie fanden eine Heimat“ – gibt einer Besonderheit Ausdruck: Anna Freuds Mitarbeiterinnen waren alle selbst Emigrantinnen. Sie stammten fast alle aus Deutschland, und sie waren alle Jüdinnen.

Ludwig-Körner zeichnet in ihrer Studie die Geschichte von der Edith-Jackson-Kinderkrippe zu den War Nurseries nach (S. 11-45). Anschließend stellt sie detailreich, auf 300 Seiten, die Biografien ihrer sieben Protagonistinnen vor: Von Alice Goldberger (1897-1986), Sophie (1900-1993) und Gertrud Dann (1908-1998) („Heimat für die Kinder aus Theresienstadt“), Manna Friedmann (1915-2013), Anneliese Schnurmann (1908-2006), Ilse Hellmann (1908-1998) sowie Hansi Kennedy (1923-2003).

Ich möchten in diesem Beitrag, in exemplarischer Hinsicht, eine Einzelfallstudie aus Ludwig-Körners Studie (2022a) in den Mittelpunkt stellen, auch weil mir diese in Köln beginnende Biografie bisher völlig unbekannt war: Die Biografie Manna Friedmanns. Diese ist in Köln in der Fachliteratur zur jüdischen Geschichte Kölns sowie seines – 1919 gegründeten – jüdischen Gymnasiums Jawne und der verschiedenen hieraus erwachsenen Zeitzeugen-Erinnerungsprojekte auch noch nicht eingeflossen.

Manna Friedmann (1915-2013): Pädagogin und Überlebenskünstlerin

Manna Friedmann – laut Geburtsurkunde Marta Weindling- , 1915 als Kind einer polnischen Rabbinerfamilie geboren, welche 1908 von Galizien nach Köln übersiedelt war, wuchs in Köln in einem gläubigen Milieu auf. Ihr Vater war Vorbeter in der jüdischen Gemeinde Kölns, vermutlich in einer der Betstuben der osteuropäisch-jüdischen Migranten. Er fuhr als Handelsreisender für eine Textilfirma über das Land, ein zeitaufwendiger Lebensunterhalt. Es gelang ihm, seine große Familie, insgesamt sieben Kinder, damit zu ernähren: „Wir waren nie hungrig.“ (S. 134)[i]

© Familienarchiv / Eran Wolkowski

Manna war das zweitälteste von sieben Kindern. Ihr vier Jahre älterer Bruder Salo, der zwei Jahre jüngere Albert, die sechs Jahre jüngere Dora, Paul sowie die Zwillinge David und Julius. Als diese zur Welt kamen, Manna war da gerade in das Jüdische Realgymnasium Jawne (Lissner & Reuter 2008, Kaufhold 2017) eingeschult worden, war die Geburt der Zwillinge für sie ein so bedeutsames Ereignis, dass sie in der Kölner Altstadt herumlief und jedem erzählte: „Wir haben Zwillinge, wir haben Zwillinge!“ (S. 135)

Sie übernahm für ihre kleinen Geschwister Mutterrollen, strickte für diese, handwerklich geschickt, bereits früh Kleidung. Insbesondere David wurde für sie wie ein eigenes Kind. Sie gelangte so früh zu der Überzeugung, dass sie später keine eigenen Kinder haben, sondern ein Kinderheim aufmachen wolle – so erinnert sie sich in den Interviews mit Ludwig-Körner:

„Ich habe immer geplant, keine Kinder zu haben, und zwar aus dem Grund, weil ich gesehen hab´, wie schwer es war. Wir waren eine wunderbare Familie, aber ich sah, wie schwer es war, in Deutschland sieben Kinder mit einem kleinen Verdienst aufzubringen. (…) Da hab´ ich mir gedacht, also, wenn ich mal erwachsen werde, ich werde ein Kinderheim haben. Als Kind hab´ ich mir das immer vorgenommen.“ (S. 136)

Die Familie lebte, sehr beengt, in der Dasselstraße 8. In diesem nahe bei der großen Synagoge an der Roonstraße gelegenen Viertel – zugleich war dies die einzige der ehemals drei großen Kölner Synagogen, neben weiteren Gebetshäusern, die nicht von den Deutschen vollständig zerstört wurde – lebten seinerzeit sehr viele Juden.

1933 hatte die Synagogengemeinde Köln gut 18.000 Mitglieder, mehr als 7000 von ihnen wurden in der Shoah ermordet. Am 29.4.1945 gründeten 50 Shoahüberlebende die neue jüdische Gemeinde in der Roonstraße; 80 Überlebende sollten, trotz aller Ambivalenzen, nach Köln zurückkehren.

Manna Friedmann erinnert sich selbst als ein lernbegieriges Kind. Ihr Schulplatz wurde aus Spenden der jüdischen Gemeinde finanziert. An Schulausflügen vermochte sie sich wegen ihrer Armut oft nicht zu beteiligen. Ihre Lehrerin verstand die Not und vermittelte ihr Hilfen. Eine jüdische Fürsorgerin hingegen behandelte sie in einer herablassenden Weise, was in ihr, so erinnert sie sich in ihren Interviews mit Ludwig-Körner, die Motivation geweckt habe, „später selbst Sozialarbeiterin zu werden.“ (S. 136f.) Mit 16 – 1931 – verließ sie die Schule, wollte Kindergärtnerin werden, was ihre Mutter jedoch ablehnte. Sie bewarb sich für das große, 1900 gegründete jüdische Kinderheim in der Lützowstraße 35-37, nur wenige Hundert Meter von ihrer Wohnung entfernt. 

1931 wurden dort 120 Kinder betreut, für mehr als die Hälfte von ihnen bezahlte die Stadt Köln die Kosten. Manna arbeitete dort heimlich – ohne Wissen ihrer Eltern – im Büro, was sie „schrecklich langeweilte.“ (S. 138)

Sie vermochte in die Babyabteilung des jüdischen Kinderheimes zu wechseln, arbeitete dort zwei Jahre lang, erhielt hierdurch eine professionelle Ausbildung, jedoch keinen offiziellen beruflichen Abschluss.

Auf Empfehlung ihres Schulleiters Erich Klibansky (vgl. Kaufhold 2017) wechselte sie am 27.3.1931 als Kinderbetreuerin in eine berühmte jüdische Familie: In den in der Käsenstraße gelegenen Haushalt von Prof. Bruno Kirsch, einem bekannten Herzspezialisten, der an der Kölner Klinik Lindenburg arbeitete. „Das war eine sehr bekannte und berühmte Familie in Köln“, erinnert sie sich im Alter. (S. 138)

Die Familie hatte zwei Kleinkinder, Charlotte und Rifka. Als 1933 auch noch Arnold hinzu kam, zog sie ganz in die Familie ein. Im Interview mit Ludwig-Körner (2022b) erinnert sie sich in dieser Weise an diese lebensprägende Tätigkeit: „Und dann war ich sooo in diese Familie verliebt und d.h. ergeben. Durch diese Familie kam ich in eine ganz andere Welt hinein. (…) Und da war ich bei denen bis 1938; bis die nach Amerika ausgewandert sind.“ (S. 139)

Kirsch erhielt aus rassistischen Gründen in Köln ein Berufsverbot und durfte anfangs nur noch Privatpatienten empfangen. Manna Friedmann wurde als „Haustochter“ verstanden und innerfamiliär auch so bezeichnet. Auch im Alter erinnert sie sich mit Begeisterung ihrer damaligen pädagogischen Tätigkeit: „Also, ich bin da irgendwie hineingerutscht. Es war gut für eine Zeit, und ich war gefesselt von dieser Familie. Es war eine phantastische Familie. Ich bin mit den Kindern noch heute in Verbindung, die sind jetzt in Israel.“ (S. 140) Die Kirschs bemühten sich um eine Emigration in die USA. Anfangs war geplant, dass Manna mit ihnen emigrieren sollte.

Manna Friedmann verleugnete innerlich, wie Viele, die Gefahr des Nationalsozialismus. 1938 wurden in Köln im Rahmen der sog. „Polenaktion“ mindestens 600 Kölner Juden ab dem Bahnhof Deutz nach Bentschen/Zbaszyn in Polen verschleppt. Auch Mannas Eltern, die seinerzeit in der innerstädtischen Fleischmengergasse 41 lebten, sowie ihre Geschwister Albert, Paul, Julius und David mussten sich am 28.10.1938 zur Deportation am Kölner Hauptbahnhof einfinden. Die Szene der Trennung und Verschleppung hat sie im Interview in dichter Weise beschrieben (S. 143-146).

Antisemitismus sei sie als Kind gewohnt gewesen, dieser habe sie irgendwann nicht mehr sonderlich erschreckt, betont Manna Friedmann: „Wir waren das gewöhnt. Wir waren gewöhnt, wenn wir nach Hause gingen.“ (S. 144) Der Besuch der jüdischen Schule habe ihr Interesse für ein Leben in Palästina geweckt:

„Und ich bin weiter immer sehr interessiert geblieben, an dem Jüdischen, was uns sozusagen an der Überlieferung, was das Judentum bedeutet. Und da wir schon auch mehr als die deutschen Staatsbürger jüdischen Glaubens waren. So haben wir, die etwas außerhalb waren, viel mehr Antisemitismus abbekommen als die Deutschen. Die haben ihn manchmal gar nicht gesehen. (…) und da ging man vorbei, und da riefen die Kinder (sie singt) „Jüd, jüd, jüd – schepp, schepp, schepp – steck die Nase in den Wasserschepp. Wenn der Jüd gestorben ist, kommt er in die Eierkist.“ Das hat man uns zugesungen, und wir haben dann am Nachmittag zusammen gespielt mit diesen Kindern. (…)

Wir fühlten uns immer etwas mehr als Gäste hier. Es hat uns sehr gut gefallen, und es ging uns gut, an und für sich. Aber da war ein Unterschied. So dass diese Jugend, in der ich heranwuchs, auch durch das Lernen der jüdischen Schriften (…) und der Sehnsucht nach Palästina oder nach dem jüdischen Staat, irgendwie angefeuert wurde. Ja, also wir gehörten alle der zionistischen Bewegung an. Natürlich, das war sehr gut, denn da fühlten wir, wir haben ein Ziel. Das werden wir eines Tages erlangen. Und wenn man so ein Ideal hat, so ist das sehr, sehr gut im Heranwachsen. So dass es immer unsere Absicht war, wenn man einwandern kann nach Palästina, dann gehen wir dort hin. Da werden wir erwünscht sein.“ (S. 144f.)

Ihre Eltern hingegen, die sich als Kölner verstanden und weiter verstehen wollten, waren sehr gegen zionistische Bewegungen. Sie wollten, dass auch ihre eigenen Kinder weiter in Köln bleiben sollten, auch noch Mitte der 1930er Jahre: „Die waren keine Zionisten, wir Kinder waren Zionisten. Und als wir davon sprachen, dass wir nach Israel, damals war es noch Palästina, gehen möchten, also, das war ein Gewein´ und ein Gejammere, so dass wir das nicht getan haben.“ (S. 145)

Manna erhielt ab 1938 weiterhin einige Briefe ihrer nach Polen verschleppten Familie; einmal konnte ein Foto der Eltern mit ihren Kindern mitgeschickt werden. Der letzte Brief datierte wohl aus dem Jahr 1942. 1940 verstarb ihr Vater im Lager an einer Krankheit. Die Ermordung ihrer Familie blieb Manna weitgehend verborgen, sie erfuhr nur Gerüchte, nichts Gesichertes, keine Unterlagen:
„Ich habe keine Ahnung, wo die überhaupt umgekommen sind. Aber dass sie nicht rausgekommen sind, wissen wir. Sie waren nicht unter den Überlebenden. Es sind ja einige aus diesem Warschauer Getto noch herausgekommen.“ (S. 146) (Vgl. Kaufhold (2021) über vergessene jüdische Heldinnen des Widerstandes)

Die Schwere ihres Schocks über das Wissen ihrer Ermordung, das doch nie ein gesichertes Wissen wurde, spiegelt sich in Ludwig-Körners Interviews mit Manna Fraiedmann aus den Jahren 1996 – 2000 wieder. Sie erinnert sich besagten letzten Fotos ihrer Mutter Auguste (Gusta) Weindling und ihrer Familie:

„Und das war natürlich ein sehr trauriges Bild mit diesen Kindern. Und wie wir dann hörten, dass sie nicht mehr am Leben sind, wir wissen noch nicht mal, wo sie umgekommen sind – ich glaube in Warschau. Die wurden nachher nach Warschau verschickt. Da hab ich das Bild zerrissen. Ich dachte, wenn die nicht mehr leben, ich kann das Bild nicht mehr ansehen. Da hab´ ich gesagt, dann brauch ich auch kein Bild mehr. Das Bild ist da drin (zeigt auf ihr Herz), anyway. Aber heute tut es mir leid, denn in allen Museen und so weiter sucht man dauernd. Und das war ein Bild dieser drei Brüder mit der Mutter. Fabelhafte Menschen. Die Jüngsten waren damals 15, 17 und 19. Und das war ein wunderbarer Brief. Und das war der letzte Brief.“ (S. 145)

Gesichertes über die Ermordung ihrer Familie durch die Deutschen in Polen erfuhr sie nie. Viele ihrer Freundinnen, darunter auch die von in London ihr betreute Judith Sherman – eine KZ-Überlebende – , litten unter schweren Schuldgefühlen. Manna Friedmann verneint solche Schuldgefühle in sich selbst (vgl. hierzu vertiefend die eindrücklichen Bettelheim-Studien von David James Fisher (Los Angeles) (Fisher 2003)).

Die Überlebenden: Salo und Dora

Der älterer Bruder Salo hatte in Köln Philologie studiert und wollte im benachbarten Bonn seine Promotion einreichen. Sein Hochschullehrer unterbreitete ihm, dass ihm das als Juden nicht mehr erlaubt sei. Über ein Refugee-Committee wurde ihm eine Stelle in England angeboten. Salo emigrierte, gerade noch rechtzeitig. Dessen weitere Entwicklung in England und dann in den USA wird in Ludwig-Körners Buch nachgezeichnet. 

Mit ihm, ihrem älteren Bruder, der überlebt hatte, vermochte Manna nie über die gemeinsamen und doch individuellen Verluste zu sprechen. Im Rückblick vermutet sie, dass dessen eigenen Schuldgefühle über die Ermordung seiner Familie zu stark, die Verluste zu schmerzhaft gewesen waren:

„Ich weiß, es ist für ihn so schmerzhaft, und deshalb frag ich ihn nicht. (-) Nein (-), ich war jetzt wieder in Amerika, und ich hab ihn nicht gefragt. Ich hab´meine Schwägerin gefragt, ob er vielleicht mal mit ihr darüber gesprochen hat. Die sind jetzt schon sechzig Jahre verheiratet, also das ist eine alte Bindung. Und die sagte: „Nein“. Und auch sie weiß nicht, was mit ihren Eltern passiert ist, und sie fragt mich: „Willst Du denn das wissen?“ (…) Also, ich hab´ ihn nicht gefragt. Das Einzige, was ich gemacht habe (-) Ich war in Israel und hab´ ihm das noch nicht einmal erzählt, und hab´ in dem Holocaust-Museum Yad Vashem alle die Namen angegeben.“ (S. 146f.)

Erst 1999, kurz vor dem Tode ihres Bruders Salo, erhielt die inzwischen 84-jährige Manna Friedmann weitere Briefe ihrer Familie, in denen die Tragik ihrer Familie und insbesondere ihres Bruders, dessen Schuldgefühle, für die einzig und allein die Deutschen die Verantwortung tragen, zum Ausdruck kamen.

Ansonsten war einzig ihrer Schwester Dora die Emigration nach Palästina gelungen; dort gab diese sich den Namen Devora. Zuvor hatte sie sich vermutlich in Hachschara-Siedlungen (vgl. Kaufhold 2022a) in Deutschland auf ein Leben in einem Kibbuz in Palästina vorbereitet. Ihr Vater empfand dies als Bedrohung und versuchte ihr das zu untersagen.

England 1939: Anna Freud

Manna verließ Köln im Juli 1939. Sie gelangte über Antwerpen nach London, wo sie ferne Verwandte hatte. Die mehr zufällige Entscheidung, das „jüdische“ Antwerpen doch zu verlassen um weiter nach London zu emigrieren, erwies sich als lebensrettend. Sie lebte zwei Jahre bei diesen Verwandten und vermochte in London ihre Ausbildung zur Kindergärtnerin abzuschließen. Ihren tiefen Wunsch, nach Israel zu emigrieren – „Ich wollte immer nach Israel“ (S. 155) – verschob sie innerlich erst einmal.

1945 las Friedmann in einer Zeitung, dass im Rahmen der Kindertransporte (Reuter 2021, Kaufhold 2011 , Kaufhold 2013, Kaufhold 2018 , Kaufhold 2020) Volontäre für die Betreuung dieser überlebenden Kinder gesucht würden. Initiatorin dieses Projektes war Anna Freud. Manna Friedmanns Interesse wurde geweckt, ohne jeden Zweifel auf Grundlage ihrer eigenen biografischen Erlebnisse. Sie lernte Anna Freud kennen, ein Jahr später begann sie mit ihrer pädagogischen Arbeit als Mitarbeiterin Anna Freuds:

„Ich glaube, es waren meine glücklichsten Jahre. Das war etwas ganz Besonderes. (…) Und wir hatten diese Kinder, die rehabilitiert werden mussten und die man so glücklich machen konnte, weil sie doch nichts gewöhnt waren. (…) Und das war die herrlichste Arbeit, weil sie eben so dankerfüllend waren.“ (S. 156)

Die Verbindungen zu ihren eigenen traumatischen Erlebnissen zeigt sich in ihren in der Studie wiedergegebenen Interviews immer wieder, etwa wenn sie betont: „… und arbeitete mit den Kindern, mit den Überlebenden. Und das war für mich wie eine Therapie natürlich, denn ich wusste, dass meine Geschwister nicht mehr da waren.“ (S. 159) Dennoch und parallel hierzu sehnte sie sich nach Israel.

Manna Friedmanns pädagogisches Engagement im direkten Umfeld Anna Freuds wird in der Studie im Detail dargeboten, angereichert durch therapeutische Reflektionen. Weiterhin wird ihr Freundschaftsgeflecht zu weiteren, im Buch portraitierten Mitarbeiterinnen Anna Freuds kenntnisreich entfaltet. Über all diese Biografien gab es bisher im deutschsprachigen Raum noch nahezu keinerlei Publikationen, so dass die detailreiche Lektüre des Buches nicht nur für kinderanalytisch Interessierte von großem Gewinn ist.

1949 trennte sich Manna Friedmann, unter Schmerzen, von ihrer pädagogischen Tätigkeit mit Überlebenden in London und siedelte 34-jährig nach Israel über. Ludwig-Körner bemerkt zu dieser weiteren Zäsur in Friedmanns Biografie zutreffend:
„Der Abschied von den Kindern fiel ihr schwer, aber es zog sie nach Israel zu ihrer Schwester, wo sie dann erfuhr, wie schwer krank diese schon war.“ (S. 164)

1949 –1955: Israel

Mit 34 Jahren kam Manna Friedmann nach Israel. Sechs Jahre sollte sie im jungen Staat Israel leben. Sie arbeitete dort als Kindergärtnerin und studierte parallel hierzu Social Work. Ihre 28-jährige Schwester Dora, die auf „illegalem“ Wege nach Palästina gelang war, starb kurz nach ihrer Ankunft an Krebs. Sie hatte zwei kleine Kinder, um die sich Manna in deren Kibbuz kümmerte (… „denn sie bat mich, die Kinder nicht zu verlassen“, S. 167).

Auch ihre Zeit in Israel wird im Buch ausführlich beschrieben (S. 166-178). Sie wurde auch durch ihre Liebe zu dem in England lebenden Oskar Friedmann, den sie später heiraten sollte, geprägt: Oskar Friedmann hatte als Lehrer und Sozialarbeiter in Düsseldorf gearbeitet, baute ab 1932 ein jüdisches Erziehungsheim in Wolzig, Brandenburg, auf, überlebte KZ-Haft in Sachsenhausen, machte nach seiner Freilassung 1933 bei Ada Müller-Braunschweig eine Psychoanalyse und übernahm 1934 die Leitung des Reichenheim´schen Waisenhauses in Berlin. 1938 brachte er eine große Gruppe jüdischer Kinder nach England, wo er denn blieb und mit zahlreichen jüdischen Kindern arbeitete. Am British Psycho-Analytic Institute machte er eine Ausbildung zum Psychoanalytiker. 1955 verließ Manna Friedmann wieder Israel und kehrte nach London zurück, wo sie ein Jahr später Oskar Friedmann heiratete. 1958 verstarb dieser unerwartet an ihrem zweiten Hochzeitstag.

Manna Friedmann erhielt die Nachricht, dass sie verfolgungsbedingt eine kleine Rente aus Deutschland erhalten sollte. Sie begann ihre Arbeit an Anna Freuds Hampstead-Kindergarten, was im Buch (S. 178-191) gleichfalls detailreich beschrieben wird.

„Ich muss jetzt aufhören, ich hab´ keine Geduld mehr für diese Kinder“

Mit 63 Jahren beendete sie altersbedingt ihre Tätigkeit in Anna Freuds Kindergarten. Mit 60 hatte sie der 20 Jahre älteren Anna Freud geschrieben: „Ich muss jetzt aufhören, ich hab´ keine Geduld mehr für diese Kinder.“ (S. 191) Anna Freud bat sie, noch etwas länger weiterzuarbeiten. Nach ihrer Pensionierung entwickelte sie weitere Leidenschaften, spielte Klavier, verfeinerte ihre Hebräischkenntnisse, deren Anfänge noch in ihre Jugendzeit an ihrer jüdischen Jawne-Schule in Köln zurückreichten.

Über Anneliese Schnurmann, mit der Manna Friedmann eng befreundet war, lernte sie auch deren Großnichte, Claudia Schnurmann, Professorin für Geschichte an der Universität Hamburg kennen, wenn sie wieder einmal für ihre Forschungen in Londoner Archiven recherchierte. Mit ihr sang sie dann Kölner Karnevalslieder, etwa die von Willi Ostermann (Heimweh nach Köln – „Ich möchte zu Fuss nach Kölle jon“). Anfang der 1990er Jahre besuchten sie gemeinsam Köln. Manna liebte Kölnisch Wasser und freute sich, wenn die Autorin dieses bei ihren Interviews mitbrachte. Auch den Kontakt zu der inzwischen sehr betagten Anna Freud pflegte Manna intensiv und besuchte diese häufig in deren Wohnung.

Auch im hohen Alter besuchte sie noch die Kinder ihrer Schwester in Israel. Zahlreiche Fotos, auch hiervon, sind im lesenswerten Buch eingearbeitet.

Manna im hohen Alter, © C. Ludwig-Körner

Im Jahr 2000 übersiedelte sie 85-jährig in die USA, in die Nähe von Pennsylvania. Dort lebte die Tochter ihres Bruders. Am 16.11.2013 verstarb Manna Friedmann im Alter von 98 Jahren in den USA.

Christiane Ludwig-Körner: Und sie fanden eine Heimat. Leben und Wirken der Mitarbeiterinnen von Anna Freud in den Kriegskinderheimen. Stuttgart-Bad Cannstatt: Problemata frommann-holzboog 2022, BESTELLEN?

LESEPROBE

Bild oben: Manna Friedmann in England, © Familienarchiv / Eran Wolkowski

[i] Alle Zitate in dieser Studie stammen, sofern sie nicht anderweiter gekennzeichnet sind, aus Ludwig-Kölner (2022b).

Literatur

Bettelheim, B. (1977): Die Geburt des Selbst. The Empty Fortress. Erfolgreiche Therapie autistischer Kinder. Frankfurt/M.: Fischer.

Freud, A. & A. Aichhorn (2012): „Die Psychoanalyse kann nur dort gedeihen, wo Freiheit der Gedanken herrscht“ Briefwechsel 1921-1949. Hrsg.: Thomas Aichhorn: Brandes &Apsel.

Freud, A. & D. Burlingham (1971): Heimatlose KinderZur Anwendung psychoanalytischen Wissens auf die Kindererziehung. Frankfurt am Main: Fischer-TB Verlag (1982).

Fisher, D. J. (2003): Psychoanalytische Kulturkritik und die Seele des Menschen. Essays über Bruno Bettelheim, unter Mitarbeit von Roland Kaufhold et. al. Gießen: Psychosozial-Verlag. http://www.suesske.de/buch_fisher.htm

Freud, A. (1987): Die Schriften der Anna Freud. Ausgabe in 10 Bänden. Frankfurt am Main: Fischer-Verlag.

Freud, A. (1994): Anna Freud, Briefe an Eva Rosenfeld. Hrsg. Peter Heller. Basel / Frankfurt am Main: Stroemfeld Verlag.

Kaufhold, R. (Hg., 1993): Pioniere der Psychoanalytischen Pädagogik: Bruno Bettelheim, Rudolf Ekstein, Ernst Federn und Siegfried Bernfeld, psychosozial Nr. 53 (1/1993). https://www.hagalil.com/2010/08/pioniere/

Kaufhold, R. (2001): Bettelheim, Ekstein, Federn. Impulse für die psychoanalytisch-pädagogischer Bewegung. Mit einem Vorwort von Ernst Federn. Gießen: Psychosozial Verlag.https://www.psychosozial-verlag.de/catalog/product_info.php/products_id/1069

Kaufhold, R. (2003): „Wo wäre die Psychoanalyse in Wien heut“? Spurensuche zur Geschichte der in die USA emigrierten Wiener Psychoanalytischen Pädagogen, in: „Zur Geschichte der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung I, 1938-1949“, Hg. Thomas Aichhorn, Luzifer-Amor (Heft 31, 16. Jg., S. 37-69); sowie in überarbeiteter Version auf haGalil 9/2020: https://www.hagalil.com/2020/09/psychoanalyse-2/

Kaufhold, R. & H. J. Wirth (2006):  Der Weg ins Exil: Vor 70 Jahren emigrierte Sigmund Freud nach London. In: Tribüne. Zeitschrift zum Verständnis des Judentums, 44. Jahrgang, Nr. 177 (Heft 1/2006), S. 158-171. https://www.hagalil.com/archiv/2008/11/freud.htm

Kaufhold, R. (2011): Kindertransporte aus NRW, haGalil, 10.10.2011: https://www.hagalil.com/2011/10/kindertransporte/

Kaufhold, R. (2017): Der Retter vom Volksgarten. Gymnasialdirektor Erich Klibansky bewahrte viele seiner Schüler vor der Vernichtung. Jetzt wurde an ihn erinnert, Jüdische Allgemeine, 24.7.2017: https://www.juedische-allgemeine.de/gemeinden/der-retter-vom-volksgarten/; längere Version: haGalil 7/2017:  https://www.hagalil.com/2017/07/klibansky/

Kaufhold, R. (2021): „Schwestern, Vergeltung!“ Eine literarische Erinnerung an vergessene jüdischen Heldinnen des Widerstandes. In: haGalil, 3.8.2021 https://www.hagalil.com/2021/08/judy-batalion/

Kaufhold, R. & G. Hristeva (2021): „Das Leben ist aus. Abrechnung halten!“. Eine Erinnerung an vertriebene Psychoanalytiker unter besonderer Berücksichtigung von Wilhelm Reichs epochemachenden Faschismus-Analysen. In: Psychoanalyse im Widerspruch, H. 66/2021 (Gießen: Psychosozial Verlag), S. 7 – 66. Siehe auch: https://www.belltower.news/erinnerungskultur-die-langsame-aufarbeitung-der-ns-vergangenheit-in-der-psychoanalyse-130867/

Kaufhold, R. (2022a): „Mich erfüllte ein Gefühl von Stolz. Ich hatte es geschafft.“ Peter Finkelgruen: Ein halbes Jahrhundert Leben als Jude in Deutschland. Books on Demand (BoD)  ISBN-13: 9783756819201https://www.bod.de/buchshop/mich-erfuellte-ein-gefuehl-von-stolz-ich-hatte-es-geschafft-dr-roland-kaufhold-9783756819201

Kaufhold, R. (2022b): „Staatsfeindliche Tätigkeit durch Erziehung von Kindern in jüdisch-marxistischem Sinne…“ Eine Wiederentdeckung von vergessenen Berliner Psychoanalytikerinnen. haGalil, 30.8.2022: https://www.hagalil.com/2022/08/psychoanalytikerinnen-in-berlin/

Lissner, C. & U. Reuter (2008): „Andererseits komme ich Anfang nächster Woche nicht ohne Hoffnungen auf Verlegung meiner Schule nach Cambridge zurück”. Der Versuch, die Kölner Jawne nach England zu transferieren, in: Arbeitskreis der NS-Gedenkstätten NRW (Hg.), Gewalt in der Region – Der Novemberpogrom 1938 in Rheinland und Westfalen, Düsseldorf, S. 86–91.

Ludwig-Körner, C. (2014): Wiederentdeckt. Psychoanalytikerinnen in Berlin: Gießen: Psychosozial Verlag.

Ludwig-Körner, C. (2022a): Und sie fanden eine Heimat. Leben und Wirken der Mitarbeiterinnen von Anna Freud in den Kriegskinderheimen. Stuttgart-Bad Cannstatt: Problemata frommann-holzboog.

Ludwig-Körner, C. (2022b): Manna Friedmann – Als Überlebende das Überleben anderer sichern, in; Ludwig-Körner (2022a),  S. 133-209.

Reuter, U. (2021): Kindertransporte 1938/39. Großbritannien und Belgien als Aufnahmeländer jüdischer Kinder und Jugendlicher aus dem nationalsozialistischen „Großdeutschen Reich“ in: Ulrike Schader, Christine Hartung (Hg.): Tora und Textilien. Jüdisches Leben in Wuppertal. Die Begegnungsstätte Alte Synagoge Wuppertal und ihre Ausstellung, Düsseldorf: Droste, S. 254-264.

Young-Bruehl, E. (1988): Anna Freud. New York. (deutsch) Anna Freud. Wiener Frauenverlag (1995).