„Das Ziel der Verschickung ist das Nichts“

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In Köln ist es eine gute Tradition. Regelmäßig wird im rheinischen Köln, Sitz der größten armenischen Gemeinde der Bundesrepublik, an einem zentralen Ort an den türkischen Völkermord an den Armeniern im Jahr 1915 gedacht. Auch am 106ten Jahrestag fanden sich zahlreiche Menschen am Rheinufer vor dem Reiterdenkmal Wilhelm II. am Heinrich Böll Platz, am Fuße der Philharmonie gelegen, ein, um in angemessener Weise an den Genozid zu erinnern…

Von Roland Kaufhold

Vor genau sechs Jahren, anlässlich des 100.ten Jahrestages des Genozids, hatten zahlreiche Menschen und Prominente aus Köln – hierunter Dogan Akhanli und Peter Finkelgruen – auf Einladung des Kölner Rechtsanwaltes Ilias Uyar und der armenischen Gemeinde der Verbrechen gedacht. Immerhin: Das „Warten auf die Anerkennung“ (jungle world 30.4.2015) ist nicht ganz vergeblich geblieben: Im Juni 2016 erkannte der Deutsche Bundestag, gegen den massiven Protest der Türkei sowie der hiesigen erdogantreuen türkischen Leugnerszene, den Völkermord an. Der damalige Bundestagspräsident Norbert Lammert trat Einschüchterungsversuchen in seiner Rede energisch entgegen: Man werde diese Geschichtsleugnung „nicht hinnehmen“ und sich „nicht einschüchtern lassen“. Er betonte, der Bundestag könne unbequemen Fragen nicht aus dem Weg gehen, erst Recht dann nicht, wenn das Deutsche Reich selbst Mitschuld auf sich geladen habe. Lammert weiter: „Die Türkei ist nicht verantwortlich für das, was vor hundert Jahren geschah. Aber sie ist mitverantwortlich für das, was jetzt und in Zukunft passiert.“ Die Aufarbeitung der Vergangenheit bezeichnete der Bundestagspräsident als “Voraussetzung für Versöhnung und Zusammenarbeit.“

Konkret geschehen ist seitdem eher wenig. Vor genau drei Jahren, im April 2018, hatte Ilias Uyar und die Initiative Völkermord erinnern am gleichen Ort – dem Heinrich Böll Platz – das erste mal das eindrucksvolle armenische Denkmal der Öffentlichkeit vorgestellt. Es wurde von Dogan Akhanli, Peter Finkelgruen und dem Naminia-Aktivisten Israel Kaunatjike enthüllt. Die Initiatoren schickten der Kölner Oberbürgermeisterin Reker noch am gleichen Tag die Schenkungsurkunde. Vergeblich: Eine Woche später wurde das Denkmal von der Stadt Köln abtransportiert, die Erinnerung erneut zerstört: https://www.hagalil.com/2018/04/gedenken-armenischer-voelkermord/ Anfang 2021 etwa wurde Pinar Cetin von der deutschen Islam Akademie trotz ihrer geschichtsrevisionistischen Leugnerreden vom Berliner Senat für ihre „interkulturelle Arbeit“ ausgezeichnet. Nach Protesten gab sie den Preis zurück. Man darf gespannt sein, ob den formalen Distanzierungen von den Völkermord leugnenden Positionen endlich eine sprachlich eindeutige Anerkennung des Genozids folgt. Die armenische Seite, betonten Ilias Uyar und Vertreter der Initiative Anerkennung Jetzt immer wieder, sei zu einem Gespräch und zu einer Aussöhnung bereit – wenn der Genozid eindeutig anerkannt wird.

„Dieser Schmerz betrifft uns alle“

Am 24. April legten zahlreiche Armenier und weitere Kölner am Fuße des bronzenen, pyramidenförmigen Mahnmals Blumen nieder. An dessen Spitze steht ein Granatapfel, der die Verletzung durch die Leugnung des Völkermordes symbolisiert. Weiterhin findet sich dort der dreisprachige Aufruf „Dieser Schmerz betrifft uns alle“. 

Das eindrückliche Mahnmal war vor drei Jahren am gleichen Ort in Anwesenheit des in Köln lebenden Schriftstellers Dogan Akhanli symbolisch eingeweiht worden: „„Ich werde zur Erinnerung an den Völkermord an den Armeniern ein Gedicht mitbringen“, hatte Dogan Akhanli, seit Jahrzehnte eng mit Ilias Uyar verbunden, vor drei Jahren angekündigt. Das literarische Werk erwies sich als wuchtig: Es war das bronzene Mahnmal

In Köln scheint man solche Mahnmäler, insbesondere wenn sie an den türkischen Völkermord erinnern, eher nicht zu mögen: Eine Woche später wurde das Mahnmal von der Stadt Köln vom geschichtsträchtigen Ort wieder entfernt – und hat bis heute in Köln keinen festen, öffentlichen Ort gefunden.

Bischof Isakhanyan: Zur Versöhnung ausgestreckte Hand

Bei der eindrücklichen, von Musik untermalten Gedenkveranstaltung am 24.4.2021 sprach der Primas der Armenischen Kirche in Deutschland, Bischof Serovpe Isakhanyan. Mehrfach betonte er seine Versöhnungsbereitschaft, seine Bereitschaft zu einem auf Verständigung und Konfliktlösung gerichteten Dialog mit türkischen Vertretern – unter der Voraussetzung, dass der sorgfältig vorbereitete und durchgeführte türkische Völkermord des Jahres 2015 endlich anerkannt wird. An dem Fürbittengebet für die 1915 Ermordeten wirkte Pfarrer Gnel Gabrielyan mit.

Die Publizistin Judith Kessler (2015), hieran sei erinnert, spricht in ihrer eindrücklichen historischen Rekonstruktion von „Wandernden Konzentrationslagern“. Der Kölner Schriftsteller Ralph Giordano sel. A., der als erster jüdischer Publizist bereits in den 1980er Jahren immer wieder über den Genozid an den Armeniern geschrieben und eine WDR-Filmdokumentation hierzu veröffentlicht hat, was ihm zahlreiche Morddrohungen einbrachte (Kaufhold 2015), spricht von „Menschheitsverbrechen“.

Die Ansprache von Ilias Uyar

Ilias Uyar schlug in seiner Ansprache eine Brücke zu den sorgfältig vorbereiteten Verbrechen an den Armeniern: Vor genau 106 Jahren wurden in Konstantinopel, dem heutigen Istanbul – also der Partnerstadt von Köln – „Hunderte von Intellektuellen verhaftet.“ Die armenische Elite sollte ausgeschaltet werden, um den Plan zur Vernichtung der Armenier „leichter umsetzen“ zu können. Armenier wurden „auf mörderischen Fußmärschen in die Wüste getrieben“. Hunderttausende starben bei den Vertreibungen durch Hunger und Krankheiten, die Überlebenden wurden „in den Konzentrationslagern der syrischen Wüste systematisch ermordet.“

Kaiser Wilhelm II. – dessen Reiterbild steht seit Jahrzehnten an besagtem Heinrich Böll Platz – hatte die Bagdad-Bahn gebaut, mit denen die Verzweifelten in Viehwagons deportiert wurden.

„Das Ziel der Verschickung ist das Nichts“, verkündete Innenminister Talaat Pascha im Februar 1919 freimütig. Es war der erste geplante Völkermord, unter den Augen der Weltöffentlichkeit, mit Wissen und Unterstützung des Deutschen Reiches. „Die Todgeweihten“, erinnerte der armenische Rechtsanwalt Ilias Uyar, mussten „für ihre eigene Deportation mit der Bagdadbahn eine Fahrkarte kaufen.“

„Für uns Nachfahren der Überlebenden“ ist heute, so Uyar, „ein Tag der Trauer, des Gedenkens, des Schmerzes. Die Wunden dieses Menschheitsverbrechens bluten immer noch. Wir blicken an diesem Tage der Erinnerung in einen Abgrund der Barbarei, des Hasses und der systematischen und rassistischen Vernichtung der Armenier in der osmanischen Türkei.“

Erdogan inszeniere bis heute nationalistische Szenen, die sich unmittelbar auf die über 100 Jahre alten Vernichtungsphantasien und- pläne beziehen. So gelobte dieser im Juni 2020 bei seiner Vorbereitung des Krieges gegen Berg-Karabach, die „nationale Pflicht seiner türkischen Vorfahren in Kaukasus“ zu erfüllen. Der Kampf gegen die Leugnung des Völkermordes bleibe eine zentrale politische und erinnerungspolitische Aufgabe zur Verhinderung weiterer Verbrechen. In Anlehnung an den israelischen Psychoanalytiker Zvi Rix betonte Uyar, es sei „ein furchtbarer Gedanke“, aber die „Enkel der Täter haben uns nicht verziehen, dass unsere Großeltern den Völkermord von 1915 überlebt haben.“ Die Erkenntnisse einer Theorie des Antisemitismus lassen sich unzweifelhaft auf die bis heute anhaltende türkische Leugnerpolitik übertragen, wie u.a. der Soziologe und Kibbuz-Forscher Gunnar Heinsohn[i] dargelegt hat.

Kaiser Wilhelm II. war nicht nur Kriegsverbündeter des osmanischen Reiches, er entsandte auch deutsche Offiziere in die Türkei. Diese waren unmittelbar an der organisatorischen Umsetzung des Genozides involviert. Selbst nach dem Abschluss des Völkermordes, dem 1,5 Millionen Armenier zum Opfer fielen, hielt das deutsche Kaiserreich weiterhin „seine schützende Hand über die verantwortlichen Völkermörder Talaat, Enver und Cemal Pascha“, so Uyar.

Der „Völkermörder Talaat“ wurde in einem Ehrengrab in Istanbul beigesetzt. Bis heute sind unzählige türkische Schulen und Plätze nach ihm benannt. Von historischer Aufarbeitung sei weiterhin nichts erkennbar. Uyar warnte deshalb davor, dass das jährliche Erinnern am 24.4. teilweise zu einem Ritual geworden sei, zu einer inhaltsleeren, „unpolitischen Veranstaltung“, eine „zur Schau gestellte Betroffenheit“.

Schweigen über den Völkermord, die fortdauernde Verhinderung auch in Köln, für das eindrucksvolle armenische Denkmal endlich einen festen Platz im öffentlichen Gedächtnis Kölns zu finden – wie das bereits vor drei Jahren nachdrücklich gefordert wurde – ermutige die Geschichtsfälscher, mit ihrem Verleugnerprozess fortzufahren.

Es ist also eine wirkliche, auch konkretes Handeln mit einschließende Erinnerungspolitik, die Schaffung eines „transnationalen Gedächtnisraumes“ gefordert , wie ihn Dogan Akhanli 2014 konzeptualisiert hat.

Eine nur verbale Erinnerung an den Genozid an den Armeniern sei zum Scheitern verurteilt: „Ich warne ausdrücklich vor einer solchen Verflachung des Gedenkens, auch deshalb, weil genau das gerade droht,“ mahnte Uyar.

Die Armenienresolution des deutschen Bundestages sei inzwischen in den Schubladen verschwunden, Politiker wie Cem Özdemir – den man sich als deutschen Außenminister wünschen sollte – bleiben weiterhin konkret bedroht, wenn sie in Berlin z.B. ein Taxi benutzen wollten.

Es sei zutiefst besorgniserregend, dass ausgerechnet nationalistische türkische Verbände, die „aktiv und zum Teil äußerst aggressiv gegen die Anerkennung des Völkermordes an den Armeniern agiert haben“, weiterhin Ansprechpartner von Politik und Kirchen seien. „Viele von ihnen gelten weiterhin als Experten für Rassismus.“

Abschließend hob Ilias Uyar hervor: „Das Herz von Köln ist groß genug, um neben den Mahnmalen, die um uns herum errichtet worden sind, auch diesem Mahnmal einen dauerhaften Platz zu geben.“

So wie es in der Inschrift des Mahnmals lautet: „Dieser Schmerz betrifft uns alle.“

Immerhin, es besteht Hoffnung. Mittlerweile hat der amerikanische Präsident Jo Biden mitgeteilt, dass die USA den Völkermord an den Armeniern nun offiziell anerkennen.

Alle Fotos: R. Kaufhold

Mehr unter: https://voelkermord-erinnern.de/

[i] Vgl. Gunnar Heinsohn (1994): Bruno Bettelheims Mütter und Kinder des Kibbutz. In: Kaufhold (Hg.) (1994): Annäherung an Bruno Bettelheim, Mainz, S. 175–183. https://www.hagalil.com/2010/03/bettelheim-studie/