„Jede Armenische Familie hat zumindest einen Verwandten, der Opfer des türkischen Völkermordes von 1915 geworden ist.“ oder aber: „Wir sind die Generation der Nachfahren, die den Völkermord noch aus Erzählungen kennen, Zeitzeugen sind zumeist schon tot“…
Ein Interview von Uri D. mit dem deutsch-armenischen Rechtsanwalt Ilias Uyar anlässlich des 100. Jahrestages des Völkermordes an den Armeniern
Ilias Uyar, Sie leben in Köln. Köln hat die größte armenische Gemeinde in der Bundesrepublik. Wie groß ist Ihre Gemeinde? Wie würden Sie den Alltag, die Gemeinsamkeiten innerhalb der armenischen Community beschreiben?
Die Armenische Gemeinschaft in Deutschland lebt in keiner Parallelgesellschaft, sondern ist integriert. Mein Eindruck ist, dass die überwiegende Mehrheit hier sich nicht als „Ausländer“ versteht, sondern als Teil dieser Gesellschaft. Als ich einmal von einem Politiker gefragt wurde, ob wir auch Deutschunterricht in den Gemeinden anbieten, sagte ich: „Nein – nicht notwendig! Es sprechen alle schon deutsch“. Das hatte ihn verwundert, weil er das ansonsten von Migrantengruppen nicht so gewohnt war.
Die armenischen Traditionen, die armenische Sprache, Religion, Geschichte und Kultur kann man auch als integrierter Bürger Deutschlands pflegen. Es ist ein wichtiges Fundament für die Gemeinschaft und diese Traditionen, Erfahrungen und Werte sollten auch Ihren Platz in der deutschen Gesellschaft finden. Also mein Alltag unterscheidet sich nicht sonderlich, vom Alltag meiner Freunde. Wir befinden uns zur Zeit in der Fastenzeit und leben bis Ostern vegan, das ist vielleicht etwas Besonderes. Vor zwei Wochen haben wir das Vartananz-Fest begangen. Wir denken an den Kampf unserer Ahnen nach Freiheit und Unabhängigkeit vom Joch des Perserreichs auf dem Schlachtfeld von Awarajr im Jahre 451 n. Chr. Es war ebenso ein Kampf für die Bewahrung des christlichen Glaubens. Die Armenier sind ein altes Kulturvolk und haben Traditionen, die weit zurückreichen, aber heute noch lebendig sind. Wie das Gedenken an die das Vartananzfest von 451 n. Chr.
Im April jährt sich der 100. Jahrestag des Völkermordes an den Armeniern durch das Osmanische Reich. Gemeinsam mit vielen türkischen und deutschen Freunden haben Sie immer wieder an diesen Völkermord erinnert. Wie hat sich der Völkermord in Ihrer eigenen Familien und in der Familie von Kölner Freunden ausgewirkt?
Jede armenische Familie, möchte ich behaupten, hat zumindest einen Verwandten, der Opfer des türkischen Völkermordes von 1915 geworden ist. Wir sind die Generation der Nachfahren, die den Völkermord noch aus Erzählungen kennen, Zeitzeugen sind zumeist schon tot.
Meine Großeltern sind die Kinder von Überlebenden des Völkermordes an den Armeniern. Wir sind eine alte Familie aus Adiyaman. Während des Völkermordes wurde die gesamte Familie meines Großvaters ausgelöscht, bis auf seinen Vater Dzerun und seine beiden Tanten, die ihn unter ihren Röcken versteckt hielten, während der Todesmärsche. Nur diese drei haben überlebt. Die Mutter meiner Oma Hripsime wurde von Kurden geraubt. Später konnte sie von den Kurden befreit werden und wurde mit meinem Urgroßvater verheiratet, der viel älter war. An Ihre Eltern konnte sich meine Urgroßmutter Hripsime nur vage erinnern, aber die Geschehnisse des Völkermordes waren immer präsent. Ihre Erzählungen sind wichtig für meine Familie. Sie haben nicht geschwiegen, sondern haben viel erzählt. Und diese Ereignisse wurden von meinen Großeltern an meinen Bruder und mich weitergegeben.
Als die Deportation meiner Familie aus Adiyaman begann, verwahrten sie ihre Töpfe bei den türkischen Nachbarn, da sie glaubten, irrig glaubten, bald heim kommen zu können. Sie wussten nicht, dass sie nur noch der Tod erwartete.
Eines Tages, Jahre später, kommen diese drei ausgemergelten Seelen tatsächlich zurück. Sie hatten die Barbarei, den Völkermord, die Deportationszüge überstanden, Hunger, Seuchen getrotzt und wie durch ein Wunder das Konzentrationslager der mesopotamischen Wüste überlebt. Als mein Urgoßvater als Kind mit seinen beiden Tanten zurück in Adiyaman an der Tür der türkischen Nachbarn klopfte, war das erste was sie hörten: „Dahe gebermediniz mi?“ – „Seid ihr noch nicht verreckt?!“
Auch heute, wenn meine Oma diese Geschichte erzählt, weint sie, zittert sie vor dieser Barbarei. Diese Stimmung der Türken gegenüber unserer Familie und den übrigen armenischen Familien hat auch dafür gesorgt, dass heute in Adiyaman fast keine Armenier mehr leben. Meine Familie ist dann Ende der 1950er Jahre nach Iskenderun gezogen, in das historische Kilikien. Meine Eltern mussten Iskenderun kurz vor dem Militärputsch 1980 verlassen. Wir haben Zuflucht in Deutschland gefunden. Wir wurden in Deutschland als politische Verfolgte anerkannt und haben Asyl bekommen. Das ist unsere Geschichte, viele Armenier können von solchen Erzählungen berichten. Der Völkermord ist nichts Vergangenes, es ist präsent und schmerzt weiterhin. Schlimmer noch: Die Leugnungspolitik der Türkei macht eine Aussöhnung unmöglich.
Der armenisch-türkische Journalist Hrant Dink wurde vor acht Jahren von einem jungen türkischen Rechtsextremisten ermordet. „Ich habe den Ungläubigen erschossen“ teilte dieser daraufhin erfreut mit. Im Januar haben Sie gemeinsam mit einer Gruppe junger Armenier in Köln und in sechs weiteren Städten an diesen Mord erinnert. Hrant Dink verkörperte die Bereitschaft türkischer Intellektueller, die brutalen Verbrechen in der eigenen Geschichte anzuerkennen. Wer trägt die Verantwortung für die Ermordung Hrant Dinks?
Ich bin überzeugt davon: Es war der türkische Staat. Hrant Dinks entwaffnende Art, sein Mut scheinen viele Kräfte im Staatsapparat verunsichert zu haben. Er wurde nach und nach zur Zielscheibe erklärt. Angefangen hatte dies mit seinem Artikel über Sabiha Gökcen, die Adoptivtochter Atatürks, die in Wahrheit eine Armenierin war und ihre Eltern während des Völkermordes verlor. Das war der Beginn des Endes.
Seit seiner Ermordung kämpft seine Familie um Aufklärung und Gerechtigkeit. Bis auf einige nationalistische Schwerverbrecher, die den Mord unmittelbar ausgeübt haben, sind die Hintermänner immer noch nicht gefasst. Auch die Ermittlungen werden immer noch aktiv behindert. Mir hat sich ein Bild ins Gedächtnis eingebrannt. Kurz nach der Festnahme posierten Polizisten gemeinsam mit dem Mörder; dabei halten sie voller Stolz eine türkische Flagge. Das Signal ist eindeutig: Die Polizei macht sich mit dem Mörder gemein. Das ist nicht nur bei der Polizei so. Auch im Staatsapparat gibt es viele die so denken, und dementsprechend laufen die Ermittlungen nach den Hintermännern.
Nach der Ermordung Hrant Dinks haben über 100.000 Menschen in Istanbul an einem Trauermarsch teilgenommen: „Wir sind alle Hrant Dink“ war die Hauptlosung. Haben Sie noch Hoffnung auf eine Veränderung in der Türkei; auf eine Bereitschaft, den Völkermord endlich als historisches Faktum anzuerkennen?
Hrant Dink hat sich stark für die Aufarbeitung eingesetzt, er war die Stimme der armenischen Minderheit in der Türkei und all der Türken, die vor der Wahrheit nicht mehr die Augen verschlossen haben. Hrant Dink ist nicht nur für die Anerkennung des Völkermordes eingetreten, er hat auch gegen die Diskriminierung der Armenier und anderer Minderheiten in der heutigen Türkei gekämpft. Das war gefährlich, und deswegen wurde er ermordet.
Ich habe Hoffnung auf die Zivilgesellschaft in der Türkei. Sie sind es auch, die Jahr für Jahr zu Tausenden auf die Straßen gehen, am Todestag von Hrant Dink. Der türkische Staat betreibt eine Leugnungspolitik seit seiner Gründung. Die geistige Nabelschnur zwischen den Jungtürken und der modernen türkischen Republik ist nicht durchtrennt. Nach den Hauptverantwortlichen des Völkermordes sind in der Türkei heute noch Schulen, Straßen und Plätze benannt.
Und diese Leugnungspolitik ist nicht auf die Türkei beschränkt, sondern wird auch im Ausland betrieben. Von offiziellen türkischen Stellen, aber auch türkische Vereine und Verbände haben sich diese Leugnungspolitik zu eigenen gemacht. Auch in Deutschland. Oder haben Sie mitbekommen, dass ein türkischer Verband sich der Verantwortung gestellt hätte und vom Völkermord an den Armeniern spricht? Eher das Gegenteil ist der Fall. Immer da, wo der Völkermord an den Armeniern Thema ist, können dich Veranstalter sich auf Proteste der Konsule und örtlicher türkischer Vereine einstellen. Hierfür gibt es unzählige Beispiele.
Diese Leugnung wird nicht von einigen Irren betrieben, sondern sie ist staatliche Politik der Türkei. Und dies erfordert von den demokratischen Kräften und Staaten eine klare politische Positionierung. Und die kann nur Anerkennung des Genozides an den Armeniern lauten.
Dass die Türkei keinen Schritt auf die eigene Geschichte zugehen wird, sondern dass der Völkermord weiterhin ein staatliches Tabu bleiben wird, zeigt doch die Terminierung der Feierlichkeiten um Galipoli. Ankara hat bewusst die Feierlichkeiten auf den 24. April 2015 gelegt. Der 24. April 1915 gilt als Beginn des türkischen Völkermordes an den Armeniern. Man versucht mit allen Mitteln das Gedenken an den Völkermord zu torpediert. Seit neuestem lese ich, dass der türkische Staatspräsident wieder eine Historikerkommission fordert. Das ist auch ein alter Hut, immer zu „runden“ Gedenkjahren kommen türkische Offizielle auf diese Idee.
Im Februar 2003 legte das renommierte International Center for Transnational Justice (ICTJ) ein Gutachten vor, in dem die Juristen zu dem Ergebnis kommen, dass die Vernichtung der Armenier in der osmanischen Türkei den Tatbestand eines Völkermordes im Sinne der UN-Völkermordkonvention erfüllt.
Die anhaltende Leugnung der armenischen Vernichtung veranlasste 1998 international renommierte Intellektuelle – 50 Jahre nach Verkündung der UN-Völkermordkonvention – zu folgender Erklärung: „Es ist bedeutsam daran zu erinnern, dass das Europäische Parlament, die Vereinigung der Genozidforscher, das Holocaust und Genozid Institut von Jerusalem und das Institut für Genozidforschung in New York festgestellt haben, dass die Vernichtung der Armenier durch die Türkische Regierung einen Genozid gemäß der Definition der 1948 verabschiedeten Un-Völkermordkonvention darstellt.
Weiter erklären sie: „Leugner des Genozids wollen Geschichte umschreiben, sie wollen die Opfer dämonisieren und die Täter rehabilitieren.” Bis heute – auch 100 Jahre nach dem Völkermord – entspricht dies der türkischen Politik.
Sie sind ein enger Freund des Kölner Schriftstellers und Menschenrechtlers Dogan Akhanli. Sie waren auch einer seiner drei Rechtsanwälte, als Dogan 2010 aus politischen Gründen von der türkischen Justiz festgehalten wurde. In diesem Kontext sind wir beide uns auch verschiedentlich begegnet. Als Hauptgrund für Dogan Akhanlis willkürliche Festnahme gilt sein alle Ethnien überschreitendes Engagement für die Menschenrechte, für Begegnungen sowie insbesondere für die Anerkennung des Völkermordes an den Armeniern. Wie sieht Ihre konkrete Zusammenarbeit aus?
Dogan habe ich schon als Jura-Student kennengelernt, vor vielen Jahren. Ich hörte, dass ein türkischer Autor ein Buch zum Völkermord an den Armeniern geschrieben hatte. Einige Zeit später rief ich ihn an und er schickte mir sein Buch „Die Richter des Jüngsten Gerichts„. So begann unsere Freundschaft.
Dogan Akhanli hat in den letzten Jahrzehnten wirklich viel für die Aussöhnung getan und das Miteinander gefördert. So hat er gemeinsam mit dem schweizerisch-jüdischen Regisseur Ron Rosenberg ein eindrückliches Theaterstück über die Verleugnung einer armenischen Familiengeschichte, über das innerfamiliäre Schweigen verfasst und aufgeführt: „Annes Schweigen“.
Dogan ist auch ein sehr guter Ratgeber. Er war einer der wenigen Eingeweihten, die von meiner Idee wussten, auch in Köln – der Partnerstadt Istanbuls – , im Herzen der Stadt, vor dem Kölner Dom, an die Genozidopfer zu gedenken. Am 24. April 1915 wurden in Istanbul hunderte armenische Intellektuelle verhaftet und später ermordet, das gilt als Auftakt des Völkermordes. Seit Jahren wird am Taksim-Platz an diese Menschen erinnert. Als Kölner haben wir es als wichtig erachtet, diese positive Tradition aus Istanbul zu übernehmen, auch mit dem Gedanken der Solidarität der Menschen in der Türkei, die sich für die Aussöhnung einsetzten und sich gleichfalls gegen die Leugnung des armenischen Genozides stemmen. Dogan hatte es sich auch nicht nehmen lassen, eine Führung für die Teilnehmer des Armenischen Jugendkongresses durch das EL-DE Haus zu leiten.
In diesem Jahr laufen noch die Vorbereitungen, auf dem einen oder anderen Podium werden wir sicherlich gemeinsam sitzen. Eine Veranstaltung wird in zwei Wochen in Neuwied stattfinden.
Der kürzlich verstorbene Kölner Journalist und Schriftsteller Ralph Giordano gehörte zu den wenigen prominenten deutschen Autoren, die in Fernsehdokumentationen und in Aufsätzen immer wieder an diesen ersten Völkermord in der Menschheitsgeschichte erinnert hat. Er erhielt deshalb zahlreiche Morddrohungen. Giordano sah dies Erinnern als Jude und als Überlebender als seine existentielle Verpflichtung an. Haben Sie Ralph Giordano persönlich gekannt?
Ja, das erste Mal bin ich ihm vor fast 25 Jahren im Belgischen Haus in Köln anlässlich eines Gedenkabends begegnet. Ich war sofort Feuer und Flamme für diesen wortstarken, streitbaren und beharrlichen Menschen. Seine Art zu sprechen imponierte mir sehr. Da war ich noch ein Jugendlicher. Später habe ich ihn dann persönlich kennengelernt. Er war bei vielen Gedenkveranstaltungen als Redner zu Gast. Seine Fernsehdokumentation „Die armenische Frage existiert nicht mehr – Tragödie eines Volkes“, 1986 in der ARD ausgestrahlt, hat zum ersten Mal einer breiten Öffentlichkeit den Völkermord an den Armeniern zugänglich gemacht. Ralph Giordano hat sich auch unermüdlich dafür eingesetzt, dass offen vom Völkermord an den Armeniern gesprochen wird. Er wurde mit dem Kulturorden „Surp Sahak-Mesrop“ der Armenischen Kirche für seine Verdienste ausgezeichnet. „Ich bin der jüdische Sohn des Armenischen Volkes“, so hatte er es einmal sehr treffend formuliert. Und Recht hat er!
Welche konkreten Veranstaltungen sind in der nächsten Zeit geplant, um an den 100. Jahrestag des Völkermordes an den Armeniern zu erinnern?
Es gibt viele Veranstaltungen, die im Gedenkjahr geplant sind. Wer sich über die Veranstaltungen informieren möchte, ist auf den Seiten genozid1915.de und anerkennung-jetzt.de gut aufgehoben. Unter der letzten Seite kann man auch einen Brief an seinen Bundestagsabgeordneten online versenden. Es ist wichtig, dass sich die Bundesregierung endlich in dieser wichtigen Thematik bewegt!
Der Genozid ist ein Fakt, das weiß auch die politische Klasse in Deutschland. Sie nimmt jedoch Rücksicht auf den einstigen Bündnispartner Türkei. Wenn man sich das genau betrachtet, gibt es eine makabere Kontinuität in der Völkermord-Frage des deutschen Kaiserreiches und der bundesrepublikanischen Politik heute: Verschweigen, Vergessen.
Damit werden auch die eigenen Erfahrungen um den schwierigen Prozess des Aussöhnens konterkariert. Könnte man sich ein Deutschland im Herzen Europas, friedlich und in guten Beziehungen zu den Nachbarstaaten stehend, vorstellen, wenn sich das Nachkriegsdeutschland nicht seiner historischen Verantwortung gestellt hätte? Wenn es nicht ein klares Bekenntnis abgegeben hätte, dass im deutschen Namen ein Völkermord verübt worden ist?
Was sind Ihre konkreten politischen Forderungen an die bundesdeutschen Politiker und an die Regierung?
Eine politische Leugnung des Völkermordes bedarf einer politischen Antwort. Es ist überfällig, dass der Genozid am armenischen Volk endlich anerkannt wird. Die Antwort der Bundesregierung aktuell auf eine kleine Anfrage ist eine Farce.
Im 100. Gedenkjahr argumentiert die Bundesregierung, der Genozid an den Armeniern können nicht als Völkermord anerkannt werden weil die UN-Völkermord-Konvention später in Kraft getreten sein. Mit dem Argument haben sie den Holocaust-Leugnern eine amtliche Begründung gegeben, denn die Shoa liegt auch vor in Kraft treten der Konvention. Wer sich mit der Entstehungsgeschichte der UN-Völkermord-Konvention auskennt, und sich mit der Person Raphael Lemkin beschäftigt, auf den die Konvention zurückgeht, weiß, wie abstrus eine solche Begründung ist. Als Deutscher Staatsbürger sage ich aber auch: Der Genozid an meinen Vorfahren ist kein Türkisch-Armenisches Ereignis. Es ist auch ein Teil der Deutschen Geschichte, die ein klares Bekenntnis erfordert. Im übrigen ist es auch nichts Außergewöhnliches, wenn im Bundestag an einen Genozid gedacht wird.
Und, dies möchte ich noch hinzufügen, da ich den polnisch-jüdischen Historiker Raphael Lemkin (1900-1959) erwähnt habe: Raphael Lemkin war ein Pionier der Holocaustforschung. Er saß beim Talaat-Pascha-Prozess in Berlin 1921 im Zuschauerraum des Gerichts und ist wahrscheinlich dort erstmals mit dem Genozid an den Armeniern in Berührung gekommen. Er gehörte zu den ersten Juristen, die sich auch für die Anerkennung des Völkermordes an den Armeniern eingesetzt haben. Er starb 1959 völlig verarmt und vergessen in einem schäbigen Einzimmerappartement in Manhattan. Es wäre sehr zu wünschen, dass die von Dogan Akhanli privat aufgebaute Raphael Lemkin Bibliothek endlich in eine große öffentliche Institution in Köln integriert wird. Das EL-DE-Haus halte ich für einen überaus geeigneten Ort. Der 100. Jahrestag des Völkermordes an den Armeniern am 24. April wäre ein guter Termin für ihre symbolische Einweihung im Kölner EL-DE-Haus.
Links
“Wir alle sind Hrant Dink”. Kölner Gedenkaktion anlässlich des 8. Gedenktages der Ermordung von Hrant Dink
Wir brauchen einen Erinnerungsaufstand
“Wir brauchen einen transnationalen Gedächtnisraum”
Annes Schweigen
Die Deutschen und der Völkermord an den Armeniern
„… argumentiert die Bundesregierung, der Genozid an den Armeniern können nicht als Völkermord anerkannt werden weil die UN-Völkermord-Konvention später in Kraft getreten sein.“
Das klingt so unglaublich, dass es wahr sein muss. Wie heißt der Verkünder dieser erlesenen Worte?
Antwort von Ilias Uyar:
Der Verkünder der erlesenen Worte ist die Deutsche Bundesregierung:
Die kleine Anfrage der Fraktion „Die Linke“ vom 09.12.2014 (Drucksache 18/3533) beantwortete die Bundesregierung 13.01.2015 (Drucksache 18/3722) unter anderem mit folgender Feststellung:
„Zur völkerrechtlichen Bewertung und zur Frage, ob es sich bei den Ereignissen um einen Völkermord gehandelt habe, verweist die Bundesregierung auf die Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes von 1948, die 1951 in Kraft getreten sei. „Für die Bundesrepublik Deutschland ist sie seit dem 22. Februar 1955 in Kraft. Sie gilt nicht rückwirkend.“
Wenige Tage später, am 21.01.2015, gab der Bundestag eine entsprechende Meldung heraus, hier ein Auszug:
Gedenken an das Leid der Armenier
„…. Die Bundesregierung begrüße alle Initiativen, „die der weiteren Aufarbeitung der geschichtlichen Ereignisse von 1915/1916 dienen“ und sei der Auffassung, dass die Aufarbeitung der Massaker und Vertreibungen in erster Linie Sache der beiden betroffenen Länder Türkei und Armenien ist. „Vor diesem Hintergrund zollt die Bundesregierung sowohl der türkischen als auch der armenischen Seite Respekt für die mutigen Schritte, die sie bereits zur Normalisierung ihrer bilateralen Beziehungen unternommen haben“. Man ermutige beide Seiten regelmäßig, den laufenden Annäherungsprozess, der auch die Bildung einer Historikerkommission einschließe, beharrlich fortzusetzen.
Zur völkerrechtlichen Bewertung und zur Frage, ob es sich bei den Ereignissen um einen Völkermord gehandelt habe, verweist die Bundesregierung auf die Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes von 1948, die 1951 in Kraft getreten sei. „Für die Bundesrepublik Deutschland ist sie seit dem 22. Februar 1955 in Kraft. Sie gilt nicht rückwirkend.“
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