„Wandernde Konzentrationslager“

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Ihre „Umsiedelung“ kostete bis zu 1,5 Millionen Armenier das Leben. Auch 100 Jahre danach ist der Genozid in der Türkei mit Tabus besetzt – und nicht nur dort…

Von Judith Kessler

Soghomon Tehlirian, 1921
Soghomon Tehlirian, 1921

Am 15. März 1921 erschießt der armenische Student Soghomon Tehlirjan auf der Berliner Hardenberg-, Ecke Fasanenstraße (unweit der Stelle, wo der Asylbewerber Kemal Altun Selbstmord beging) den früheren türkischen Großwesir Talaat Pascha – für die einen “der türkische Bismarck“, für die anderen “die Seele der Armenierverfolgungen“. Beim Prozess gegen Tehlirjan legte der Sachverständige Johannes Lepsius dem Gericht Dokumente vor, die klar die Verantwortung der türkischen Regierung und Talaats für die Deportationen und den Massenmord an den osmanischen Armeniern belegen. Überraschend wird der Attentäter (wegen Unzurechnungsfähigkeit) freigesprochen. Die Zuschauer applaudieren minutenlang – unter ihnen: Robert M.W. Kempner, später US-Ankläger im Nürnberger Prozess. An diesem Tag, erinnert er sich, sei zum ersten mal der Grundsatz anerkannt worden, dass ein durch eine Regierung begangener Völkermord durchaus von anderen Staaten bekämpft werden kann, ohne eine unzulässige Einmischung zu sein.

Was das Gericht nicht wusste (oder nicht wissen wollte): der junge Armenier war kein verwirrter Einzeltäter, sondern Mitwirkender der “Operation Nemesis“, die ihr Volk rächen wollte, wie Rolf Hosfeld in seinem gleichnamigen Buch schreibt. Denn obgleich das türkische Parlament 1919 bekannt hatte: die “Gräueltaten an den Armeniern… haben unser Land in ein gigantisches Schlachthaus verwandelt“, das oberste Kriegsgericht von einem “Verbrechen gegen die Menschheit“ sprach und Talaat, den Kriegsminister Enver Pascha und 15 weitere Hauptverbrecher zum Tode verurteilte, wurden nur drei von ihnen hingerichtet. Die anderen hatten sich 1918 mit deutscher Hilfe aus der Türkei abgesetzt. Doch “Nemesis“ spürte sie fast alle auf – in Berlin, Rom, Tbilissi. Fünf der Verbrecher aus dem “Komitee für Einheit und Fortschritt“– die heute allesamt als Helden und Märtyrer gelten – bekamen allerdings unter Mustafa Kemal “Atatürk“ nach der Gründung der Türkischen Republik 1923 wieder Ministerposten. “La question armenienne n’existe pas“, hatte Talaat stolz verkündet, als anderthalb von zwei Millionen Armeniern tot waren. “Die armenische Frage existiert nicht mehr“ galt nun auch für die Erinnerung. Das armenische Leid war so schnell vergessen wie das türkische Schuldbekenntnis von 1919 – und ist es bis heute.

Heute leben nur noch etwa 60.000 Armenier in der Türkei. Wie die Juden haben die Armenier ein eigenes Wort für ihre nationale Katastrophe: ihre “Schoa“ heißt “Aghet“ (oder “yeghern“) – “die Tat des Fremden“, und die ist tabu und nennt sich amtstürkisch “Umsiedlung“ oder “Notwehr“. Ohne Schutz und Hilfe des Deutschen Reiches wäre sie nicht möglich gewesen. Die Deutschen leisteten dem Bündnispartner Militärhilfe, lieferten Waffen, stellten Logistik und Personal zur Verfügung. Allein die deutsche Militärmission in Konstantinopel verfügte über 12.000 Soldaten. Die Regierung in Berlin war bestens über die Massaker informiert, durch ihre Konsulate in allen Provinzen, durch die Fotos des Sanitätsoffiziers Armin T. Wegner, die erschütternden Berichte des Theologen Lepsius (der sogar nach Holland fliehen musste, als er sie drucken und verbreiten ließ) und die zahllosen Appelle von Überlebenden, Krankenschwestern, Diplomaten. Vizekonsul Kuckhoff sieht sich an die Judenverfolgung in Spanien und Portugal erinnert, Generalmajor von Lossow nennt das “Aushungern der Armenier“ eine “neue Form des Massenmords“. Der unbequeme Botschafter Paul Graf Wolff-Metternich appelliert unentwegt an die Regierung, dem Treiben ein Ende zu setzen – und wird abberufen. 1916 läuft auch eine Parlamentsanfrage Karl Liebknechts zur “Ausrottung der türkischen Armenier“ ins Leere. Niemand will so genau wissen, was in der Türkei passiert. Schließlich befindet man sich an der Seite der Türken im Krieg. Diese Allianz ist wichtiger als alle Berichte über Leichenberge, über grausam verstümmelte Menschen, die aneinander gebunden von hohen Felsen in den Euphrat gestürzt werden, über die Blutorgien der Kurdenbanden und Sonderkommandos. Deren Einsatz organisiert ein Deutscher: Colmar Freiherr von der Goltz. Andere Deutsche befehligen Einheiten des türkischen Heeres. Oberstleutnant Boettrich ist für den Tod Tausender Zwangsarbeiter der Bagdadbahn mitverantwortlich, sein Kollege von Schellendorf weist ebenfalls Deportationen an, kritisiert einen deutschen Konsul, weil der Brot an Armenier verteilen lässt und macht die Opfer zu Tätern: Der Armenier sei “wie der Jude,… ein Parasit, der die Gesundheit seines [Aufenthalts-] Landes aufsaugt“ und deshalb gehasst werde.

Ahnte Franz Werfel, was den Juden bevorsteht, als er seinen Roman “Die vierzig Tage von Musa Dagh“ über den Widerstand armenischer Dorfbewohner schrieb, in dem prophetisch von “wandernden Konzentrationslagern“ die Rede ist? Das Buch wird in der NS-Zeit zum Fingerzeig für viele Juden und eine der Hauptlektüren in den Ghettos. In den 1980er-Jahren sind es wieder jüdische Autoren, die den Toten ein Denkmal setzen: Ralph Giordano mit dem Film “Die armenische Frage existiert nicht mehr“, Edgar Hilsenrath mit dem “Märchen vom letzten Gedanken“. Er nennt die Täter “Lehrmeister des Holocaust“, wegen der perfiden Systematik, mit der sie vorgingen und wegen ihrer Vorbildwirkung, denn die Welt hätte damals erlebt, dass die Verbrechen ungesühnt blieben – Hitler 1939: “Wer redet heute noch von der Vernichtung der Armenier?“.

Im Unterschied zur Ermordung der Juden im modernen Industriestaat Deutschland gab es im Osmanischen Reich noch keine technisch perfekte Vernichtungsmaschinerie und Christen konnten ihr Leben zum Teil durch Übertritt zum Islam und Heirat mit Türken retten. Dennoch gibt es viele Parallelen: Wie die Juden in Mitteleuropa waren die Armenier im 19. Jahrhundert anderen Bürgern formal gleichgestellt worden. Wie bei den Juden gesellte sich in dieser Zeit zu ihrer religiösen Ablehnung sukzessiv ein rassistisches Moment und galten die Armenier als “die Juden des Orients“. Hinzu kam sozialer Neid, die fehlende Sanktionierung vorheriger Pogrome (gegen Juden in Osteuropa, gegen Armenier in der Türkei 1895/96, 1909) und eine Propaganda, die einen Gegensatz zwischen staatsloyalen Muslimen und illoyalen christlichen “Schädlingen“ konstruierte und so die “Endlösung“ vorbereitete, wie bei den Juden: Erst Verleumdung (Armenier bereichern sich oder vergiften Lebensmittel) und Ausgrenzung (“Kauft nicht bei Armeniern!“), dann Ausschaltung der Eliten, dann Deportation – “ins Nichts“, in die mesopotamische Wüste. Wer hier nicht verdurstete oder verhungerte wurde erschlagen oder erschossen. Ein Ort nach dem anderen wird “armenierfrei“ (und umbenannt – wie das alte “Zeitun“ in “Süleymanli“). Und wie Deutsche von Juden profitieren die Türken von den Armeniern. All ihr Hab und Gut wird systematisch “umverteilt“ – Geld in Banken beschlagnahmt, Tote nach Gold gefleddert, Häuser ausgeräumt. Die Ausschaltung der unliebsamen Konkurrenz (“wirtschaftlicher Patriotismus“ genannt) endet damit, dass bei Gründung der Türkischen Republik nur noch fünf Prozent der Kaufleute und Gewerbetreibenden Christen sind; vor dem Genozid waren es 80 Prozent. Fast die gesamte christliche Bevölkerung von fünf Millionen Bulgaren, Griechen, arabischen und aramäischen Christen und nun auch Armeniern ist beseitigt. Die Jungtürken haben den ethnisch homogenen Nationalstaat, den sie wollten.

Auch der Begriff “Holocaust“ wurde erstmals im Zusammenhang mit Pogromen gegen Armenier benutzt – von der amerikanischen Missionarin Corinna Shattuck, die 1895 miterlebte, wie in Urfa Armenier in einer Kirche verbrannt wurden. Trotz aller Analogien zur Schoa ist der Genozid an den Armeniern heute nicht im Bewusstsein der Weltöffentlichkeit verankert, unter anderem weil sich, anders als in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg, in Kleinasien nach dem ersten Krieg und dem ersten Völkermord des 20. Jahrhunderts die alliierte Ordnung der Sieger nicht durchsetzen konnte. Dennoch: Das Europa-Parlament und zwei Dutzend Staaten, darunter Frankreich, Russland, Italien, Kanada, haben den Genozid inzwischen offiziell verurteilt und als Völkermord benannt. Deutschland nicht, Israel nicht.

Wie hochsensibel das Thema noch immer ist, zeigte der wütende türkische Protest, als sich Brandenburg 2005 als einziges Bundesland herausnahm, den Völkermord in den Geschichtslehrplan aufzunehmen, wenn auch nur als winzigen Klammersatz. Im selben Jahr debattierte der Bundestag zum 90. Jahrestag der Ereignisse nach langem Hickhack erstmals vorsichtig die deutsche Mitschuld und eine Entschließung, mit der die Türkei aufgefordert werden soll, sich ihrer historischen Verantwortung zu stellen. Zwar wurde der Antrag nach einem Kanzlerbesuch verabschiedet, von “Völkermord“ ist darin jedoch keine Rede, und fünf Jahre später war die Bundesregierung (auf eine Kleine Anfrage der LINKEN hin) noch immer der Meinung, die Bewertung der Ereignisse solle der Wissenschaft vorbehalten bleiben und die Aufarbeitung sei zuallererst Sache der betroffenen Länder Armenien und Türkei.

Den Nato-Partner und die deutsch-türkischen Wähler will niemand zu sehr brüskieren – Erinnerungskultur hin, Erinnerungskultur her. Die Türkei protestiert bei jedem Vorstoß vorsorglich. Meist hat sie damit auch Erfolg. Als im Jahr 2000 der US-Kongress die Ereignisse von 1915 als Völkermord einstufen wollte, drohten die Türken mit der Sperrung der Luftwaffenbasis Inçirlik für die USA; als 2007 der Auswärtige Ausschuss des Repräsentantenhauses einer Resolution zustimmte, nach der die Verfolgung und Vertreibung der Armenier als ”Völkermord“ eingestuft werden soll, wehrten sich Präsident Bush und das US-Außenministerium und die Türkei berief ihren Botschafter zeitweise zurück (Barack Obama forderte zwar 2011 von der Türkei eine Anerkennung der Massaker, vermied aber ebenfalls den Begriff Völkermord).

Ähnlich in Israel: Als im Jahr 2000 auf Initiative Yossi Sarids der Genozid in den israelischen Schulunterricht einfließen sollte und in einer Broschüre des Außenministeriums das Wort “Massenmord“ auftauchte, kam es zu einer Staatskrise mit der Türkei. Seitdem hat sich nicht viel geändert, wenngleich u.a. der heutige Staatspräsident Reuven Rivlin schon seit 1989 (damals als Parlamentspräsident) versucht, das Thema immer wieder auf die politische Agenda zu setzen.

Die türkischen Archive sind weiter dicht, die Einbeziehung des Themas bei internationalen Genozid-Konferenzen wird verhindert, Abweichler werden bedroht (oder gar ermordet wie 2007 in Istanbul der armenischstämmige Journalist und Verleger Hrant Dink), und kein Wort des Bedauerns für die Opfer. Die türkische Gesellschaft scheint noch nicht reif für die Realität, auch die hierzulande nicht – für den Vorsitzenden des Rats türkischer Staatsbürger in Deutschland, Yasar Bilgin, ist der Völkermord nach wie vor “nichts weiter als eine Lüge“; das türkische Vorgehen war legitime Notwehr gegen armenische Übergriffe, heißt es.

Es sind Künstler und Geistesschaffende, die dem „Tunnelblick“ entgegenwirken und den Massenmord an ihren ehemaligen Landsleuten und das Schweigen darüber thematisieren – wie der in Köln lebende Autor Doğan Akhanlı mit dem Roman „Die Richter des Jüngsten Gerichts“ und dem Theaterstück „Annes Schweigen“ oder wie der Hamburger Regisseur Fatih Akin mit seinem Spielfilm „The Cut“.

2 Kommentare

  1. An erster Stelle ein Dank an die Redaktion von haGalil für die breite Berichterstattung zum 100. Jahrestags des Völkermordes an den Armeniern. Weiterhin zu danken ist Madlen Vartian, Judith Kessler und Roland Kaufhold für ihre profunden Beiträge und natürlich auch posthum dem unvergessenen Ralph Giordano.

    Ein besonderer Dank auch dafür, dass ein kritischer Blick auf das sich in dieser Frage sich merkwürdig zurückhaltende Israel geworfen wird. Bei allem Verständnis für die schwierige Lage Israels ist dieses Verhalten dennoch überaus kritikwürdig. Eine Zurückhaltung ist absolut nicht angebracht und bringt dem Land mittel- und langfristig keine Vorteile sondern schwächt lediglich dessen eigene Glaubwürdigkeit. Zum Glück gibt es in Israel auch Politiker wie der jetzige Staatspräsident Reuven Rivlin, der sich um diplomatische Gepflogenheiten wenig schert.

    Ein Blick auf die EU mitsamt ihrer Außenbeauftragten Mogherini fehlt leider. Von diesen Gestalten ist in solchen Fragen wie auch in ähnlich gelagerten Fällen nichts zu erwarten. (Beim nächsten Gaza-„Konflikt“ laufen sie dafür wieder zur Hochform auf.)

    Ein großer, wünschenswerter Erfolg wäre es, wenn durch die aktuellen Ereignisse auch in der Türkei die Leugner des Genozides ins Hintertreffen geraten und die türkische Gesellschaft endlich die Verantwortung für ihrer Geschichte übernimmt statt immer nur dasselbe jämmerliche Bild abzugeben: Ein lähmendes Wegducken und Verleugnen der eigenen Untaten.

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