Ein Menschheitsverbrechen

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Den vorliegende Beitrag über den Völkermord an den Armeniern verfasste Ralph Giordano vor exakt 5 Jahren für die Tribüne. 1986 erstellte er die erste deutsche Fernsehdokumentation zum Thema. Er erhielt daraufhin zahlreiche Todesdrohungen, ließ sich jedoch niemals davon abhalten, immer wieder über das Thema zu schreiben. Giordanos leidenschaftliches Engagement für die Anerkennung des Völkermordes wird in einem anderen Beitrag nachgezeichnet…

Von Ralph Giordano
Erschienen in: Tribüne, Zeitschrift zum Verständnis des Judentums, 194/2010

Am 24. April 1915 werden in Konstantinopel, Hauptstadt des türkisch-osmanischen Reiches, über Nacht Lehrer, Ärzte, Journalisten, Abgeordnete, Bankiers verhaftet – sämtlich Armenier, eine Elite der christlichen Minderheit, 235 Personen. Eine Zahl, die schnell auf das Zehnfache anschwillt und danach nahezu spurlos verschwindet – Auftakt zu einem bis dahin beispiellosen Menschheitsverbrechen.

Zur Historie: Nach schweren Pogromen schon in den Jahren 1894, 1896 und 1909 mit Zig-Tausenden von Toten, holt das jungtürkische Dreigestirn Enver Pascha, Kriegsminister, Dschemal Pascha, Marineminister, und Talast Bey, Innenminister, zum finalen Schlag gegen die seit je missliebige Minorität aus. An der Seite des Deutschen Kaiserreichs in den Ersten Weltkrieg gegen Russland, England und Frankreich eingetreten, werden die Maßnahmen gegen die Armenier begründet mit »Abwehr drohenden Verrats« und »Hilfe für den Feind« – ein Vorwand, um die Tötungsmaschinerie in Gang zu setzen: die Deportation eines ganzen Volkes.

Der Befehl dazu ergeht am 27. Mai 1915. Er setzt in Ost- und Mittelanatolien, in der Schwarzmeer-Region und in Kilikien, danach auch im Westen des Reiches auf einen Schlag Hunderttausende Armenier beiderlei Geschlechts und jeden Alters in Bewegung – eine Völkertragödie von bis dahin einmaligem Ausmaß. Vorher waren bereits Tausende und Abertausende von armenischen Soldaten aus der Armee entlassen und unter offenem Himmel umgebracht worden. In unübersehbaren Kolonnen werden die Entheimateten mit meist nicht mehr als den Kleidern auf ihrem Leib über unwegsame Gebirge und reißende Flüsse den Wüsten Syriens und Mesopotamiens zugetrieben – wo jedoch nur ein kleiner Teil von ihnen eintreffen wird. Die anderen werden unterwegs überfallen von Gendarmen, Militärs, professionellen Räubern, Kurden und von ausdrücklich zu diesem Zweck freigelassenen Sträflingen. Die menschliche Phantasie reicht nicht aus, sich die Schreckensbilder vorzustellen, die nun zwischen Trapezunt und Aleppo abrollen und die sich zwischen Waffenlosen und Schwerbewaffneten zutragen. Massenexekutionen und Einzelmorde Kilometer um Kilometer, Tod durch Pfählen, Abhäuten und Verbrennen bei lebendigem Leibe, notorische Schändungen von Frauen und Mädchen, Verschleppung in Harems, Versklavung in muslimischen Haushalten und Kinderraub.

Man muss sich das vorstellen: Aufbruch von heute auf morgen, oft nur mit Stundenfrist – ohne jede Vorbereitung, eine kollektive Order. Unterwegs Mangel, Mangel an allem: an Nahrung und Wasser, Unterkünften, Transportmitteln und medizinischer Versorgung. Das ist der Zustand, in dem die schutzlosen und entkräfteten Deportierten den Attacken staatlicher und nichtstaatlicher Verbände ausgeliefert sind. Zur Ehre der muslimischen Bevölkerung muss aber gesagt werden, dass es auch Versuche gab zu helfen – mit Lebensmitteln, Früchten und Wasser, Beispiele einer entsetzten Anteilnahme, die schweren Strafandrohungen ausgesetzt war und sich dennoch nicht abschrecken ließ. Die Regel war diese Haltung in einer Atmosphäre hysterischer Tötungsbereitschaft allerdings nicht, doch gerade deshalb darf sie nicht unerwähnt bleiben.

Die größten Verluste erlitt die Bevölkerung aus den Kerngebieten des östlichen Anatolien, Verbrechen, die auf immer verbunden bleiben werden mit Namen wie Van, Erserum, Bitlis, Diarbekir und der Euphrat-Schlucht von Kemal Bog, einem Massengrab von jungen Frauen, die sich selbst aneinandergebunden hatten, um so einem noch schlimmeren Schicksal zu entgehen. Der Rest sind die Wüstenlager – für die, die sie überhaupt erreichten, trostlose Zielorte: Horns, Hama, Der-es-sor, Mossul. »Kein Brot – Gift! «, verlangten zu Skeletten Abgemagerte von hilfswilligen Ausländern, die bis zu ihnen vorstoßen konnten. »Kein Brot – Gift!« – lässt sich ein höherer Grat menschlicher Verzweiflung, menschlicher Verlassenheit vorstellen? Dann starben sie. Wenn es denn überhaupt noch eines Beweises für die Vorsätzlichkeit des Völkermordes bedürfte – hier in der Wüste, diesem Zentrum des Nichts im Nirgendwo, ist er erbracht.

Ende 1915 ist die Mehrheit der Armenier getötet. Dazu Talaat Bey, auch »die Seele der Vernichtung« genannt und ihr eigentlicher Organisator: »La question armenien n’existe plus« – »Die armenische Frage existiert nicht mehr.«

Davon von heute auf morgen nichts mehr

Seither schweigen Landschaften, die über biblische Zeitläufte voll waren von armenischen Lauten und Stimmen, klingt von dort kein Ton armenischer Musik mehr herüber, kein Tanz nach den alten Melodien, kein Widerhall von Freunde und kindlicher Lebenslust. Auch wenn alle Gräuel, von der Antike an bis ins Jahr 1915, unter das Elektronenmikroskop der Geschichte gelegt würden – was dort stattfand, war ein Kosmos von Gewalt, für den es damals noch gar keinen Namen gab: »Völkermord«!

Den leugnet die Türkei, vehement und seit 95 Jahren.

Aber nicht nur das – sie kehrt den Spieß auch um und behauptet, es habe sehr wohl einen Völkermord gegeben – nur von Armeniern an Türken. So verkündet es ein steinernes Denkmal an der Grenze zu Armenien, mit der Kulisse des Ararats auf türkischem Boden. Offiziell, und mühselig genug abgerungen, wird von »tragischen Ereignissen« gesprochen, im besten Fall von einem »gegenseitigen Massaker«, beides Umschreibungen, die ein schlechtes Gewissen signalisieren. In der Türkei hat sich eine regelrechte Leugungsindustrie etabliert, eine Staatsphilosophie historischer Selbstentsorgung, eine Verneinungsdoktrin mit der Losung: »Wie kommen wir am billigsten davon?« Zu diesem Zweck soll nun eine »unabhängige Historikerkommission« zusammentreten, an der sich auch Armenier beteiligen sollen.

Mit anderen Worten: Hier wird von ihnen das Infamste gefordert, was ihnen zugemutet werden kann – sich an der Revision ihrer eigenen Geschichte zu beteiligen. Das ist die Absicht der »Kommission«. Nicht, das Leid der Armenier tiefer in das Weltbewusstsein zu pflanzen; nicht, nach fast hundert Jahren der türkischen Lebenslüge abzuschwören, sondern die Nachfahren aufzufordern, den Genozid an Groß- und Urgroßeltern, an Vätern Müttern auf das sprachgeregelte Niveau der türkischen Staatsräson abzubügeln – eine Perversion sondergleichen.

Dem setzen die Armenier überall auf der Welt und in weitgehender Übereinstimmung mit der historischen Wissenschaft ihr Verdikt, ihre Charta entgegen – die lautet: »Die Faktizität des Völkermords an den Armeniern im türkisch-osmanischen Reich braucht nicht erbracht zu werden, sie ist erwiesen.« Und ich fuge an: »So erwiesen wie der Völkermord an den Juden im deutsch besetzten Europa während des Zweiten Weltkrieges.« Das ist meine Bilanz, sechzig Jahre, nachdem Franz Werfels epochales Buch »Die 40 Jahre des Musa Dagh« mich mit der armenischen Sache verbunden hat.

Zu den Mittätern und Mitwissern – der deutsche Bundesgenosse des Osmanischen Reiches wusste alles, alles und jedes. Die Akte Türkei 183, Band 36 bis 46 im Politischen Archiv des Auswärtigen Amtes, liest sich wie ein Protokoll der Vernichtung. Die Deutsche Botschaft in Konstantinopel-Pera unterrichtete die Reichsregierung Tag um Tag, bis in die letzten Einzelheiten: Dass »auf dem Euphrat bei Runkelah und Birodjik 25 Tage lang Leichen vorbeigetrieben sind, alle mit auf dem Rücken gebundenen Händen; daß Gendarmen mit Peitschenhieben Frauen, Kinder und Greise durch die Straßen von Aleppo getrieben haben, und daß bei Ras ul Ain Haufen von erschöpften Armeniern eingetroffen waren, die nur noch wenig Ähnlichkeit mit Menschen gehabt hätten.« Es sind Berichte von Augenzeugen, die niemand lesen kann, ohne Pausen einzulegen, die Augen zu schließen und sich weit weg zu wünschen.

Auch stellt sich immer noch wie von selbst die Frage: »Was wäre geschehen, wenn der überlegene und militärisch präsente deutsche Bundesgenosse eingegriffen hätte? Welche Wendung hätte das Schicksal der Armenier nehmen können, wenn die kaiserliche Regierung gegen den Vernichtungsakt protestiert hätte? Wie General Liman von Sanders es getan hat, Leiter der deutschen Militärrnission im türkisch-osmanischen Reich. Der hatte am 13. November 1916 dem Wali von Smyrna, also dem obersten Verwaltungsbeamten, Waffengewalt angedroht, sollte er dem Befehl von Massenverhaftungen und Deportation nachkommen.

Darauf die Deutsche Botschaft am 17. November nach Berlin: »Armenierverschickungen aus Smyrna haben auf Eingreifen des Marschalls aufgehört. Bericht folgt. Kühlmann.« Was, wenn dieses Beispiel Schule gemacht hätte? Das Thema verbietet Spekulationen, nicht aber die Frage nach der deutschen Mitverantwortung an dem Völkermord. Sie ist überwältigend gewesen.

Wie schlecht das deutsche Gewissen war, dafur gibt es ein historisches Beispiel. Am 15. März 1921 streckt der 24-jährige Armenier Soghomon Tehlirjan in Berlin den 47-jährigen Talaat Bey mit einer Kugel nieder und lässt sich mit den Worten »Ich habe einen Menschen getötet, aber ein Mörder bin ich nicht« widerstandslos festnehmen. Unter den ermordeten Armeniern waren auch Mitglieder seiner Familie gewesen. Tehlirjan kommt in Untersuchungshaft und wird am 2. Juni der Strafkammer 6 des Berliner Landgerichts vorgeführt. Der stenographische Bericht der Verhandlung ist erhalten geblieben – eine Lektüre, deren Inhalt zusammen mit den Zeugenaussagen dem Gericht und der Öffentlichkeit das Blut in den Adern erstarren ließ.

Talaat war nach dem Ende des Ersten Weltkrieges zum Tode verurteilt worden, aus Istanbul geflohen und in der deutschen Hauptstadt mit dem Status eines
politischen Flüchtlings komfortabel untergekommen. Das Urteil wird im Zeichen verdächtiger Hast schon am nächsten Tag, dem 3. Juni 1921, gefällt und verkündet, eine Sensation. Denn auf die Frage des Richters, ob der Angeklagte schuldig sei oder nicht, antwortete laut Protokoll der Obmann der Geschworenen: »Auf Ehre und Gewissen – nichtschuldig« – ein Schock. Aber der Staatsanwalt legte keine Berufung ein. Klarer Rechtsbruch, da der Tötungsvorsatz vom Angeklagten nicht bestritten, sondern ausdrücklich eingestanden worden war. Das Motiv hinter dem raschen Urteil: die tiefe Verstrickung des deutschen Bundesgenossen in die Vernichtung der Armenier – also lieber Gras wachsen lassen über die Hintergründe des Attentats. Wann immer Justitia beide Augen zugekniffen hat – hier geschah es vor aller Augen. Man braucht kein Befurworter von Selbstjustiz zu sein, um sich über Soghomon Tehlirjans Freispruch erleichtert zu fühlen.

Alle deutschen Regierungen haben sich an die Politik der Vertuschung und Verdrängung gehalten – Kaiserreich, Weimarer Republik, »Drittes« Reich und die Bundesrepublik Deutschland – bis zum 22. Februar 2005. An dem Datum wurde dem Bundestag auf Initiative der CDU/CSU-Fraktion die Druckschrift 15/4933 vorgelegt: Darin wird sich rückhaltlos zur deutschen Mitschuld und Mitverantwortung bekannt, auf die Einzelheiten staatlicher Gewalt eingegangen, sich tief vor den Opfern verneigt und die Türkei aufgefordert, endlich ihr Schweigen zu brechen und damit zur Versöhnung beider Völker beizutragen. Ich habe mir bei der Lektüre die Augen gerieben und ihren Inhalt erst gar nicht glauben wollen. Geschah da doch etwas, worauf nach alIem nicht mehr zu hoffen war – der Bruch mit einer der schmählichsten Traditionen deutscher Geschichte des 20. Jahrhunderts. Dazu nun Bilder, die fast zu schön waren, um wahr zu sein: die Drucksache 15/4933 wurde unter parteiübergreifendem Applaus und mit interfraktioneller Einigkeit ohne Gegenstimme angenommen und zur Ratifizierung weitergereicht. Ein großes, kaum fassbares Wunder in der Geschichte des deutschen Parlamentarismus: Das Schicksal der Armenier hatte die Stimmen von Regierung und Opposition geeint!

Das große Schweigen war gebrochen, endlich, nach 90 Jahren. Und doch, bei aller Freude, da fehlte etwas, ein Wort, ein Schlüsselwort: »Völkermord«! Offenbar war es ganz bewusst vermieden worden, so unverblümt sonst auch darin auf die Vernichtung der Armenier eingegangen war. Ganz plötzlich hatte das epochale Ereignis einen schlechten Beigeschmack bekommen. Da war etwas ausgeblieben, ein letzter Durchbruch, der den Armeniern endlich den Eindruck hätte nehmen können, von der internationalen Politik immer nur als bloßer »Störfaktor« wahrgenommen zu werden. Meine Ahnungen aber sollten mich nicht trügen.

Denn was hat sich in den fünf Jahren seither getan, was ist den hohen Werten und hehren Worten der Resolution gefolgt? Ausflüchte, Verzögerungen, Passivität. Mit ihrem Zögern fällt die heutige schwarz-gelbe Bundesregierung weit hinter den damaligen Bundestagsbeschluss zurück. Schon hat das Auswärtige Amt die These von den »tragischen Ereignissen« übernommen, schon ist keine Rede mehr von der Forderung, die Geschichte der Vertreibung und Vernichtung der Armenier zur Aufgabe deutscher Bildungspolitik zu machen; schon gibt Berlin seine Zustimmung zu einer von den Türken eingeforderten sogenannten »unabhängigen Historikerkommission zur Aufklärung der ‚tragischen Ereignisse’«. Diesem vorläufigen Höhepunkt organisierter Geschichtsverschleierung, dieser Provokation aller Armenier, in der Republik wie in der Diaspora, setzen sie ein für allemal wie mit glühenden
Lettern ihre Charta entgegen:

»DER VÖLKERMORD AN DEN ARMENIERN IM ERSTEN WELTKRIEG BRAUCHT SO WENIG HINTERFRAGT ZU WERDEN, WIE DER  VÖLKERMORD AN DEN JUDEN IM DEUTSCH BESETZTEN EUROPA WÄHREND DES ZWEITEN WELTKRIEGES. DIE FAKTIZITÄT BEIDER GENOZIDE IST ZWEIFELSFREI.«

Und ich füge mit der Legitimation meiner Biographie hinzu: »Die sogenannte ‚unabhängige Historikerkommission‘ ist die Fortsetzung der ‚Auschwitz-Lüge‘ mit türkischen Vorzeichen.«

»Gegenseitiges Massaker«, »tragische Ereignisse«? Ich frage: Wo und wann hätten die Armenier im Osmanischen Reich je die administrative Macht gehabt, Millionen von Türken den Befehl zu erteilen, ihre angestammten Wohnsitze innerhalb von Stunden mit unbestimmtem Ziel zu verlassen und so ganze Regionen zu entvölkern? Ich frage: Sind die Opfer der Schreckenslektüre Akte Türkei 183, Band 36 bis 46, Armenier oder Türken? Ist in den Wilajets Bitfis, Erzurum, Van und Sivas die armenische oder die türkische Bevölkerung ausgerottet, auf den organisierten Sklavenmärkten von Peri, Egin und Baiburt entheimatete Armenierinnen oder Türkinnen nach dem Prinzip des höchsten Nutzwertes verkauft worden?

Und weiter: Was ist eine unterwegs auf alle Versorgungsplanungen verzichtende Deportation mit dem Endziel Wüste denn anderes, als ein kalt geplantes Vernichtungsunternehmen, ohne andere Absicht, als zu töten? Hinter den Vorwänden zur Ausrottung der Armenier – »Hilfe für den Feind« und »Abwehr drohenden Verrats« – hat nie etwas anderes gestanden als die Vision der sogenannten »Jungtürken« und ihres Dreigestirns, Enver, Dschemal und Talaat, vom einheitlichen, ausschließlich islamischen und durch die türkische Herrenrasse geprägten Nationalstaat, mit Grenzen tief hinein nach Zentralasien. Ein Drama, das blutig endete in einem realexistierenden Völkerstaat, dessen Führung Minderheiten seit je im Wege waren – und ihr nach wie vor im Wege sind.

Aber trotz der staatlichen »Leugnungsindustrie« mit ihrer »Historikerkommission«: Die Majestät der Wahrheit hat ihre eigenen Gesetze. Und die machen auch vor der Türkei nicht halt. Denn ein Tabu ist der Völkermord auch dort schon lange nicht mehr. Da haben atmosphärische Veränderungen stattgefunden, haben sich Stimmen mit einem neuen Ton gemeldet.

Eine davon kommt von Orhan Pamuk: »Man hat hier eine Millionen Armenier umgebracht, und fast niemand traut sich, das zu erwähnen. Also mache ich es, und dafür hassen sie mich.« Wir wissen, was diese Äußerung nach sich zog: körperliche Angriffe, Polizei»schutz«, Verfahren wegen »Verunglimpfung des Türkentums« nach dem berüchtigten Paragraphen 301. Es dürfte wohl Pamuks Status als Literaturnobelpreisträger sein, der ihn bisher vor Schlimmerem bewahrt hat.

Einen anderen dagegen traf es tödlich – Hrant Dink, ein bekannter armenischer Schriftsteller und Menschenrechtler. Er hatte auf die Frage: »Genozid oder nicht?« die klassische Antwort gegeben: »Vergesst über den Streit um die Definition nicht den Völkermord selbst.« Dafür musste er sterben, am 19. Januar 2007, in Istanbul vor dem Redaktionsgebäude seiner kleinen Zeitung »Agos«. Der Täter war 17, seine Helfer Väter und Großväter. Doch Dinks Beisetzung wurde zur großen Überraschung: Eine unübersehbare Masse folgte dem Toten, es wird von Hunderttausenden gesprochen, einem kilometerlangen Trauerzug. Transparente mit der Aufschrift »Wir sind alle Hrant Dink«, schwarze Tücher, schluchzende Menschen. Bewegend, wie Rakel Dink, die Witwe, mit hoher, brüchiger Stimme dem »geliebten Toten« gegen den Wind des Bosporus einen letzten Gruß sandte.

Der Bann war gebrochen. Gleichzeitig aber wird das große, bleibende Problem sichtbar: die kulturelle, ethnische und demographische Selbstbehauptung der Armenier in der Zerstreuung – das Problem der Diaspora! Sieht ihre Weltkarte doch aus wie ein Flickenteppich, verbreitet über alle Erdteile. Neben Resten in Istanbul und einer unbestimmten, aber begrenzten Zahl von Krypto-Armeniern im mittleren und östlichen Anatolien, leben Armenier: im Vorderen und Mittleren Orient (Irak, Syrien, Libanon, Iran); in Europa, mit Schwerpunkt in Frankreich, aber auch in der Bundesrepublik; in den USA, vornehmlich im Westen; in Lateinamerika, hauptsächlich in Argentinien, und daneben noch mit Mikroziffern in fast hundert weiteren Ländern. Eine identitätserschwerende Situation.

Während die jahrtausendealte jüdische Diaspora unter einem schrecklichen, aber identitätsfördernden Außendruck einer feindlichen Umwelt gestanden hat, sind große Teile der Armenier Christen unter Christen, wenn auch mit eigener Kirche (noch vor der römischen des Kaisers Konstantin), aber ohne das Odium eines lästigen Ausländertwns. Doch gerade das, was den Armeniern ihr Los erleichtert, erschwert ihnen ihr zentrales Problem: die Bewahrung ihrer Identität in einer Diaspora von noch nicht absehbarer Dauer. Die türkische Seite setzt dabei zynisch auf die Karte »Zeit«. Also auf die Erwartung, dass sich die Armenier angesichts ihrer Zerstreuung erst zersetzen und dann auflösen werden und sich »das Problem so von selbst lösen würde,« wie mir gegenüber offen erklärt wurde. Auf diese Weise, ohne Gewalt und Waffen wirkung, soll den Armeniern jenseits der armenischen Republik der Garaus gemacht werden. Nationale Merkmale sollen dahinschmelzen, Typisches und Exemplarisches sanft ausbluten. Ist das der Weg des armenischen Volkes?

Ich wage eine Antwort

Auch auf lange Sicht bange ich nicht um die kulturelle Eigenart, den politischen Zusammenhalt und die demographische Existenz der Armenier. In den langen Jahrzehnten, in denen ich die armenische Sache zur meiner gemacht habe, bin ich immer wieder Zeuge geworden, wie zäh sich armenische Existenz in der Fremde behauptet hat, wie tief sie sitzt, auch in der vierten Generation. Ich habe gespürt, wie wahr es ist, was mir damals in Paris, 1986, bei den Dreharbeiten fur meinen Film über den Völkermord an den Armeniern, die armenische Historikerin Anahid Ter Minasian sagte: Dass die Armenier ein altes Volk seien, das seine jetzige Gestalt aus einer Kette unzähliger Geschlechter bezogen hat, und dass darin eine eingeborene Widerstandsenergie gegen die türkische Hoffnung auf die auflösende Kraft der zerrinnenden Zeit besteht. Ich habe immer wieder gespürt, wie schwer es fremdem Einfluss fallt, den Fels armenischen Ursprungs abzuwittern, armenische Originalität von außen abzutragen. Es war übrigens die Stunde, in der Anahid Ter Minasian das  wunderbare, mir unvergessliche Wort vom »armenischen Volk, diesem kleinen Fetzen Menschheit« fand.

Ohne in die Nähe eines selbstbetrügerischen Optimismus zu rücken, darf gesagt werden, dass Anpassung und Einschmelzung bisher ausgeblieben sind, ja, dass die Entwicklung eher in die entgegengesetzte Richtung weist, in bewusster Selbstbehauptung, wachem Stolz auf Vergangenheit und Gegenwart und striktem Widerstand zur verbissenen türkischen Verneinung.

Abschließend noch ein Wort zum Dreieck» Türkei – Europa – Genozid«. Wann hört Brüssel, wann hört die Europäische Union endlich auf, die Türkei zu belügen? Zu belügen, indem sie ihr auch weiterhin die Fata Morgana, das Trugbild einer Vollmitgliedschaft vorgaukelt. Jeder weiß, dass schon das Nein eines einzigen der bisher 27 Mitglieder sie verhindern kann, aber auch, dass es weit mehr ablehnende Stimmen sein werden. Was soll also diese zähe Täuschung, dieser Eiertanz wider besseres Wissen? Die Türkei – Land mit europäischem Rand, aber asiatischen Wurzeln; mit einer ungestüm wachsenden Bevölkerung; das Zypern- und Kurdenproblem; permanenten Menschrechtsdefiziten; dem ständigen Reformstau – all das und mehr würde die ohnehin schwer gebeutelte EU hoffnungslos überfordern. Doch zu welchen Ergebnissen man auch immer kommen mag, ob Vollmitgliedschaft, »privilegierte Partnerschaft « oder ein drittes Modell – eines muss die Türkei wissen: Der Weg dahin kann nur durch das Nadelöhr der Anerkennung des Völkermords an den Armeniern gehen. Ein anderer fuhrt nicht dahin.

Wir danken dem Tribüne-Verlag, Herrn Otto R. Romberg herzlich für die Nachdruckrechte. Aktuelle Beiträge der Tribüne finden sich online auf: http://www.tribuene-verlag.de/aktuell.html. Einen TRIBÜNE-Nachruf auf Ralph Giordano findet sich hier: Streitbar und umstritten Zum Tod von Ralph Giordano.