Tödliche Ignoranz

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Viele Ultraorthodoxe in Israel weigern sich immer noch beharrlich, den Quarantäne-Anordnungen anlässlich der Coronavirus-Krise Folge zu leisten. Das rächt sich nun bitter. Warum ausgerechnet einer ihrer politischen Vertreter in der neuen Regierung erneut Gesundheitsminister wird, ist schwer zu vermitteln…

Von Ralf Balke

Der Virus wütet weiterhin in Israel. Insbesondere in den von Ultraorthodoxen bewohnten Orten wie Bnei Brak nahe Tel Aviv und Mea Shearim in Jerusalem schnellen die Zahlen der Infizierten explosionsartig nach oben. Denn die Bewohner dieser Städte und Viertel mit ihrer hohen Bevölkerungsdichte zeigen eine schockierende Ignoranz gegenüber allen Quarantäne-Maßnahmen, die die Regierung erlassen hat. Genau das wird für das ohnehin durch die Coronavirus-Krise völlig überbelastete israelische Gesundheitssystem zu einem weiteren Problem. Immer wieder muss die Polizei eingreifen, weil Ultraorthodoxe weiterhin Hochzeiten mit vielen hundert Gästen feiern oder in Massen zur Beerdigungen ihrer Rabbiner erscheinen – so wie noch am Samstagabend anlässlich des Trauerzuges für den verstorbenen Rabbi Tzvi Shinkar in Bnei Brak. Und am Montag war in Mea Shearim ein größeres Polizeiaufgebot nötig, weil Gruppen von Männern dort demonstrativ eng beieinanderstehend beten wollten. „Während dieses Einsatzes lösten Beamte Ansammlungen von einigen Duzend bis hin zu hunderten von Personen auf, die in Synagogen und Yeshivot zusammengekommen waren“, hieß es in dem Polizeibericht dazu. „Dabei wurden die Beamten von den Anwohnern als >Nazis< und >Verbrecher< beschimpft.“

Dabei zeigt die Coronavirus-Statistik eine bedrohliche Entwicklung: Bis zum Dienstagmorgen gab es in Israel 4.831 Infizierte, 18 Personen sind mittlerweile verstorben. Doch bemerkenswert sind ebenfalls die Angaben darüber, wo jemand sich mit COVID-19 angesteckt hat. Knapp ein Drittel aller Infizierten, bei denen die Gesundheitsbehörden die Übertragungswege nachvollziehen konnte, hatte sich den Virus in einer Synagoge oder bei einer religiösen Veranstaltung zugezogen. Weitere Untersuchungen bestätigen das: Am Dienstag führte Jerusalem die nationale Statistik mit 650 Coronavirus-Patienten an, direkt gefolgt von Beni Brak mit 571. Zum Vergleich: Israels Hauptstadt hat rund 920.000 Einwohner, das überwiegend von Orthodoxen bewohnte Bnei Brak dagegen nur 198.000. Aber auch die 25 Kilometer östlich von Tel Aviv gelegene Kleinstadt Elad mit ihren 45.000 überwiegend ultraorthodoxen Einwohnern zählte noch am 23. März nur einen Infizierten. Eine Woche später waren es bereits 68, einen mehr als die Metropole Haifa. Ganz Tel Aviv kommt dagegen auf „nur“ 278 Fälle.

Über Wochen hinweg hatte Bnei Braks Bürgermeister Avraham Rubinstein alle Anweisungen und Empfehlungen der Gesundheitsbehörden ignoriert. Sogar eine Hochzeit im großen Stile genehmigte er vor direkt seinem eigenen Haus, schließlich handelte es sich um einen Verwandten. Das böse Erwachen kam nur wenige Tage später, als Rubinsteins Frau und mehrere seiner Angehörigen positiv auf Corona getestet wurden. Daraufhin fiel auch bei ihm der Groschen und der Bürgermeister schwenkte um. Plötzlich rief er die Bewohner seiner Stadt auf, sich an alle empfohlenen Maßnahmen zu halten – viel zu spät, wie Experten immer wieder betonen. Ursachen für dieses riskante Verhalten der Haredim gibt es zahlreiche. Zum einen benutzen viele Ultraorthodoxe einfach kein Smartphone, weshalb es sie von Handlungsanweisungen der Behörden gar nicht erst erfahren. Zum anderen wohnen sie oftmals mit zehn und mehr Personen in einem Haushalt, so dass eine Isolation bei ihnen nicht funktionieren kann. Zudem haben religiöse Autoritäten wie Rabbi Chaim Kanievsky und Rabbi Gershon Edelstein der Entwicklung reichlich Vorschub geleistet, in dem sie ihren Anhängern lange Zeit das Gefühl vermittelten, dass die Coronavirus-Krise sie nicht betreffen würde. Erst am Sonntag machte Rabbi Chaim Kanievsky eine Kehrtwendung und erklärte, dass man besser alleine in den vier Wänden seine Gebete verrichten sollte und nicht in Gesellschaft in der Synagoge

Aber nicht alle Orthodoxen handelten so fahrlässig. Im Gegenteil, einige legten ein überraschendes Maß an Flexibilität an den Tag – so wie der sefardische Rabbiner Eliyahu Abergel, ehemals Vorsitzender des Jerusalemer Rabbinergerichts. Er erlaubte jetzt sogar die Nutzung des Videokonferenzdienstes „Zoom“ zum Seder-Abend. Und der ebenfalls sefardische Oberrabbiner Yitzhak Yosef erklärte, dass man sogar am Schabbat das Mobiltelefon angeschaltet lassen dürfe. Auch die Nutzung von Wagen mit Lautsprechern, die im Ernstfall orthodoxe Viertel sofort über weitere Quarantänemaßnahmen informieren können, hatten seinen Segen. Oberrabbiner Yitzhak Yosef begründet all dies mit der jüdischen Pflicht zur Rettung gefährdeten Lebens, also Pikuach Nefesch, die Vorrang vor anderen Geboten habe.

Zum Problemfall aber hatte sich ausgerechnet in Zeiten von Corona der Gesundheitsminister Yakov Litzman erwiesen, nicht zuletzt deshalb, weil er als Vertreter der ultraorthodoxen Partei Vereintes Torah-Judentum schlichtweg der falsche Mann auf dem falschen Stuhl ist. Mehrfach hatte Litzman unter Beweis gestellt, dass er nicht nur aufgrund der Tatsache, dass er kein Mediziner ist, eine totale Fehlbesetzung darstellt. So antwortete der Gesundheitsminister auf die Frage eines Journalisten, ob die Israelis aufgrund der Pandemie bis zu Pessach unter strikter Isolierung leben müssen allen Ernstes: „Wir beten und hoffen, dass der Messias vor dem Pessachfest, der Zeit unserer Erlösung, kommt. Ich bin sicher, dass der Messias kommen und uns herausbringen wird, so wie Gott uns aus Ägypten herausgeführt hat.“ Messias statt Impfstoff, das scheint wohl seine Devise zu sein. Zudem hagelte es Kritik, weil Litzman die Arbeit von Testlaboren am Schabbat behinderte. Genau deshalb rumorte es heftig in seinem Haus. Weil er selbst aus dem Umfeld der chassidischen Gur-Sekte stammt, die unbeirrt ihren Lehrbetrieb aufrecht erhalten wollte, und auch ansonsten sich sehr zögerlich zeigte, seiner ultraorthodoxen Wählerschaft zu erklären, dass die Maßnahmen zur Quarantäne ebenfalls für sie gelten, schrieb Uri Schwartz, Rechtsberater im Gesundheitsministerium, nun einen Brandbrief an seinen Vorgesetzten. „Wirklich alle Institutionen müssen ihre Tätigkeit sofort einstellen“, lautete sein Appel an Litzman. Auch Litzmans Klientel in Bnei Brak und Mea Shearim müsse dazu gezwungen werden, die Abstandsregeln einzuhalten und beispielsweise die völlig überfüllten Yeshivot dicht zu machen.

Das Ganze ist jetzt auch zu einem Politikum geworden. In den laufenden Verhandlungen über die Bildung einer Koalition aus dem Likud, der Partei Chosen LeIsrael von Netanyahu-Herausforderer Benny Gantz sowie den politischen Vertretern der Orthodoxie, Vereintes Torah-Judentum und Shass, sowie der Arbeitsparteipartei, die nicht zuletzt aufgrund der Coronavirus-Krise zustande kommen wird, wurde ebenfalls um das Amt des Gesundheitsministers gestritten. Während aus der Partei von Gantz Forderungen laut wurden, diesen wichtigen Posten mit einem „richtigen“ Experten zu besetzen, beharrte Netanyahu darauf, Litzman in seinem Ressort zu lassen. Obwohl prominente Namen wie Professor Gabi Barbash, ein Epidemiologe vom Weizmann-Institut oder der Generaldirektor des renommierten Sheba Medical Centers, Yitshak Kreiss, als Kandidaten ins Spiel gebracht wurden, konnte Litzman, dem als Ausgleich für das Gesundheitsministerium das Wohnungsministerium angeboten wurde, sich erneut durchsetzen. Auch ein Appel von führenden Medizinern aus mehreren Krankenhäusern führte zu keinerlei Umdenken. Sie hatten in ihrem Brief geschrieben, dass die Pandemie „das Gesundheitssystem in organisatorischer und operativer Hinsicht zu einem Tiefpunkt erwischt hat, der allen bekannt war“. Zudem würde sich nun zeigen, welche Probleme existieren, darunter das offensichtliche Gefälle in der Qualität zwischen dem Zentrum des Landes und der Peripherie im Norden und Süden. „In einem solchen Moment wäre es richtig, ein Fachmann an die Spitze des Gesundheitsministeriums zu berufen – einen Arzt mit viel Erfahrung im israelischen Gesundheitswesen“, hieß es weiter darin. „Gesundheit hat jetzt absolute Priorität, auf jeden Fall vor der Politik.“

Genau diese Message scheint bei den Verantwortlichen bei der Vergabe von 36 Ministerposten, die sich das Land nun leistet, kein Gehör zu finden. Zwar hat die Coronavirus-Krise den Ausschlag gegeben, warum Gantz von seinem bisherigen Versprechen abrückte, niemals unter einem Ministerpräsidenten Netanyahu einen Posten anzunehmen, was zum sofortigen Kollaps des Listenbündnis Blau-Weiß mit der Yesh Atid-Partei von Yair Lapid führte. Doch trotz aller Appelle, so schnell wie möglich angesichts der gigantischen Wirtschaftskrise, die sich gerade am Horizont abzeichnet, eine handlungsfähige Regierung zu bilden, lässt man sich reichlich Zeit. Auch die Tatsache, dass die Arbeitslosenquote von weniger als vier Prozent vor einem Monat auf mittlerweile über 20 Prozent hochschnellte und Hilfspakete für die notleidende Betriebe oder das Gesundheitswesen ein Gebot der Stunde sind, motiviert die politisch Verantwortlichen nicht zu einem raschen Handeln. Die Koalitionsgespräche könnten bis in die Zeit nach Pessach andauern, meldete jetzt der TV-Kanal Arutz 12. Nicht nur darüber, wie die Ministerposten verteilt werden, wird noch munter gestritten. Der Rechtsblock mit Yamina zeigt sich verärgert über zu viele vermeintliche Zugeständnisse an die „Linken“ und droht, nicht mehr mitzuspielen, weil man dem Ex-Histadruth-Chef Avi Nissenkorn wohl das Justizministerium angeboten hat. Auch weiß man noch nicht genau, wer alles überhaupt in der Koalition mitmachen wird, weil die Liste von Arbeiterpartei, Meretz und Gesher ebenfalls auseinanderbrach und einzelne Protagonisten wie Merav Michaeli von der Avoda keinesfalls eine Netanyahu-geführte Regierung mittragen wollen.

Dabei werden die Probleme, die die neue Koalition erwarten nicht weniger. Mit jeder Woche, die verstreicht, verschärfen sich die Belastungen für das Gesundheitswesen und die Wirtschaft dramatisch, weswegen schnelles Handeln ein Gebot der Stunde wäre. Doch irgendwie scheint bei den Verantwortlichen noch nicht so richtig angekommen zu sein.

Bild oben: Yaakov Litzman, November 2019, © „רווח הפקות“ / CC BY-SA 3.0