Geist und Grenzen des Widerstandes 2

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Keine edle Gesinnung wird herabgesetzt, wenn wir auf das Widersinnige solcher Vorstellungen im totalitären Staat hin­weisen, wo zwar ein Widerstand ohne Haß wünschenswert, oft aber keiner mehr ohne Gewalt verwirklichbar ist, weil nie­mand einem solchen Gegner noch ein Gefühl der Scham oder eine Änderung des Herzens zu entlocken vermag…

Aus: H.G. Adler – Der Wahrheit verpflichtet
Interviews, Gedichte, Essays
pp. 174

King blieb ein solcher Gewissenskonflikt erspart, doch hat er ihn beim Studium der in Amerika entstandenen Werke des deutschen Theologen Niebuhr kennengelernt:4 Niebuhr führte aus, »daß es keinen eigentlichen moralischen Unterschied zwischen ge­waltlosem und gewaltsamem Widerstand gebe. Er behauptete, die sozialen Folgen der beiden Methoden seien verschieden, die Unterschiede bestünden aber mehr im Grad als in der Art. Später betonte Niebuhr, es sei unverantwortlich, sich auf einen gewaltlosen Widerstand zu verlassen, wenn es zweifel­haft sei, ob dieser die Ausbreitung totalitärer Tyrannei erfolg­reich verhindern könne. Erfolg könne er nur haben, wenn die Gruppen, gegen die der Widerstand gerichtet sei, ein gewisses Maß an moralischem Bewußtsein besäßen, wie das bei Gan­dhis Kampf gegen die Engländer der Fall war.« Fassen wir unsere Einsichten in einigen Thesen zusammen, die für radikal Entrechtete unter einer extremen Schreckens­herrschaft gelten. Gegenüber dem Terror eines totalitären Staates ist ein organisierter, namentlich nicht individueller ge­waltloser Widerstand weitgehend oder ganz unmöglich, so­bald er politisch ist und die Lage der von ihm Begünstigten vorteilhaft beeinflussen will. Über stumme Standhaftigkeit und eine Hebung der Moral gepeinigter Menschen hinaus ist gewaltloser Widerstand auf die Dauer nur möglich, wo ein Regime zwar unterdrückt, aber nicht erbarmungslos verfolgt, wo es diskriminiert, aber nicht vernichtet, wo es den Wider­stand zwar bestraft, doch seinetwegen nicht mordet. Wir fra­gen nun, stets im Hinblick auf den Widerstand, nach dem to­talitären Staat, nach dem in ihm ausgeübten Terror und nach der Verfolgung als Äußerung des Terrors.

Der totalitäre Staat ist weder eine bloße Tyrannei noch eine grausame Despotie oder Diktatur, sondern eine Schreckens­herrschaft besonderer Art, die an eine dogmatische, im Grun­de immer lebensfremde Ideologie gebunden ist. Diese entwirft nur mit Gewalt herbeiführbare politische Ziele, die es erfor­dern, daß zum Beispiel nach einer willkürlichen und auch willkürlich angewendeten Definition bestimmte Teile der Be­völkerung zu unversöhnlichen Feinden der übrigen Mensch­heit gestempelt, verfolgt und entrechtet oder sogar vernichtet werden. Die unglückseligen Opfer einer solchen Ideologie können bestimmte angeborene biologische oder andere gleichsam oder wirklich objektive Merkmale ihrer dogma­tisch als übel bezeichneten Eigenart nicht abstreifen. Da sich also solche Menschen nicht ändern, geschweige denn bessern lassen, kann man sie nur unschädlich machen. Unschädlich scheinen sie aber in letzter Konsequenz erst durch ihren phy­sischen Untergang und deshalb sind sie auszurotten. Zwischen solchen ideologisch zu Feinden bestimmten Menschen (etwa »Klassenfeinden« und selbst ihren Nachkommen), die zu ver­nichten sind, und anderen, die nur bedingt vernichtenswert oder bloß in Knechtschaft zu halten sind, bestehen graduelle Unterschiede.

So behandelt ein totalitärer Feind wie der nationalsozialisti­sche Staat ideologisch gebunden alle Juden als Feinde, greift aber mit seinen keiner Rechtskontrolle mehr unterliegenden Gewaltmaßnahmen nur jene Deutschen an, die ihn bekämp­fen. Das ist für die Anwendung des Terrors wie auch für die Bedingungen des gewagten Widerstandes wichtig. Gegen ideologiebestimmte Feinde richtet sich der Terror uneinge­schränkt, selbst wenn es sich um die harmlosesten Menschen einschließlich von Kranken, Greisen und Kindern handelt. Gegen Feinde anderer Volkszugehörigkeit richtet er sich zwar erst bei Verdacht auf oppositionelle Tätigkeit, doch genügt da­für eine oft kaum begründete Vermutung und präventiv sogar schon die Annahme einer möglichen Gegnerschaft. Der Terror mag gegen seine verschiedenartigen Opfer gleichartig einset­zen, doch die ideologische Bindung des ihn einsetzenden Re­gimes verführt dazu, jeden wirklichen Gegner, aber auch je­den an sich harmlosen jedoch zum Gegner erlesenen Men­schen ideologisch zu verfärben. Die bloße Möglichkeit einer Feindschaft gegen den totalitären Staat wird so rationalisiert, daß ihr Entstehen nur im Sinne von Folgerungen aus der Ideo­logie erklärlich scheint. Politischen und oft dämonisierten Wi­derstand aus den Kreisen ideologiebedingt zu Feinden erklär­ter Gruppen, wie es im Dritten Reieh alle angeblich »rassisch Minderwertigen« waren, setzt jeder totalitäre Staat als selbst­verständlich voraus und sucht ihn von Anbeginn zu verhüten und zu brechen. Das erschwert die Bildung eines Widerstan­des von Angehörigen solcher Gruppen ganz außerordentlich. Widerstand hingegen, der sich unter Angehörigen solcher Gruppen entfaltet, die in ihrem Fortbestand durch die herr­schende Ideologie nicht vital bedroht sind, verlangt in jedem Fall eine feste Überzeugung, also mehr als bloßen Selbster­haltungswillen, der etwa die Triebfeder für den Aufstand von 1943 im Warschauer Ghetto war. Das Gegenteil traf für relativ unbehelligte Deutsche aus dem Reiche zu, deren – meist sitt­lich erregtes – Unbehagen äußerst gesteigert werden mußte, um zu einem Entschluß zu einem tätigen Widerstand gegen die Machthaber zu gelangen.

Der ideologisierte Staat kann zur Aufrechterhaltung seiner Herrschaft des Terrors nicht entbehren, der zu seinen formal oft nie legalisierten, aber fest institutionalisierten exekutiven Mitteln gehört. So ist der Terror vom totalitären Staat über­haupt nicht zu trennen, und der sich gegen ihn richtende Wi­derstand gilt sogar ganz besonders dem hier waltenden Terror, dessen sich dieser Staat vorzüglich bedient, um gerade den Widerstand zu brechen. Wo rührt dieser Terror, der jedenfalls jeglichem von ihm erst entzündeten Gegenterror vorangeht, denn aber her? Er ist in jedem Fall erst von der einen Staat erobernden totalitären Partei – stets einer ideologisch be­schwerten Bewegung – institutionalisiert worden. Ja, der Ter­ror gehört sogar zu den bevorzugten Mitteln, mit deren Hilfe eine totalitäre Bewegung zu ihrer »Machtergreifung« und zur Befestigung ihrer Macht gelangt, was man beim Studium des Entstehens der Sowjetunion und nicht weniger deutlich beim Erkämpfen und Erschaffen des nationalsozialistischen Staates beobachten kann. Ein auf Despotie, Diktatur und namentlich auf Totalitarismus verzichtender Staat, der sich einigermaßen ehrlich bemüht, die Menschenrechte zu wahren, der freiheit­lich ist, eine demokratische Verfassung hat und seiner Bevöl­kerung gestattet, sich gesellschaftlich pluralistisch zu entfal­ten, bedarf nicht des Terrors und wird ihm in keiner seiner Institutionen (auch nicht und gerade nicht in einer Geheimpo­lizei) einen Unterschlupf gewähren. Nicht einfach und klar geschieden sind die Dinge, wo Mischverhältnisse von Demo­kratie für privilegierte, besonders für ethnische Gruppen, hin­gegen Despotie für den Rest herrschen; in solchen Staaten kann allerdings auch institutionalisierter Terror herrschen.

Für den freiheitlich demokratischen Staat, wie wir ihn eben charakterisiert haben, gelten diese Mischungsverhältnisse von begrenzt humaner Herrschaft und bis zum Terror ausholender Despotie nicht, weil das pluralistische Gesellschaftsprinzip gilt, das allerdings nicht utopisch überbewertet werden darf, indem man glaubt, daß etwa hier – wie überhaupt in einem empirischen Staat – das Paradies auf Erden mit Vermeidung aller Konflikte und aller Ungerechtigkeit erreicht und eine ideale aber darum auch schon abstrakte Freiheit gewonnen wäre. Gegen einen freiheitlich demokratischen Staat jedoch gibt es überhaupt keine Widerstandsbewegung, weil es in ihm keine freiheitliche demokratische Bewegung geben kann, die den politischen und sonstigen Grundsätzen dieses Staates wi­dersprechen würde. Eine legale Opposition, wenn auch nicht in jedem Fall unbedingt erwünscht, ist hier doch jederzeit möglich und kann sich auch parlamentarisch etablieren. Des­wegen konnte sich zum Beispiel in der Bundesrepublik statt einer Widerstandsbewegung nur eine »außerparlamentarische Opposition« entwickeln. Sie hat ihren Grundsätzen nach, ob­wohl sie politisch orientiert ist, tatsächlich keine parlamenta­rische Basis.

Erst aus dieser Lage heraus kann eine sich im Grunde aus der Demokratie ausschließende (und darum gern die Demokratie als verlogen bezeichnende) Opposition so gegen die herr­schende Ordnung wenden, daß sie sich in Gefolgschaft und Abhängigkeit von einer totalitären Ideologie (und jede Ideolo­gie ist als gedankengefrorenes dogmatisehes System totalitär) schließlich doch als ein Widerstand erfährt und begreift. So­bald diese Opposition jedoch auch als Widerstand wirksam wird, stellt es sich heraus, daß kein Ethos einer politischen Widerstandsbewegung sie beseelt. Darum vertritt diese Oppo­sition auch keine humanen oder auch nur sozialen Interessen und findet in der staatlichen Gemeinschaft keinen wie immer gearteten Ort, weswegen er sich nicht anders bemerkbar macht, als daß er sich gegenüber den öffentlichen Einrichtun­gen terroristisch gebärdet und Terrorakte gegen ausgewählte wie auch gegen persönlich gleichgültige Mitbürger verübt. Damit fällt der vorgeblich politische Widerstand jedenfalls aus dem Rahmen jeder für ihn gültigen Definition und gleitet über kurz oder lang von einer noch vertretbaren Opposition ins Asoziale. Manche ihrer Mitglieder verlieren sich schließ­lich nihilistisch ohne jedes noch erkenntliche schöpferische Programm in offen gesellschaftsfeindlichen Aktionen und hoffnungsloser Zerstörungswut.

So leuchtet es ein, daß keine Handlungsweise als politischer Widerstand gelten darf, deren Wurzeln zwar in einem Unbe­hagen aufzufinden sind, aber nicht in der erlittenen Unter­drückung oder Verfolgung sozial definierbarer Gruppen oder Gemeinschaften durch den Staat oder in ihm wirksamer Mächte. Ein anfänglich oft durchaus berechtigtes Unbehagen hypertrophiert hier und – statt zu Einsichten anzuleiten, die nach Abhilfe blicken lassen könnten – steigert sich zu einem maßlos verzehrenden Haß gegen den Staat und die gesamte menschliche Gesellschaft. Ein solcher in Anarchie und Nihi­lismus mündender Haß verbreitet sich im späten 19. Jahrhun­dert weit über Europa, in Rußland und Spanien trat er beson­ders hervor. Seit den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts erscheint dieser Haß bei den oft international wirkenden Ter­roristenverbänden in aller Welt verstärkt wieder: ein keines­wegs neues, doch jetzt durch zeitgemäße technische wie ideo­logische Mittel gekennzeichnetes Phänomen. Daß diese Terroristen nicht mehr vom Geist eines um Befrei­ung von Bedrängnissen ringenden Widerstandes erfüllt sind, geht daraus hervor, daß die Tendenz jedes politisch und vor allem auch sittlich begründeten Widerstandes, der sich wie immer gearteter sozialer Übel erwehren will, in sein Gegenteil umgeschlagen ist und mit dem bestehenden Staat schlechthin jede Ordnung angreift. Als der französische Generalstaats­anwalt Sadon in einem Auslieferungsverfahren plädierte, er­klärte er, daß der von der Bundesrepublik begehrte Mann mit seiner Anwaltskanzlei zur Stütze einer mit Mord, Totschlag, Entführung, Geiselnahme, Erpressung, Brandstiftung und Sprengstoff anschlagen befaßten Vereinigung geworden sei. Der im dringenden Verdacht der Unterstützung dieser Verbre­chen stehende Anwalt dürfe sich keineswegs auf politische Motive berufen, weil die Bundesrepublik weder ein »vom Feinde besetztes Land« noch ein Staat sei, in dem man sich nicht anders als durch Gewalt äußern könne. Sadon erklärte, es handle sich um Taten von solcher »Grausamkeit und Men­schenverachtung« daß ihnen keine politischen Beweggründe mehr zuzubilligen seien.5

Terror um seiner selbst willen ist kein Ausdruck eines höher gesinnten anarchischen Denkens und wirkt nur noch nihili­stisch, da ihm jedes (also nicht bloß ein aufbauendes) Pro­gramm fehlt, doch haftet schon ihm etwas Totalitäres an, das nur nicht zum Zuge kommt, weil ein solcher Terror die mei­sten Menschen abstößt und darum politisch kaum zählt. Voll­kommen wirkt sich sein totalitärer Charakter erst dort aus, wo der Terror sich an ein sei es noch so abstruses oder sonst uto­pisches Programm bindet, das, ideologisch unterbaut, unter Umständen großen Zulauf findet und bei großer politischer Begabung der hier führend wirkenden Persönlichkeiten dazu beiträgt, den Staat unter günstigen Umständen in schwierigen Zeiten in deren Hände zu spielen. Verfällt ein hochzivilisierter Staat einer totalitären Herrschaft, was kaum ohne wirksam ge­zielten Terror gelingt, bleibt dieser auch künftig ein Hauptmit­tel zur Erhaltung der gewonnenen Herrschaft, wird aber aus propagandistischen Gründen abgeleugnet und zur Beruhigung der Gemüter, die »Ruhe und Ordnung« sowie »Gerechtigkeit« wünschen, geschickt verborgen. Man täuscht die Öffentlich­keit über das Wirken, ja sogar über das Dasein des Terrors, obwohl er als Drohung für unzufriedene Geister jederzeit doch fühlbar sein soll. Nur dort bricht er unverhüllt hervor, wo er sich unbeobachtet glaubt, auch wo die Machthaber sein offenes Auftreten nicht fürchten, so daß sie kaum mehr viel Wert auf eine zivilisatorische Maske legen. Im übrigen schaf­fen sie den Terror tunlichst beiseite, verstecken ihn etwa in Konzentrationslagern oder übertragen ihn, für die Nachwelt dokumentarisch ersichtlich, in Verwaltungsakte, die das Au­ßerordentliche »ordentlich« regeln. Dann wird das Irrationale, das sich in jeder Terrorwelle wild ausleben will, bürokratisch so gerafft, daß es möglichst rationalisiert und in definierten Einzelvorgängen vorhersehbar oder wenigstens, wo es sich, wie bei der berüchtigten »Reichskristallnacht« vom 9. zum 10. November 1938, um bereits Geschehenes handelt, gut überschaubar wird. So wahrt die Verfolgung als Terrormittel den Anschein einer milder wirkenden Unterdrückung, wäh­rend jene zielbewußt fortsetzbar scheint, in ihrer Zielsetzung aber nur den Drahtziehern durchsichtig, sonst jedoch den An­gehörigen der beteiligten Behörden und schließlich der kaum mehr in Kenntnis gesetzten Öffentlichkeit in immer schwä­cheren Graden und bald fast gar nicht mehr offenbar wird. Auf diese Weise hat man das unliebsame Aufsehen der »Kri­stallnacht« im eigenen Lande wie in aller Welt sozusagen überwunden. Das nationalsozialistische Regime war mit die­sem Pogrom aus dem eigenen Konzept gefallen, wie es künf­tig kaum noch geschehen ist.

Im totalitären Staat wird die Verfolgung zu einem terroristisch angewendeten Herrschaftsprinzip. Es erstreckt sich in kom­munistischen Ländern auf alles, was der zwar stets veränder­lichen, doch jeweils festgelegten »Parteilinie« widerspricht. Nicht nur offenkundige Gesinnungen werden verfolgt; es ge­nügen unvorsichtige Äußerungen, die als »veraltet« nicht ge­nehm sind. Das ist bis jetzt die am weitesten getriebene Ver­folgung des Andersartigen, des Nonkonformismus. Um der Verfolgung freien Lauf zu lassen, wird die Rechtssicherheit aufgehoben und die ordentliche Gerichtsbarkeit weitgehend ausgeschaltet. An ihre Stelle tritt ein privilegierter – oft sich selbst »geheim« nennender – Polizeiapparat, der über alle un­erwünschten Regungen wachen und sie verfolgen soll, was er am wirksamsten durch Terror besorgt. Unter Stalin wurden selbst noch die mitwirkenden und auch die höchsten Funktio­näre dieses Apparates in äußerste Unsicherheit versetzt, sie wurden nicht anders als ungezählte andere Menschen den wiederholten »Säuberungen« unterworfen. Das Unvorherseh­bare in der Geschichte, sonst den Naturgewalten vorbehalten, erscheint hier in den Alltag des gesellschaftlichen Daseins einbezogen. Jede Art der Verfolgung bereitet schon Angst und Schrecken, aber im totalitären Staat erscheinen diese Gefühle noch gesteigert, weil hier der Terror zur systematischen Ver­folgung gehört. Wohl erfüllt der Terror die Menschen mit Furcht und Bangen, doch bringt sein Entsetzen noch Ärgeres als beide zusammen hervor. Terror erzeugt ein permanentes Grauen, das von despotisch und totalitär regierten Staaten so­wohl den aktuell Verfolgten als auch allen übrigen Menschen im eigenen Machtbereich, doch oft noch über dessen Grenzen hinaus als Begleitumstand der Verfolgung eingeflößt wird. Der Terror bedroht die subjektiven wie die ideologisch defi­nierten objektiven Gegner der Herrschaft, doch mitunter sogar ihre eigenen Anhänger. Auf diese Weise erzeugt der Terror in der Bevölkerung eine spezifische Seelenstimmung. Sie schafft eine andauernde Unsicherheit bis zur Lähmung des Willens und zu dem Zusammenbruch der Persönlichkeit, verzichtet aber gemeinhin auf eine physische Vernichtung.

Dieses Modellbild vom Terror und von der Verfolgung im to­talitären Staat soll die Lage veranschaulichen, vor die jegli­cher Widerstand sich gestellt sieht, sobald es – durch wessen Verschulden auch immer – soweit gekommen ist, daß ein sol­ches Regime überhaupt Wirklichkeit wurde. Wir würdigen den Zustand, bei dem eine solche Herrschaft bereits fest im Sattel sitzt und sich nicht im geringsten scheut, alle noch so grausamen Gewaltmittel bedenkenlos zu gebrauchen. Als Bei­spiel wählen wir das nationalsozialistische Deutschland und bedenken dabei den ideologischen und den geschichtlichen Aspekt. Eine ideologische Kennzeichnung haben wir bereits versucht. Sie ist durch zwei Gegensätze bestimmt, die auch vereinigt auftreten: sie heißen, überspitzt formuliert, Deutsche und Juden (anders gesagt: gute und schlechte »Rasse«) sowie die Gemeinschaft der – zumindest relativ – Freien und der Unfreien (namentlich Häftlinge unterschiedlicher Katego­rien). Der geschichtliche Aspekt ergibt sich durch das bei der »Machtergreifung« 1933 gewonnene Deutsche Reich, die er­presserische Einverleibung Österreichs und anderer Gebiete 1938/39, dann schließlich die während des Krieges vom Reich eroberten und unterjochten oder ihm hörig gewordenen Län­der und Gebiete. Auf die sich hierdurch jeweils ergebenden Bedingungen für den Widerstand haben wir bereits hingewie­sen. Ein Deutscher aus dem Reich, ein Tscheche, ein Fran­zose, ein Serbe, ein Russe und ein Jude in Polen mußten des­halb bei ungefähr gleichen Absichten verschiedene Entschei­dungen treffen und mit anderen Risiken rechnen. Friedrich Zipfel hat das erläuert:6 »… In den besetzten Län­dern und Gebieten bedeutete Widerstand die Fortsetzung der nationalen Politik. Lediglich Mittel und Methoden waren den besonderen Bedingungen der Okkupation angepaßt worden. Die Aktivisten … handelten dort in Übereinstimmung mit den Vorstellungen ihrer Landsleute und im Bewußtsein ungebro­chener nationaler Tradition. [In Deutschland] konnte die kleine Zahl von Aktivisten nicht oder doch nur sehr begrenzt auf Resonanz und eventuelle Unterstützung in der Bevölke­rung bauen. Die … Widerständler mußten … mit Traditionen ihres Volkes, ihres Standes bewußt brechen.« Das äußerste Gegensatzpaar für das Wagnis eines Widerstan­des gegen den nationalsozialistischen Staat bildeten Deutsche und Juden. Im Sinne der Ideologie repräsentierten jene den höchsten Wert, diese den niedrigsten oder – richtiger – keinen Wert, schlechthin den Unwert; die einen waren die potentiel­len Teilhaber aller Macht, die anderen ohnmächtig: die Deut­schen sollten leben, die Juden sterben; die ersten hemmte das Gewissen, sich gegen die Regierung immerhin des eigenen Volkes auch mit den stärksten Mitteln zu erheben, die anderen forderte äußerste Drangsal und Todesbedrohung heraus, noch zum letzten verzweifelten Mittel zu greifen, das überhaupt er­reichbar war; die einen waren immerhin noch frei und konn­ten Mittel aulbringen, die anderen waren gefangen und mittel­los. Diese Gegensatzpaare, die sich noch vermehren lassen, sind zu bedenken, ohne doch manche Gemeinsamkeiten zu verkennen. Nur an ein letztes sei noch erinnert: Den Deut­schen standen mancherlei Wege offen, die Juden hatten kei­nen anderen Ausweg.

Spricht Hans Rothfels vom Widerstand der Deutschen und anderer Völker, so dürfen wir die Juden im Reich sowie im Osten und anderen besetzten Ländern nicht vergessen:7 »… Eine Bewegung, die sich einem terroristischen und weit­gehend totalitären System widersetzt, arbeitet unter Bedin­gungen, die für jeden, der nicht in einem solchen >Polizei-staat< gelebt hat, unvorstellbar sind. Einen oppositionellen Standpunkt einzunehmen, geschweige denn ihn öffentlich zu vertreten, verlangte nicht nur eine Art von persönlichem Hel­dentum, das unter den Voraussetzungen moderner Gesell­schaftsordnung in allen Ländern ein seltenes Phänomen ge­worden zu sein scheint, sondern bedeutet zugleich die ernste­ste Gefährdung für Familie und Freunde.« »In Deutschland war nichts von dem Glorienschein zu verspüren, der eine Widerstandsbewegung umgibt, wenn sie sich gegen einen fremden Eroberer oder eine von außen auferlegte Gewaltherr­schaft zur Wehr setzt.«

Ohne daß wir es ausdrücklich erörtert hätten, ist es wohl deut­lich, daß Widerstand gegen eine unrechtmäßige oder doch un­gerecht handelnde Macht ein Verhalten darstellt, das auch dann von politischer Bedeutung ist, wenn es weder bewußt politisch motiviert wird noch politische Zielsetzungen ver­folgt oder überhaupt zu haben vermeint. Es genügt, daß sich ein Widerstand gegen die herrschende politische Gewalt stellt und gar nicht anders kann, als auf ihre Vernichtung zu sinnen oder doch auf ihre Abschaffung, zumindest Absetzung, was nur sanftere Worte sind und vielleicht der Wunsch nach einem milderen Verfahren, ohne doch – meint man es ehrlich und sieht man es mit offenem Blick – an der Sache selbst etwas zu ändern. Eine noch so geringe Änderung des Ziels kann sich nur als eine tragische Illusion auswirken, wie gerade der be­wußt politische Widerstand in Deutschland erkennen mußte. Als Generaloberst Beck 1938 einen Angriff auf die Tsche­choslowakei verhindern wollte, erklärte er gutgläubig aber ohne rechtes Verständnis für die selbstgewählte Aufgabe vor seinem Vorgesetzten Brauchitsch und den versammelten Ge­nerälen:8 »… Meuterei und Revolution sind Worte, die es im Lexikon eines Soldaten nicht gibt.«

Das war insofern gewiß eine Illusion, als damit gleichzeitig der gewollte Widerstand in Frage gestellt, ja unterbunden wur­de. Noch deutlicher wird das durch die von Beck damals aus­gegebenen Parolen, die, wenn auch unabsichtlich, bereits den Gedanken des Widerstandes durch ein Eintreten gerade für den Mann preisgegeben haben, den dieser Widerstand eben vor allem zu treffen hatte:9 »… Für den Führer gegen die Bon-zokratie, Schluß mit den Tsehekamethoden, wieder Recht im Reich, Friede mit den Kirchen, freie Meinungsäußerung.« Der Nachwelt ist die Aufzählung dieser Forderungen in einem  Atem mit einer (und wäre sie selbst nur »taktisch« gedachten) Zustimmung zu diesem »Führer«, der wie kein anderer das größte Hindernis für die Erfüllung der geäußerten Forderun­gen war, schlichthin unverständlich. Daß Hitler der erste und entscheidende Urheber aller beklagten Übel war, mußte einem so eingeweihten Mann wie Generaloberst Beck damals be­kannt sein. Er und viele andere fühlten sich im Zwiespalt des Gewissens an den obersten Machthaber im Staate gebunden, den sie gleichzeitig seiner Macht doch entheben wollten. In dieser Not sah Beck keinen anderen Weg, als von seinem Amt zurückzutreten, also eine starke Machtstellung aufzugeben, um sich der moralischen Freiheit für ein nicht »verräteri­sches« Handeln zu versichern und an der Spitze einer Ver­schwörergruppe zu stehen. Dieser Zwiespalt wurde, einmal vereinfacht gesagt, zur Schicksalsfrage des an sich chancen­reichsten deutschen Widerstandes, verzögerte sein Heranrei­fen und hat zu seinem Scheitern wesentlich beigetragen.

Welche Beweggründe gab es für den Willen zum Widerstand? Was für Arten lassen sich feststellen? Unsere Antworten dar­auf, wenn auch zunächst im Hinblick auf den deutschen Wi­derstand erteilt, gelten doch weitgehend allgemein. Weisen­born unterscheidet zwischen oberen Schichten, die bereits durch ihre amtliche Stellung zur Beeinflussung des politi­schen Geschehens befähigt sind, und den »kleinen Leuten«, die mit Opfermut, doch letztlich wenig tauglichen Mitteln das Regime bekämpften.10 Die wichtigsten Motive für den Wider­stand sind sittlicher, religiöser, humanitärer und allgemein politischer Natur, ferner Überlebenswille, Protest gegen uner­trägliche Eingriffe in den Privatbereich; als wichtige Kriterien für die Art des Widerstandes erweisen sich die Zugehörigkeit zu verschiedenen sozialen und Altersstufen sowie der Bil­dungsgrad. Diese Motive und Kriterien können in allen sinn­voll denkbaren Verbindungen auftreten. Ihre nähere Unter­suchung wird ebenso wie die Würdigung der einschlägigen Verhaltensweisen die Soziologie des Widerstandes als erste Aufgabe zu lösen haben.

Zipfel stellt folgende Skala auf:11 »… Von fanatischen Partei­gängern über opportunistische, träge oder reservierte Mitläu­fer, über widerwillig Gehorchende und in ihrem Wirkungsbe­reich die Unrechtspolitik Sabotierende reicht die Verhaltens­skala hin bis zum Widerstand.«

Der Widerstand selbst kennt unterschiedliche Grade. Beginnt, wie Dieter Ehlers sagt,12 die »Geschichte jeder Widerstands­bewegung mit einer Leidensgeschichte« oder, wie beizufügen wäre, wenigstens mit einem seelischen Leid, so kann sich das reaktive Verhalten von stillschweigender Mißbilligung über die Bemühung zu heimlichem »Nicht-mitmachen« und ande­ren Formen eines wesentlich als passiv zu kennzeichnenden Widerstandes bis zu den verschiedenen Arten des aktiven Widerstandes steigern, der in einer äußersten Steigerung zum Gegenterror wird, ein vom deutschen Widerstand – und oft gerade von seinen menschlich vornehmsten Vertretern wie Helmuth James von Moltke – weitgehend gemiedenes Verfah­ren.

Ehlers stellt die ethisch schwer befriedigend zu lösende Fra­ge,13 wie es dahinkommt, »daß zum Wesensmerkmal freiheit­lich-demokratischen Widerstands die Zwangslage gehört, to­talitäre Methoden anwenden zu müssen, die Gesetze des Handelns vom Gegner zu übernehmen, eigene moralpolitische Normen scheinbar umkehren zu müssen, um auf der Ebene des Widerstandes überhaupt eine Chance zu haben«. Diese Darlegung bedarf im Sinne unserer bisherigen Überlegungen einer Korrektur: Nicht der Widerstand selbst ist demokratisch, er ist weder eine Regierung noch eine völkerrechtlich aner­kannte Institution einer tatsächlich bestehenden Regierung (auch nicht einer Regierung im Exil, obwohl sie sich seiner bedienen wird und bedienen muß, ihn auch gern legitim an­erkannt wüßte). Eine von der Bevölkerung eines im Kriege besetzten Landes oder Gebietes anerkannte Widerstandsbe­wegung stellt, so autoritativ sie wirken kann, in jedem Fall einen Ausnahmezustand dar; das Ringen um die Herstel­lung einer souveränen demokratischen Herrschaft kann nur eine Zielsetzung sein. Die Methoden, die ein Widerstand an­wendet, unter dem Zwang der Umstände oft anwenden muß, mögen sittlich fragwürdig sein und selbst Terror nicht ver­schmähen. Solange sich aber der Widerstand von Terror be­dingenden ideologischen Bindungen freihält, ist er auch kei­neswegs totalitär. Den edelsten Widerstandswilligen mit ei­nem bewußten politischen Ziel lag im nationalsozialistischen Deutschland gewöhnlich schon durch ihre Ohnmacht und meist durch ihre sittliche und religiöse Überzeugung ein Wi­derstand am nächsten, der äußersten Gewaltmitteln tunlichst auswich.

Anmerkungen

  • 1 Vgl. alle nachfolgenden Zitate aus M. L. King, Mein Weg zur Gewaltlosigkeit (Pilgrimage to Nonviolence). Vgl. M. L. King, Strength to Love, New York, Elvaston und London 1963, S. 135— 142.
  • 2 Übersetzung aus J. H. Griffin, Black Like Me, London 1964, S. 140f.
  • 3 Vgl. M. L. King, a.a.O.
  • 4 Vgl. M. L. King, a.a.O.
  • 5 Vgl. Bericht von K. Arnsperger, in: Süddeutsche Zeitung vom 4. Nov. 1977.
  • 6 F. Zipfel, Die Bedeutung der Widerstandsforschung für die allgemeine zeitgeschichtliche Forschung, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament Nr. B 28 v. 14. Juli 1965, S. 3 ff.,4.
  • 7 H. Rothfels, Die deutsche Opposition gegen Hitler, Neue erweiterte Ausgabe, Hrsg. H. Graml, München 1977, S. 26.
  • 8 D. Ehlers, Technik und Moral einer Verschwörung (Der Aufstand am 20. Juli 1944), Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung Heft 62, 2. Auflage, Bonn 1965, S. 35.
  • 9 D. Ehlers, a.a.O., S. 33.
  • 10 Vgl. Der lautlose Aufstand (Bericht über die Widerstandsbewegung des deutschen Volkes 1933-1945), Hrsg. G. Weisenborn, Hamburg, 1953, S.92ff., HOff.
  • 11 F. Zipfel, a.a.O., S. 8.
  • 12 D.Ehlers, a.a.O., S. 65.
  • 13 D. Ehlers, a.a.O., S. 21 f.
  • 14 Vgl. Erstes Flugblatt und Drittes Flugblatt der »Weißen Rose«, in: Inge Scholl, Die weiße Rose, Frankfurt a. M. 1975, S. 104, 117.

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