In den Flugblättern der berühmten vorwiegend studentischen Widerstandsgruppe »Weiße Rose« heißt es:14 »Leistet passiven Widerstand – Widerstand -, wo immer Ihr auch seid, verhindert das Weiterlaufen dieser atheistischen Kriegsmaschine, ehe es zu spät ist …« – »Wir haben keine reiche Auswahl an … Mitteln [zum Sturz der Regierung], nur ein einziges steht uns zur Verfügung – der passive Widerstand.«…
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Die Grade des Widerstandes beschreibt Eberhard Bethge:15 »… Wenn dem totalen Geist, der einer totalen Gewaltstruktur erst immer vorangeht, öffentlich gewehrt wird und dies als Tugend angesehen werden darf, dann lebt die Gemeinschaft aus dem Recht zum Widerstand. Wenn aber die Gewaltstruktur vollzogen ist, dann wird diese Gemeinschaft leben aus denen, die die Pflicht zum Widerstand unweigerlich in sich tragen. Und dieser Widerstand hat viele Stufen von der Passio bis zur äußersten Actio in der Konspiration.« »Der einfache passive Widerstand kann ganze Bevölkerungsgruppen erfassen. Menschen der Parteien, Gewerkschaften, der Kirchen, von Kunst und Wissenschaft sind zu irgendeinem Zeitpunkt in ihn emigriert. Er ist schwer faßbar und kaum auszurotten. So gering seine Möglichkeiten zu sein pflegen, so kann er doch auch eine gewisse Integrität und Würde bewahren…..
Die nächste Stufe – der offene ideologische Widerstand [oder, um den Leser nicht zu verwirren und unsere Terminologie intakt zu erhalten: der offene ideell fundierte Widerstand] – begibt sich bereits auf eine sehr viel verantwortlichere und gefährdetere Ebene. … In klarer Verantwortung für die eigene unaufgebbare Überzeugung wird widerstanden und dies allen Gefahren zum Trotz auch proklamiert.«
Hier unterbrechen wir Bethges Aufstellung der von ihm erkannten Widerstandsgrade, um eine Unterart des offenen ideell fundierten Widerstandes, den aus der Passivität sich zur Handlung erhebenden individuellen Widerstand gleich mit einem Beispiel vorzustellen. Die als Ärztin in Auschwitz tätige Dr. Lingens-Reiner schildert das Verhalten einer anderen nach Auschwitz eingelieferten Ärztin, der Französin Dr. Adelaide Hautval, die 1942 in Bourges verhaftet und verschickt worden ist, weil sie bei der Gestapo gegen die Behandlung der Juden protestiert hatte.16 Dr. Hautval sollte für den deutschen Gynäkologen Professor Clauberg arbeiten, der in Auschwitz u.a. kriminelle operative Sterilisationen an Häftlingen ausprobierte. Wenn man Frau Hautval »Fälle zuwies, bei denen sie keinen Grund für einen chirurgischen Eingriff fand, erklärte sie einfach, daß sie nicht mehr operieren würde. Zunächst versuchte« der Chefarzt des Konzentrationslagers »Dr. Wirths sie zu überreden. Er fragte sie, ob es wirklich ihre Meinung sei, daß Juden dieselbe Rücksicht verdienten wie andere Menschen. Sie sagte, ja, das sei ihre Ansicht. Dr. Wirths begann zu drohen und zu toben. Sie sagte ihm ruhig: >Sie können mich erschießen, Sie können mich in die Strafkompanie stekken, aber Sie können mich nicht zum Operieren zwingen.< Es geschah ihr nichts. In den Konzentrationslagern war Arbeitsverweigerung ein tödliches Verbrechen … Aber der SS-Arzt war so überrumpelt durch ihre unerwartete, unvorstellbare Opposition, daß er nicht wußte, was er mit einer solchen Frau beginnen sollte. So schickte er sie ins Frauenlager zurück, wo sie wieder ihre Arbeit in unserem Revier aufnahm.« Wir kehren zu Bethges Betrachtung zurück:17 »… Auf der dritten Stufe, der Mitwisserschaft, verengt sich der Widerstandskreis naturgemäß rapide. Sie ist auch in ihrer Passivität gegenüber den Trägern eine Konspiration doch schon Mitverantwortung im Augenblick, wo etwas zur Kenntnis kommt und nicht widersprochen oder etwas zur Verhinderung getan wird – und sie war… bereits todeswürdig. Die vierte Stufe, das aktive Vorbereiten eines Danach … hat in Moltke seinen edelsten Vertreter gehabt. …« Die fünfte Stufe ist »die verantwortliche konspirative Aktion. [Sie] bedarf der wagenden Entscheidung, zu der sich keine absoluten Kriterien vorher bereit- und festlegen lassen. … Wer diesen Schritt tut, verzichtet nicht nur auf alle äußeren Sicherheiten. Er verzichtet auf das Begleitetwerden von Befehl, von Beifall, von allgemeiner Meinung. Nicht einmal ihre ethische Gültigkeit kann er demonstrieren, wenn er ihrer am meisten gewiß sein muß.«
Wie verhältnismäßig episch nehmen sich solche Einteilungen aus, wenn wir dem vergleichsweise oft »kultivierten« deutschen Widerstand, den Bethge ins Auge faßt, anderen gegen den Nationalsozialismus gerichteten Widerstand, etwa die rasende Dramatik des jüdischen Widerstands gegenüberstellen. Was könnte hier die in einem moraltheologischen Gutachten aufgestellte Formel des Katholiken Angermair taugen?18 »… Der Widerstand [muß] so vorbereitet sein, daß sein Erfolg vernünftigerweise erwartet werden kann. Nicht der faktische Erfolg ist für die sittliche Beurteilung ausschlaggebend, wohl aber die verantwortungsbewußte Bereitung auf den Erfolg.« In welcher Proportion zum Warschauer Ghetto-Aufstand von 1943 steht der Ausruf des Generals Olbricht am 20. Juli 1944 in der Berliner Bendlerstraße vor seinen Kameraden, als die Verschwörer nach verlorenem Beginnen beschossen wurden und Graf von Stauffenburg verletzt war?19 »… Nicht schießen! Bitte, meine Herren, kein Blutvergießen!« Wie nimmt sich die ritterliche Gesinnung des Hauptmanns von der Bussche angesichts der blutigen Revolte der jüdischen Häftlinge 1943 im Vernichtungslager Treblinka aus? Bussche wurde 1942 Augenzeuge der Vernichtung der Juden von Dubno. Er stand nahe der ausgehobenen Grube, er hörte die Schreie und Gebete, er sah die Gesichter der hingeschlachteten Männer, Frauen und Kinder. Bussche wollte wissen, wer die Erschießung befohlen hatte, und erfuhr, daß Hitler verantwortlich war. Da meinte der Hauptmann, daß sich nur noch »Fallen im Krieg, Fahnenflucht oder Rebellion« mit der Offiziersehre vereinbaren ließ.20 Er stellte sich dem Widerstand zur Verfügung und war bereit, bei einer Vorführung neuer Uniformen Hitler und sich selbst mit einer versteckten Sprengladung zu töten. Hitler vertagte die Vorführung, Bussche mußte wieder zu seinem Bataillon an der Ostfront, wo er bald darauf schwer verwundet wurde. So schied er für jedes weitere Unternehmen aus, nahm aber Hitlers Ritterkreuz an, »dankbar in dem Bewußtsein«, wie er erklärte, »zwischen Hoch- und Landesverrat wohl unterschieden« zu haben.21 Ehlers berichtet zutreffend vom deutschen Widerstand:22 »… Im Staat einer totalitären Gewaltherrschaft war ein Staatsstreich nur denkbar in Verbindung mit Waffengewalt. Waffenträger im >Dritten Reich< war in erster Linie das Militär. Auf die Militärfronde hatten darum auch die Zivilisten der Verschwörung ihre ganze Hoffnung gesetzt.« Wie haben sich die wehrlosen Juden ohne Waffen verhalten, die während des polnischen Feldzugs im September 1939 nicht mehr ostwärts haben flüchten können? Bald nach seinem Ende begann man, in großen Transporten sie in das »Generalgouvernement«, also tiefer hinein nach Polen, abzuschieben. Ein Erlaß Himmlers von Ende November 1939 bestimmte für aus Polen nach den jetzt in das Reich eingegliederten Ostgebieten ausgewiesene, illegal aber wieder eingereiste Personen, Juden und Polen, die sich »entgegen dem Umsiedlungsbefehl auf dem Gebiet des Deutschen Reiches … aufhalten, … sofort standrechtlich zu erschießen«.23 Dieser Befehl mußte den verantwortlichen Judenältesten noch bestehender Gemeinden in Posen mündlich übermittelt werden. Wie »umgesiedelt« wurde, verraten Vortragsnotizen für den Oberbefehlshaber des Heeres vom 15. Februar 1940:24 »… Kurz, vor Weihnachten sollten 1600 Juden aus Nazielek ausgewiesen werden. Die Polizei sperrte alle in Synagogen und verprügelte sie dort mit Hundepeitschen. Einige wurden neben der Synagoge gleich erschossen. Als man den großen Teil am nächsten Morgen zum Bahnhof brachte, wurde sie mit Peitschenhieben durch eine besondere Schmutzstelle getrieben, welche als >Rotes Meer< bezeichnet wurde.« Ein Lagebericht der Gestapo in Lodsch (damals Litzmannstadt) aus dem Jahre 1942 berichtet über die Evakuierung der Juden aus Pabianice, die größtenteils in das Vernichtungslager Chelmno geschafft wurden:25 »… Da den Juden des Bezirks natürlicherweise die Aussiedlung bekannt geworden war, versuchten sie durch Verschiebungen von Vermögenswerten, Flucht in das Generalgouvernement und überhaupt weitestgehende Nichtbefolgung der behördlichen Anordnungen die Aussiedlung zu stören. Aus diesem Grunde wurden … beim Reichssicherheitshauptamt schärfste Maßnahmen gegen die Juden beantragt und vom Reichsführer SS mehrfach Exekutionen … angeordnet. So wurden hier insgesamt 95 Juden öffentlich gehängt. Diese Maßnahmen hatten zur Folge, daß der Jude das hiesige scharfe Durchgreifen erkannte und sich nunmehr im Großen und Ganzen allen Anordnungen ruhig fügte.« Leisteten die Juden lammfromm oder gar feig keinen Widerstand? Welche Verfälschung der Tatsachen wäre eine solche ehrabschneiderische Behauptung! Vermögensraub und Verschleppung zur Zwangsarbeit oder in den Tod bedeuteten die »behördlichen Anordnungen«, denen sich die nicht ganz ahnungslos ihrem Schicksal unterworfenen Unglücklichen durch »weitestgehende Nichtbefolgung« zu entziehen trachteten. Das ausgelieferte Opfer »störte«, wenn es sich nicht schlachten lassen wollte. Sich in geduldiger Sanftmut seinem Untergang zu fügen, ist jenseits der ergreifenden Alternative, der Bethge im Hinblick auf die nicht mehr abwendbare Selbstaufopferung Dietrich Bonhoeffers die bleibende Prägung »Widerstand und Ergebung« zuerteilt hat, meist ein Allerletztes und hat mit Feigheit nichts gemein. 95 Juden wurden öffentlich gehängt, bevor »der Jude das hiesige scharfe Durchgreifen erkannte«. Der Widerstand war gebrochen, er hatte keinen Sinn mehr. Wenn ein totalitäres Regime seinen Terror so anwendet wie der Nationalsozialismus gegen die Juden oder die Insassen der Konzentrationslager, können gemeinhin die Verfolgten keinen Widerstand mehr entgegensetzen: jeder Ansatz wird im Keim geknickt.
Es liegt nahe, daß der im günstigsten Fall tragische Versuch des »Verhütens von Ärgerem«, der sich im totalitären Staat durch die Geschichte des Widerstandes hinzieht und oft weniger zu ihm als zur Kollaboration mit den Repräsentanten der argen Macht beiträgt, unter dem Nationalsozialismus sich in äußerster Not jüdischen Funktionären als Zuflucht aufgedrängt hat, ja ihnen sogar aufgezwungen wurde. Oft waren sie in ihrem Amt bereits tätig, bevor die Verfolger Kapitalverbrechen planten, zu deren Vorbereitung sie wiederholt die terrorisierten und zunächst auch noch das ganze Unheil kaum durchschauenden Funktionäre nötigten. Eine Anordnung vom 24. November 1939 über »die Heranziehung der jüdischen Ältestenräte bei der Evakuierung von Juden« in Posen war der erste Auftrag an nominell autonome jüdische Selbstverwaltungskörper zur Beihilfe bei der Deportation anläßlich der vollständigen Räumung jüdischer Gemeinden.26 Ging es dabei auch noch um keine Ausrottung im Sinne der nationalsozialistischen »Endlösung der Judenfrage«, so stellte sich hier doch erstmalig das Problem der angeblichen »jüdischen Selbstvernichtung« durch das Mitwirken ihrer eigenen doch zur Wohlfahrt und nicht zum Verderben der Gemeinden bestimmten Organe.
Wie immer Ältestenräte sich im einzelnen verhalten haben und unabhängig von jeder persönlichen Schuld oder Unschuld bei ihren Handlungen oder Unterlassungen, wird hier von kenntnislos, wenn schon nicht böswillig anklagenden Beurteilern übersehen, daß die Dynamik der Ereignisse die Mitarbeit unausweichlicher erzwungen hat als für die meistens einen »Befehlsnotstand« behauptenden nichtjüdischen Täter, so daß – verhängnisvoll oder nicht – das Wirken der jüdischen Befehlsempfänger kein Ergebnis sittlich positiv oder negativ zu beurteilender Entscheidungen gewesen ist oder auch nur sein konnte. Seinem Auftrag zu entrinnen – durch Flucht, Selbstmord oder selbst Ungehorsam -, war keineswegs schon an sich wertvoll; solche Entschlüsse lassen sich nicht ohne weiteres billigen oder verdammen. Wer die unleidliche Not eines Befehlsempfängers unter diesen Umständen begreifen will, muß zuerst den erlittenen Terror begreifen. Dieser Terror ließ ihm gerade in den verhängnisvollsten Augenblicken keine Zeit, also auch keine Besinnungsfreiheit. Er war nicht mehr Herr seiner Entschlüsse. Was immer er tat, nämlich in dieser einen einzigen Eigenschaft tat, war nicht mehr er als Person, sondern nur noch aufdiktierte unpersönliche Funktion, für die es keine Verantwortung mehr gibt. Drohung, Druck, Erpressung, Überredung und Versprechungen mit Lügenwerk stürmten grell gemischt auf den Befehlsempfänger ein. Ließ sich der Machthaber, etwa aus taktischen Gründen, von ihm Konzessionen abringen, so taugten sie nichts, weil sie, kaum zugestanden, wieder zurückgezogen wurden. Handelte es sich etwa um ein Nachgeben in der Forderung von Opfern für die Deportation, so wurde der Gewinn bald durch noch höhere Forderungen entwertet. Meist aber war es bei einem solchen Befehl ohnedies zu spät für jedes Ausweichen, und die Katastrophe brach herein.
In einer solchen Lage findet aktiver Widerstand meist seine Grenzen und dann wird, wenn überhaupt noch Zeit bleibt, die »Verhütung von Ärgerem« zu einem legitimen Trachten. So wie es wirklich zuging, wurde dabei, was aber nicht mit Sicherheit vorherzusehen war, die Stellung des widerstrebenden Befehlsempfängers von Mal zu Mal geschwächt, dem nichts anderes übrigblieb, als seine Abwehr so zu kompromittieren, daß er die Anzahl der zu Rettenden verringerte, wobei er sich subjektiv nicht einmal minder mutig verhalten mußte als bisher. Jedesmal handelte er von der Pauschalforderung des Verderbers eine Anzahl ab, der in dem Wissen, in Wirklichkeit nichts eingeräumt zu haben, gelegentlich nachgab. Was er heute scheinbar bewilligt hat, ist morgen schon ungültig, da noch ganz anderes verlangt wird. So naht bald der Tag, an dem sich alles vollzieht, was der Verderber von Anbeginn beabsichtigt hat. Ein unbewaffneter Widerstand – und der allein war fast ausnahmslos hier denkbar – ist unter solchen Umständen praktisch unmöglich. Er wurde bereits in dem Augenblick illusorisch, als er gleichsam noch geübt wurde, denn in der unechten Partnerschaft von allmächtigen Befehlshabern und ohnmächtigen Befehlsempfängern war ihm der Boden entzogen. Wagten sich diese über ein geschmeidiges Bitten mit klugem Lavieren hinaus, das Fügsamkeit überzeugend vortäuschen mußte, so wurden sie vor jeder möglichen Konspiration zermalmt. Wenn der Funktionär der Ohnmächtigen nicht parierte, fand sich jederzeit für ihn sofort ein Ersatz. Gab es einmal aber keinen, so änderte sich trotzdem nichts, weil unverzüglich die Gestapo selbst einsprang und das Unheil womöglich noch grausamer inszenierte. Das hat sich wiederholt ereignet.
In Berlin, Wien und Prag, den Sitzen der für die Juden bestellten Sprecher und Befehlsempfänger der Gestapo im »Großdeutschen Reich« konnte es bei Beginn der Deportationen nicht einmal einen passiven, geschweige denn einen aktiven Widerstand geben, bestenfalls ein geschickt vorsichtiges Manövrieren (auf Versuche hin, die Transporte wenigstens zu verzögern, folgten sofort Exekutionen), aber auch kein Abdanken, keine Flucht vor der unheilvollen Aufgabe war möglich. Darum also ist zu unterscheiden, wo diese Männer persönlich sich sittlich bewährt und wo sie versagt haben – dies ist die eine Seite des Problems – und andererseits, wo sie, überrumpelt von der Fatalität ihrer Lage, im wörtlichen Sinn zu vermittelnden Handlangern bei einer Tätigkeit wurden, deren Ausübung keine Funktion ihres eigenen Willens mehr war. Vor den Deportationen in ihr Amt eingesetzt und als Wortführer für die jüdische Gemeinschaft hatten sie bei der Gestapo auch Erfolge aufzuweisen, die oft Lebensrettungen waren. So standen sie, als die Verschickung begann, in einem etablierten Gefüge, aus dem sie nicht mehr heraus konnten. Insofern verdienen sie Mitleid und keinen schmähenden Richtspruch, solange sie nur im Rahmen des über sie beschworenen Verhängnisses handelten und sich nicht, wie es mitunter geschah, dem Feinde als Werkzeug ausgeliefert hatten, womit die sittliche Integrität verloren war. Ein aktiver Widerstand, gar mit der Waffe in der Hand, die man zunächst besitzen muß, hatte an den meisten Orten nicht die geringste Aussicht für eine Entfaltung. Wo sich die bescheidensten Voraussetzungen für einen aktiven, konspirativen Widerstand der Juden schaffen ließen, ist er auch versucht worden, so – um nur einige der leuchtendsten Beispiele zu nennen – in Warschau, Bialystok, Wilna, Sobibor, Treblinka und sogar in Auschwitz. Dazu gehörten nicht nur Mut, unbeirrbare Entschlossenheit und fähige Organisatoren, sondern auch Konzentrationspunkte einer sei es noch so geringen materiellen Macht, ein Minimum von auswärtiger Unterstützung, von Schlupfwinkeln, ein wenig Zeit, eine Mindestanzahl von physisch geeigneten Menschen, möglichst auch Waffen und schließlich die letzte Verzweiflung einer sich des kaum entrinnbaren Unterganges bewußten geschlossenen Gruppe. Wer sich sogar schon unter nicht ganz so entsetzlichen Bedingungen zum Widerstand entschließt, braucht ein Ideal, dessen Impulsen er sich anvertraut. Nur wer seine Verbundenheit mit idealen Werten wahrt und standhaft bleibt, kann etwas vollbringen. Jedes offene Autbegehren gegen die SS war mit seltenen Ausnahmen in allen Zwangslagern und anderen vergleichbaren Lagen nahezu undenkbar. Deshalb haben die verantwortlichen Leiter von internen Widerstandsgruppen an solchen Orten einen Aufstand nahezu nie gewünscht und fast immer verhindert. Nur in äußerster Verzweiflung, wenn alles verloren schien, wich man davon ab. Hingegen zielte der Widerstand in einigen Lagern auf eine Verhinderung oder doch Verminderung des Massenmordes; gegen Kriegsende trachtete man auch, einer Räumung der Lager und der Massenhinrichtung der Insassen entgegenzuwirken. Eine zielbewußte Zusammenarbeit unter einer zentralen fähigen Leitung hatte hier gelegentlich Erfolge zu verzeichnen.
Jeder Widerstand ist im Verhältnis zur Situation zu bewerten, in der er sich verwirklicht. Auch noch in der äußersten Zwangslage, wenn der Widerstand als letzte und einzige Chance für eine persönliche Bewährung erscheint, bleibt er freiwillig. Über seine politische Bedeutung mag der Erfolg entscheiden; sein sittlicher Wert liegt auch dort in der Art seiner Bekundung, wo er nichts anderes mehr erzielt als die sittliche Leistung, die allein durch den Widerstand sich schon erfüllt.
Die bereits erwähnte Dr. Ella Lingens-Reiner, als Häftling Ärztin im Auschwitzer Krankenrevier, versuchte mit ihren jüdischen Kameradinnen jüdische Patientinnen vor der Gaskammer zu retten:27 »… Das Grauenhafte war, daß einer, der nicht wußte, was [die Selektion) bedeutete, genauso gut hätte glauben können: Da werden jetzt ganz Schwache aufgeschrieben, um in ein besseres Lager zu kommen … Die ganze Szene war so, daß nichts darauf hindeutete, was mit diesen Frauen geschehen wird. Die [SS-]Kommission spielte diese Rolle.
Wenn man kam und sagte: >Streichen Sie doch diese Frau, sie wird bestimmt wieder gesund!<, dann konnte es vorkommen, daß … der Lagerarzt Dr. Mengele … schrie: >Was, von der Frau wollen Sie behaupten, daß sie in drei Wochen wieder gesund ist? Ja, was sind Sie denn für ein Mensch? Die kann ja jahrelang nicht arbeiten …< – so daß zum Schluß die Ärztin dastand als jemand, der einen todkranken Menschen zwingen will zu arbeiten. Kein Mensch konnte den Mut haben zu sagen: Sie schreiben sie auf, um sie zu ermorden, und ich will sie davor bewahren.«
Was hier erstrebt wurde, setzte zwar einen festen Entschluß und einen erheblichen Mut voraus, ist aber dennoch weniger als aktiver und mehr als passiver Widerstand aufzufassen. Nun gibt es aber auch noch ein bloß als passiver Widerstand zu beurteilendes Verhalten, das abgesehen von seinem Ethos auch in seinen Handlungen einen hohen praktischen Wert gewinnt, weil es die vom Tod bedrohten Gefährten in schlimmsten Lagen aufrichtet und den Lebenswillen bestärkt. Elinor Lipper schildert in einem kaum bekannten großartigen Buch von 1950 »Elf Jahre in sowjetischen Gefängnissen und Lagern« die unerträglichen Zwangsarbeitslager von Kolyma im östlichsten Sibirien. Im Buch lernen wir eine fast 50 Jahre alte Moskauer Pädagogin Maria Nikolajewna M. kennen: »In diesem schwächlichen Körper … wohnte eine warme, un-bezwingliche menschliche Seele. Die Atmosphäre des Lagers mit seinem unbarmherzigen Gesetz des Hungers, der Grausamkeit und der Selbsterhaltung … nahm sie überhaupt nicht zur Kenntnis.« – »Unvergeßlich ist mir der Tag mit Maria Nikolajewna im tief verschneiten Wald, wo wir die hartgefrorenen Weidenruten brachen. … Bei minus 40 Grad langsam durch den Wald schreiten und Zweige pflücken – dabei erstarrt das Blut in den Adern, die erfrorenen Hände wollen sich nicht mehr krümmen, und in die schlechtgeschützten Füße schneidet der Frost wie mit Messern.« – »Die Norm mußte erfüllt werden, und bis die Dunkelheit hereinbrach, mußten zehn Bündel fertig sein.« – »… dann kam ihre Stimme zu mir herüber: Kennst du eigentlich Turgenjews Gedicht in Prosa >Wie schön, wie frisch waren die Rosen<? Ich verneinte. Wo die Frau die Wärme, die Stärke hernahm – ich weiß es nicht. Ich weiß nur, daß ich alles vergaß, damals im Wald, wenn auch plötzlich der Schnee von einem Zweig herunterrutschte und mir in den Nacken rieselte, denn auf einmal war der Schnee erfüllt vom Duft der Rosen, und die Worte Turgenjews, die sich in der Unendlichkeit des Waldes verloren, zogen einen Kreis um uns, den kein Elend der Welt mehr durchbrechen konnte. Als sie geendet hatte, ging ich zu ihr und umarmte sie. So lange wir Schönheit empfinden konnten … mitten im 4()grädigen Frost, der durch alle Poren auf uns eindrang, solange gab es nichts, was uns brechen konnte.« Hier wirkt noch ein Rettendes aus dem Geiste des Widerstandes an dessen äußersten Grenzen: hier kann der Mensch noch Mensch sein. Die äußerste Erniedrigung aber wird erreicht, wo der Mensch nicht mehr Mensch sein kann, daß nicht bloß der Widerstand, sondern sogar die Ergebung unmöglich wird. Davon berichtet ein unbekannter Auschwitzer Häftling:28 »Aus einem Lager brachte man eine Gruppe ausgehungerter … Juden. Sie zogen sich auf dem Hof aus. Zum Erschießen gingen sie einzeln. Sie flehten, man möge ihnen für den kurzen Augenblick, den sie noch zu leben hatten, ein Stück Brot geben. Man brachte viel Brot herbei. Ihre ermatteten und von entsetzlichem Hunger erloschenen Augen flammten in wildem Freudenrausch auf: mit beiden Händen ergriffen sie das Brotstück und verschlangen es gierig, während sie über die Stiege zum Erschießen gingen. Sie waren durch das erhaltene Brot so beglückt, daß sie den Tod viel leichter ertrugen. So konnten die Nazis die Menschen foltern und ihre Seelen beherrschen.«
Juden, die keinen Widerstand mehr leisten konnten und angesichts des sicheren Todes Ergebung zeigten, hat man diese [Ergebung] ungerecht als würdelos vorgeworfen, während sie mit Recht den Widerstandsopfern anderer Völker nachgerühmt wird. Der Häftlingsschreiber Pilecki schildert einen polnischen Kameraden in Auschwitz, dessen Fall dem Schicksal ungezählter Juden gleicht:29 »Ich habe mich immer gewundert, daß so viele Häftlinge, manchmal 100, manchmal sogar mehr … von ein paar SSlern erschossen wurden, ohne sich zu wehren…. Ich hatte einen Freund, der hieß Heliodor Salechni. … Im Herbst 1942 standen wir mit ihm auf der Häftlingsstraße … Plötzlich sahen wir 16-20 Häftlinge im Laufschritt… Daneben fuhr der SS-Oberscharführer Burger … mit dem Rad. Heliodor … sagte zu uns: >Ich kann nicht verstehen, daß die Leute wie die Schafe ganz ruhig zum Tode gehen. Sie wissen doch sowieso, daß sie in ein paar Minuten tot sein werden. Warum springen sie nicht auf ihn? Ich würde in einer solchen Lage wenigstens auf einen SSler springen und ihm den Hals durchbeißend« Zwei, drei Monate später kam Heliodor als fluchtverdächtig in den Bunker und wurde mit anderen nach ein paar Tagen zum Tode verurteilt. »Ich habe mit ihm … ein paar Minuten vor dem Tode gesprochen. Er hat, wie alle anderen vor ihm und nach ihm, sehr leise mit mir gesprochen. Er sagte, ich solle seine Freunde grüßen. Seiner Mutter soll man schreiben, daß er ein braver Kerl war bis zum Ende. Er hat sich so benommen wie alle, die zum Tod verurteilt waren. Alle waren sehr ruhig, als wären sie schon in einer anderen Welt.«
Zuletzt erfüllt sich der Widerstand in der Zeugenschaft für die Nachwelt. Wird er nicht mehr fortgesetzt aber sein Vermächtnis durch mündlichen oder schriftlichen Bericht weitergegeben, so daß die Nachricht bis in eine Zukunft überliefert wird, die den Ereignissen, um die es einst ging, schon entrückt ist, dann wirkt der Widerstand als ein Gedenken an Dereinst und bildet ein Gegenstück zu Bethges vierter Stufe der Widerstandsgrade: dem Vorbereiten eines Danach. Dafür steht beispielhaft Jankel Wiernik, ein jüdischer Sozialist ohne aktive politische Vergangenheit. Wiernik wurde im August 1942 in das Todeslager Treblinka deportiert und ahnte nicht, was ihm dort bevorstand. Er mußte bei der Leichenverbrennung der hier mit Kohlendioxyd erstickten Menschen mitwirken. In mühsamster und gefährlichster Kleinarbeit bereitete er mit Kameraden den heldenhaften Aufstand am 2. August 1943 vor. Das Lager wurde in Brand gesteckt und weitgehend zerstört. Zahlreiche Mannschaftsmitglieder, Deutsche und Ukrainer, wurden niedergemacht und manchen Häftlingen gelang die Flucht. Darunter Wiernik, dem Freunde einen Unterschlupfin den Wäldern versorgten, wo er seine Erlebnisse niederschrieb.
So beginnen Wierniks Aufzeichnungen:30 »Lieber Leser, Deinetwegen setze ich mein elendes Leben fort, das für mich alle Bedeutung verloren hat. Ständig, im Wachen wie im Schlafen, habe ich schreckliche Visionen und sehe tausende Leiber um Hilfe rufen, um Leben und Erbarmen bitten. Diese Alpträume gestatten mir keinen Augenblick Frieden oder Ruhe. Ständig jagen mich Phantome von Toten. Ich sehe Kinder, Kinder und wieder Kinder. Ich habe meine ganze Familie verloren, ich habe sie selbst zum Tode geleitet und ich selbst habe die Gaskammern gebaut, in denen sie ermordet worden sind. Heute bin ich ein einsamer Mann, ohne Familie, ohne Freunde, ohne ein Dach über meinem Kopf. Ich spreche zu mir selbst, ich fürchte mich vor jeder Sache. Wenn ich mich in einem Bach oder in einer Pfütze spiegle, ist mein Antlitz entstellt. Schaue ich wie ein Mensch aus? Nein, hundertmal nein! Bärtig, zerrauft, schmutzig, zerbrochen … Ich, der ich Zeuge der Vernichtung von drei Generationen war, muß für die Zukunft leben … Ich will mein Äußerstes tun, um euch alle diese Tatsachen zu vermitteln. Mögen Millionen Menschen erwachen durch die Leiden anderer Millionen, die zu Tode gequält wurden. Das ist der Sinn meines Lebens …«
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- 15 Vgl. E. Bethge, Adam von Trott und der deutsche Widerstand, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte, 11. Jahrg. Stuttgart 1963, 3 Heft, S. 213 ff. 221.
- 16 Darstellung entnommen aus einer unveröffentlichten Aufzeichnung von Frau Dr. Ella Lingens-Reiner.
- 17 E. Bethge, a.a.O., S. 221 f.
- 18 R. Angermair: Darf ein Tyrann getötet werden? Moraltheologisches Gutachten im Prozeß Remer, in: 20. Juli 1944, Hrsg. Bundeszentrale für politische Bildung Bonn, 2. Aufl., Bonn 1954.
- 19 D. Ehlers, a.a.O., S. 105.
- 20 D. Ehlers, a.a.O., S. 127.
- 21 D.Ehlers, a.a.O., S. 41.
Essays
- D. Ehlers, a.a.O., S. 174.
- Vgl. H. G. Adler, Der verwaltete Mensch, Studien zur Deportation der Juden aus Deutschland, Tübingen 1974, S. 114. Vgl. H. G. Adler, a.a.O., S. 114. Vgl. H. G. Adler, a.a.O., S. 122. Vgl. H. G. Adler, a.a.O., S. 114.
- Zitat E. Lingens-Reiner, Unveröffentlichte Rundfunksendung über Auschwitz von H. G. Adler und H. Langbein. Auschwitz, Zeugnisse und Berichte, Hrsg. H. G. Adler, H. Langbein, E. Lingens-Reiner, Frankfurt a. M. 1962, S. 96. Vgl. Anmerkung 27.
- Übersetzung aus J. Wiernik, A Year in Treblinka, American Representation, General Jewish Workers Union of Poland, New York [1943J.