Rabbiner in Deutschland: Lernen und Lehren

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Die Approbation („Smicha“) eines Lehrers und Richters mit der Verleihung des Titels „Rabbi“ erfolgte in der jüdischen Tradition ursprünglich durch Handauflegen: dadurch sollte der Schüler zum Teil einer von der Offenbarung am Sinai ununterbrochenen Traditionskette werden. Die Ordinationsformel lautet dabei seit alters her „Joreh? Joreh! Jadin? Jadin!“, „Soll er lehren? Er soll lehren! Soll er richten? Er soll richten!“…

Zur Entwicklung der Rabbinerausbildung in Deutschland
von Hartmut Bomhoff

Eine Rabbinerordinierung im heutigen Sinne gibt es erst seit der Institutionalisierung der Rabbinerausbildung Mitte des 19. Jahrhunderts, die im Wesentlichen auf den Appell Abraham Geigers (1810-1874) zurückgeht, eine jüdisch-theologische Fakultät als „dringendes Bedürfnis unserer Zeit“ einzurichten (1836). „Es hat sich Alles mehr nach den einzelnen Individualitäten, nach den Umständen gebildet“, beschrieb Geiger die damalige Situation. Tatsächlich lebte das vormoderne jüdische Bildungskonzept, wonach das Rabbinat keine Berufskarriere sein sollte, bis zu Geigers Zeit fort.

Seine Forderung nach einer verbindlich organisierten Verbindung von rabbinischen und akademischen Studien anstelle individueller und oft autodidaktischer Bildungswege bedeutete ein Umdenken. Das talmudische Studium stand traditionsgemäß entweder ganz im Dienste der religiösen Praxis („lo ha-talmud ha-ikkar, ella hama’asseh“, „nicht die Theorie, sondern die Praxis ist das Wesentliche“) oder war Selbstzweck („torah lishemah“), und wer einmal zum Rabbiner ordiniert war, durfte im Sinne einer Traditionskette wiederum Rabbiner ausbilden und diplomieren. Geiger selbst hatte sein Doktordiplom an der Universität Marburg erworben und sein Rabbinerzeugnis vom dortigen Rabbiner Moses Salomon Gosen erhalten.

Carsten Wilke hat dargestellt, wie die jungen Rabbiner Anfang des 19. Jahrhunderts, als die zyklisch reproduzierbaren Curricula der Talmudschüler an der herkömmlichen Jeschiwot nicht mehr genügten und bevor die Seminare in Breslau und Berlin neue anboten, die verschiedenen (Not-) Lösungen ihres Bildungsproblems durchlebten: Privatlektüre, Lateinstunden beim Ortspfarrer, Wanderungen zwischen jüdischen und akademischen Metropolen, Gründung von Studienkreisen zur gemeinsamen Talmudlektüre oder Schillerdeklamation, die neue Gewichtung alter rabbinischer Lehren und Philosophien, die bald zögernden, bald plötzlichen Konversionen von einem kulturellen oder ideologischen Standpunkt zum anderen.1 Es fehlte an einer Koordination der Bildungsgänge und Denkweisen von Jeschiwa und Universität: „Wenn doch einst ein jüdisches Seminar an einer Universität er richtet würde, wo Exegese, Homiletik und für jetzt noch Talmud und jüdische Geschichte in echt religiösem Geiste vorgetragen würde; es wäre die fruchtbarste und belehrendste Anstalt!“, forderte Geiger um 1830.2 Das Jüdisch-Theologische Seminar in Breslau und die Hochschule für die Wissenschaft des Judentums in Berlin Geigers Forderung nach einer verbindlich organisierten Verbindung von rabbinischen und akademischen Studien anstelle individueller und oft autodidaktischer Bildungswege bedeutete ein Umdenken. Einige Jahre später konstatierte Geiger, dass die herkömmliche Ausbildung in Form kritiklosen Talmudstudiums für die neue Zeit unzureichend sei, es den Gemeinderabbinern aber an Muße wie an zeitgenössischen Schriften fehle, um sich Wissen „im Geiste der jetzigen Bildung“ anzueignen; an den Universitäten wiederum werde angehenden Rabbinern nichts geboten, was sie auf ihren Beruf vorbereiten könnte. Die jüdisch-theologische Fakultät sollte die gleichen Aufgaben erfüllen wie eine christlich- theologische: sie sollte der Wissenschaft dienen und jüdische „Geistliche“ ausbilden.

Mit der Eröffnung des Breslauer Seminars am 10. August 1854 mit zehn Studenten wurde Geigers Appell nur teilweise umgesetzt. Sie war zwar ein entscheidender Schritt von der geringen organisatorischen Fixierung der Rabbinerausbildung hin zu ihrer institutionalisierten Form, gestattete Freiheit der Forschung nur bei strenger Wahrung der überlieferten Gebräuche des traditionellen Judentums („auf dem Boden des positiven historischen Judentums“). Der Direktor des Jüdisch-Theologische Seminars, der Dresdner Rabbiner Zacharias Frankel (1801– 1875), behandelte die rabbinische Tradition zwar als von Menschen gestaltete Überlieferung, nahm die Tora aber ganz aus dem Bereich historisch-kritischer Betrachtung heraus; er gilt als Begründer der „positiv-historischen“ Strömung innerhalb des deutschen Judentums. Das Seminar war, wie sein bayerischer Absolvent Jakob Immanuel Neubürger es 1868 ausdrückte, damals noch „die einzige Anstalt in Deutschland, an der alles dem Rabbiner Nöthige gleichzeitig und öffentlich gelehrt wird“.

Abraham Geigers Idee einer Kombination der Rabbinerausbildung mit einem Studium an einer wissenschaftlichen Hochschule konnte erst 1872 umgesetzt werden, als die Hochschule für die Wissenschaft des Judentums in Berlin eröffnet wurde, eine „neutrale Pflanzschule jüdischen Geistes“. Bereits der Titel „Hochschule“ drückt das Selbstbewusstsein aus, mit dem sich die Gründer in eine Reihe mit den Universitäten stellen. Die Hochschule war mit einem ‚Bildungsauftrag’ ausgestattet, ihr Ziel war es, eine religiöse Unterweisung anzubieten, die in der Lage war, die überkommenen subjektiven Bindungen an die Religion zu hinterfragen und eine objektivierte Wissenschaft daraus entstehen zu lassen. Sie wollte die jüdische Kultur in einem pluralistischen Umfeld zu entwickeln. Durch die Übernahme des bürgerlichen Ideals von Bildung revolutionierte die Hochschule damit das traditionelle Konzept jüdischen Lernens, wie es in Jeschiwot, den Talmudschulen, praktiziert wurde. Eindeutig erklärtes Ziel Geigers war „die Gleichberechtigung des Judentums mit den anderen Konfessionen.“ In Reaktion auf die Hochschule folgten bald weitere Seminargründungen, so 1873 das Rabbinerseminar für das orthodoxe Judentum unter der Leitung von Rabbiner Esriel Hildesheimer. Ziel dieses Hildesheimerschen Seminars als „Zentrum einer modern-orthodoxen Intelligenz“ war die „Rettung des thoratreuen Judentums in Deutschland“. Hildesheimer führte 1897 ein Dokument ein, das die Autorisation des Rabbinerdiploms für null und nichtig erklärte, falls der Empfänger des Diploms eine Rabbinerstelle in einer Orgel- oder Reformsynagoge annehmen sollte.

Das Hildesheimersche Seminar, das im November 1938 zur Schließung gezwungen wurde, legte besonderen Wert auf wissenschaftliche Éxzellenz und auf die Promotion seiner Absolventen. Dass andere orthodox ausgerichtete Gründungen zuvor weniger erfolgreich waren, hat der Historiker Mordechai Breuer am Beispiel der Rabbiner- Schule von Warschau deutlich gemacht: „Während der fast 40 Jahre ihres Bestehens hat keiner ihrer Absolventen eine Rabbinerstelle besetztweder fanden die Gemeinden sie nach ihrem Geschmack, noch hatten sie selbst den Wunsch, Rabbiner zu werden. Sie hatten die Anstalt nur deshalb besucht, weil es die einzige höhere Schule war, in der sie aufgenommen wurden.“

Das Selbstverständnis und Amt des akademisch gebildeten Gemeinderabbiners, so wie es sich in Mitteleuropa und den USA in der Folge der Aufklärung entwickelt hat, unterscheidet sich also grundsätzlich vom orthodoxen Ausbildungsweg, der ohnehin nicht auf eine Berufsausbildung zielt. An den orthodoxen Jeschiwot bekommt ein jeder, der ein gewisses Talmudpensum gelernt hat, eine Smicha zu exakt diesem Thema, die wiederum zum Unterricht allein darüber berechtigt. Diese Form der Ausbildung und Approbation hat im nichtorthodoxen Judentum keine Autorität. „Festigung des Judentums in seinem Facettenreichtum“ Die liberale Berliner Hochschule für die Wissenschaft des Judentums schrieb in jedem Fall Erfolgsgeschichte: Israels Staatspräsident Salman Shazar bezeichnete die Wissenschaft des Judentums als „die bedeutendste Gabe, die das deutsche Judentum dem Gesamtjudentum schenkt“.

Insgesamt sind mit 730 ordentlichen Studenten zwei bis drei Rabbinergenerationen durch diese Schule gegangen. Die Studienfächer, die die Studenten der Hochschule zur Promotion parallel an der Berliner Universität belegten, waren hauptsächlich Philosophie, Geschichte oder semitische Sprachen. „Voraussetzung für die Zulassung zur Abschlussprüfung war die Absolvierung des ganzen Studiums an der Hochschule, mindestens aber drei Semester, und der Nachweis einer wissenschaftlichen Vorbildung wie das Abitur. Das Kuratorium entschied über die Zulassung zur Prüfung. Es musste jeweils eine wissenschaftliche und eine talmudische Arbeit angefertigt werden. […] Hinzu kamen in verschiedenen Fächern schriftliche Prüfungen. Es konnten aus den vier Fächern Bibel/Hebräisch, jüdische Geschichte und Literatur, Religions philosophie/Ethik und Talmud zwei Prüfungsfächer gewählt werden.
Rabbinatsstudenten waren gehalten, das Fach Talmud zu wählen. […] Zum Abschluss erhielten die Absolventen ein deutsch verfasstes Diplom, das sie als Wissenschaftler oder Lehrer oder Prediger auswies. Es wurde vom gesamten Lehrerkollegium unterzeichnet. Legte der Student das Rabbinatsexamen ab, erhielt er eine hebräisch verfasste Lehrbefugnis und Ordination (Hatarat Hora’ah und Smicha). Der Professor für Talmud unterzeichnete diese in der Regel.“

Die letzte Rabbinerordination dürfte 1940 in Berlin erfolgt sein. Rabbiner Dr. Leo Baeck (1873-1956) unterrichtet bis zur gewaltsamen Schließung der Lehranstalt 1942 noch eine Handvoll von Schülern, darunter Ernst Ludwig Ehrlich (1921-2007).

Neuanfang

Aus dem Briefwechsel von Ehrlich und Baeck ergibt sich, dass bereits in den frühen 1950er Jahren kurz über die Wiedereinrichtung einer Ausbildungsstätte für Rabbiner in Westdeutschland nachgedacht wurde, dass es damals aber an Finanzierungsmöglichkeiten dafür fehlte. Als Ehrensenator des Abraham Geiger Kollegs an der Universität Potsdam und als Mitglied im Stiftungsrat der Leo Baeck Foundation lag Ernst Ludwig Ehrlich die Rabbinerausbildung in Deutschland besonders am Herzen: „Als letzter aktiver Schüler der letzten Generation der Lehranstalt spüre ich die tiefe Verpflichtung zu helfen, dass das Abraham Geiger Kolleg sich in einer Weise entwickeln kann, dass es in der Geschichte einmal als eine direkte Fortsetzung der Hochschule für die Wissenschaft des Judentums verstanden wird. Nur so wird es gelingen, den Tausenden von Juden, die in den letzten Jahrzehnten nach Deutschland gekommen sind, eine geistige jüdische Identität zu vermitteln, die ihnen bisher verwehrt war“, schrieb er 2006. Damals wurden erstmals nach der Schoa in Deutschland mit drei Absolventen des Abraham Geiger Kollegs in Dresden wieder Rabbiner ordiniert.

Abraham Geiger Kolleg

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