Heilung geschieht aus der Begegnung, von Mensch zu Mensch, vom Ich zum Du. Darin waren sich der Dialogphilosoph Martin Buber (1878-1965) und die Gründer der Gestalttherapie, einer Richtung der humanistischen Psychotherapie, einig. Laura Perls erklärt, dass das, was Buber „Begegnung“ nannte, in der Gestalttherapie „Kontakt“ heisst: „Die Wahrnehmung und Auseinandersetzung mit den Anderen als den Anderen“…
Bei Buber heisst es: „Zwischen Ich und Du steht keine Begrifflichkeit, kein Vorwissen und keine Phantasie“. So ist die Beziehung unmittelbar: „Zwischen Ich und Du steht kein Zweck, keine Gier und keine Vorwegnahme“.
WACHSTUM AUS DER BEGEGNUNG: EINE DIALOGISCHE PERSPEKTIVE
In einem Vorwort zum 1951 erschienenen Buch „Heilung aus der Begegnung“, des Psychotherapeuten Hans Trüb (1889-1949), schreibt Buber vom Wagnis, das ein Mensch eingeht, wenn er versucht, einen anderen Menschen zu heilen. Er weist auf die existentielle Situation des Helfers hin und beschreibt, wodurch diese entsteht und was sie fordert.
Anke und Erhard Doubrawa schreiben im Vorwort zu Cornelia Muths „Heilenden chassidischen Geschichten„, therapeutische Methoden und Techniken seien sekundär: Primär ist das Bemühen des Therapeuten, sich auf eine unverstellte Begegnung mit dem Klienten einzulassen, in Beziehung zu treten und sich von ihm berühren zu lassen.
Buber unterscheidet zwischen Ich-Es-Beziehung (das Gegenüber wird als Sache behandelt) und Ich-Du-Beziehung (dem Gegenüber wird als Subjekt begegnet). Im „heilenden Dialog“ erleben sich die Gesprächspartner gegenseitig als verantwortliche Subjekte.
Eine „heilende Berührung“ löst tiefe Gefühle aus – und zwar sowohl beim Klienten, als auch beim Therapeuten. Der amerikanische Psychotherapeut Len Bergantino spricht von „existenziellen Augenblicken“. Für ihn besitzen diese Momente eine spirituelle Dimension. Der humanistische Psychologe Abraham A. Maslow beschreibt solche Momente – auch bei Menschen, die sich gar nicht als religiös verstanden, die aber solche Momente der Aufhebung des Getrenntseins, Momente der Verbundenheit und des Dazugehörens, des Heilseins und Ganzseins, kannten.
Solche Momente beschreiben auch die Chassidim in Bubers Geschichten, denn das Thema des Eins-Seins ist zentral in der jüdischen Mystik, der Kabalah, auf die sich der Chassidismus beruft. So kommt das hebräische Wort für Frieden, „Schalom“, aus der Wurzel „schalem“, ganz, heil.
Wachstum entsteht aus integrierendem Kontakt und wird durch Einsicht und Gewahrsein getragen. Yontef sprach 1999 von einer „immer neuen Gestalt, die aus sich heraus heilend ist“. Wheeler (2006) bezieht sich auf Lewins existentielle Therapie, wenn er den „Akt der Wahrnehmung“ und den „problemlösenden Prozess“ gleichsetzt.
Krankheit ist für Buber, wenn sich etwas zwischen die Seele des Menschen und das Leben selbst, stellt. Es ist nicht der Mensch an sich, der krank ist. Wenn Buber sagt, der Mensch sei in seinem „Verhältnis zur Andersheit“ erkrankt, „verkapselt“, dann meint die Gestaltperspektive dasselbe, wenn der Mensch „keinen nährenden Kontakt mit seinen Mit-Menschen“ erlebt, weil „die Kreativität des Selbst dafür gehemmt ist“.
Die Heilung liegt in einem „gewandelten Verhältnis zur Andersheit“. „Die Strenge und Tiefe der menschlichen Individuation, das elementare Anderssein des Anderen, wird dann nicht bloß als notwendiger Ausgangspunkt zur Kenntnis genommen, sondern von Wesen zu Wesen bejaht. Einflußwille bedeutet dann nicht die Bestrebung, den anderen zu ändern, ihm meine eigne ‚Richtung‘ einzupfropfen, sondern die, das als richtig, als recht, als wahr Erkannte, das ja eben darum auch dort, in der Substanz des andern angelegt sein muss, dort eben durch meinen Einfluss, in der der Individuation angemessenen Gestalt aufkeimen und erwachsen zu lassen“ (1962). Jedes Mensch-Werden verläuft als einzigartiger Prozess.
Für die Psychotherapie ist das „Durchbrechen der Verkapselung“ Weg und Ziel. Dies geschieht im unmittelbaren Gegenübersein, in Wachheit und Wagemut. Ein solcher Weg verläuft für Martin Buber nicht gradlinig, sondern existentiell „auf paradoxem Grund“.
Im Mittelpunkt von Bubers „Chassidischen Geschichten“ stehen oft „begeisterte“ Helfer, die ihre Freude am Dasein einer erfüllten Gegenwart zeigen. Es handelt sich dabei „um eine Freude an der Welt, wie sie ist, am Leben, wie es ist, an jeder Stunde des Lebens in der Welt, wie diese Stunde ist“. Wie weit uns Menschen dies gelingt, hängt von der individuellen und momentanen Verkapselung ab, so Cornelia Muth in der Einleitung zu den „Heilenden chassidischen Geschichten„. Dr. phil. Cornelia Muth, geb. 1961, Gestalt- und Diplom-Pädagogin (Erwachsenenbildung), promovierte über Bubers Dialogphilosophie. Sie hat 23 chassidische Geschichten ausgewählt und diese in Bezug zur Gestalttherapie gestellt.
Auch Carl R. Rogers nahm in seinen Arbeiten immer wieder Bezug auf Bubers Dialogphilosophie und charakterisierte dessen „Heilung durch Begegnung“ als den Kern seiner Personzentrierten Gesprächspsychotherapie. Die persönliche Begegnung von Buber und Rogers und ihr öffentlicher Dialog im April 1957 zeigte, daß es sehr wohl Übereinstimmungen in ihren Auffassungen gab, aber auch Unterschiede. Dem vertieften Verständnis der beiden Ansätze widmet sich ein weiteres Buch (Wenk, 2008), das Gemeinsamkeiten und Differenzen auf den Grund gehen will.
Über Hans Trüb (1889-1949): Nachdem er eine Lehranalyse bei C.G. Jung durchgemacht hatte, wurde er einer dessen vertrauten Freunde. Etwa 1920 wurde er Präsident von Jungs „Psychologischem Club“ in Zürich. Aber schon wenige Jahre später (Herbst 1922) verließ er den Club und seinen Meister. Der Grund war sein Eindruck, dass die Analyse menschliche Beziehungen untergraben und Misstrauen und Angst voreinander gezüchtet habe; er meinte, es wäre ein irriger Glaube, dass die Analyse als solche menschliche Beziehung grundlegend stiften und erhalten könne. 1923 fiel ihm Martin Bubers Schrift „Ich und Du“ in die Hände, wenig später lernte er Buber persönlich kennen.
Das war die entscheidende Hilfe, sein Psychotherapiekonzept grundlegend weltbezogen und dialogisch zu fassen und zu gestalten.
Schon im Geleitwort für Hans Trübs Buch verwendet Buber das Bild des Abgrunds für die existentielle Herausforderung, die an den Psychotherapeuten herantritt und seine „geregelte Berufsausübung“, seine „zuverlässig funktionierende Aktionssicherheit“ zu gefährden droht. Er gehe dann „in die elementare Situation zwischen einem anrufenden und einem angerufenen Menschen ein. In Wahrheit ruft der Abgrund … den Abgrund an“ (S. 10).
Was heißt das, der Abgrund ruft den Abgrund an? Der Therapeut lässt sich nicht nur auf Vordergründiges, Bekanntes, was er gut einordnen und „behandeln“ kann, ein. Er lässt sich auffordern, den sicheren Boden zu verlassen, Neuland zu betreten, sich auf das einmalige Wagnis einer Begegnung mit einer so nie dagewesenen menschlichen Existenz, die selbst den Boden unter den Füßen verloren hat, einzulassen. Gefordert sind dann nicht nur die „durch Lehre und Übung errichteten Strukturen“, sondern das Ich selbst (als Bestandteil des Ich-Du-Verhältnisses), die „Selbstheit“ des Therapeuten, die unter diesen Strukturen verborgen ist – „selber vom Chaos umwittert“, „mit den Dämonien vertraut“, aber auch „mit der demütigenden Macht des Ringens und Überwindens“ „begnadet“ und so „bereit“, „immer neu so zu ringen und zu überwinden“.
Auch wenn der Therapeut danach aus dieser Krisis in seine Methodik zurückkehrt, wird er als ein Veränderter in eine modifizierte Methodik zurückkehren, „als einer nämlich, dem die Notwendigkeit aufgegangen ist, dass echt personhafte Begegnungen zwischen dem Hilfsbedürftigen und dem Helfer sich im Abgrund des Menschseins begeben …“. Dann wird auch
„das Ungewohnte, das den herrschenden Denkungsweisen Widerstrebende und den stets erneuten personhaften Einsatz Heischende“ seinen Platz finden (S. 11).
Damit bringt Buber den Grundzug des therapeutischen Ethos von Hans Trüb vielleicht besser zum Ausdruck als dieser selbst, der nur mühsam zum Schreiben kam, es vermochte. Dessen Buch ist über die Kritik an der tiefenpsychologischen Psychotherapie – vor allem C.G. Jungs – hinaus ein Plädoyer für ein „metapsychisches“, „anthropologisches Menschenbild“. Sein Personbegriff transzendiert die „Psyche“ der Tiefenpsychologie…
Aus „In Wahrheit ruft der Abgrund den Abgrund an, von Rudy Vandercruysse, geb. 1949 in Izegem (Belgien). Lic. Psychologie und Lic. Philosophie (Univ. Löwen). 1973-79 tätig als klinischer Psychologe in den Niederlanden. 1980 Mitbegründer und bis 1991 Mitarbeiter der Freien Volkshochschule auf anthroposophischer Basis in Antwerpen. Seit 1991 Mitarbeiter des Friedrich von Hardenberg Instituts in Heidelberg. 1997 Eröffnung einer psychologischen Praxis.
Publikationen u.a.: Die therapeutische Dimension des Denkens, Stuttgart 1999; Dialog als emotionale Herausforderung, Leben im Dialog. Perspektiven einer neuen Kultur…