Auf der Suche nach dem jüdischen Sathmar

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Die wilde Bautätigkeit in Bukarest sticht dem Neuankömmling ins Auge. Überall wird gebaut, nicht selten am Rande oder jenseits der Legalität. Wer es positiv sehen will, erkennt darin den Boom, die Dynamik, kreatives Chaos. Wer skeptisch ist, sieht Zügellosigkeit, Zerstörung und schiere Gier. Das Nebeneinander von alt, modern, kitschig, zerfallen, verspielt, von unterschiedlichen Stilen und Stillosem ist inspirierend und deprimierend zugleich…

Simon Geissbühler (in Spuren, die vergehen, Kap. 4.)

Neue Restaurants schiessen wie Pilze aus dem Boden, „alte“ verschwinden über Nacht. Und was heisst „alt“? Zwei Jahre, ein Jahr? Es gibt nur wenige Fixpunkte in dieser Stadt, wenig Moral. Das ist alles nicht schlimm. Alles fliesst, alles bewegt sich. Nichts ist unvereinbar, „Unverträglichkeit von Prinzipien kennt der Donaumensch nicht“ (Mihail Sebastian). Warum klagen? Es ist besser, sich mitreissen zu lassen.

Dieses Bukarest, das „moderne“, das fliessende, hat – wie alle Grossstädte Mittel- und Osteuropas – seine „Jüdischkeit“ fast ganz verloren. Rund 95’000 Juden sollen vor dem 2. Weltkrieg hier gelebt haben. Faschismus und Kommunismus haben das Judentum „liquidiert“. Zwar blieben die Juden in Bukarest – anders als ihre Glaubensbrüder in Nord-Transsylvanien, in der Bukowina, in Bessarabien und zum Teil auch in Moldawien – vom Holocaust fast ganz verschont, weil Marschall Ion Antonescu (1882-1946) seine Unabhängigkeit gegenüber Hitler-Deutschland beweisen wollte und ihm lebende Juden gegen Ende des Krieges mehr nützten als tote. Dass nur relativ wenige Juden aus dem rumänischen Altreich vernichtet wurden, dürfte aber auch das Verdienst von Personen wie Wilhelm Filderman (1882-1963), der umstrittene Vorsteher der jüdischen Gemeinden Rumäniens, Alexandru Safran (1910-2006), der junge charismatische Grossrabbiner von Rumänien, und ausländischer Diplomaten gewesen sein, die sich unermüdlich für das Los der rumänischen Juden eingesetzt hatten. In der Nachkriegszeit jedoch begann ein stetiger Strom jüdischer Auswanderung, der die jüdische Gemeinde in der rumänischen Hauptstadt auf unter 4’000 Personen schrumpfen liess.

Viel Jüdisches wurde in Bukarest in der faschistischen und der kommunistischen Periode zerstört oder „weggebaut“. Wahrend des 2. Weltkrieges wurde der alte jüdische Friedhof an der Sevastopol-Strasse „liquidiert“, der seit dem 17. Jahrhundert existiert hatte. Heute erinnert nichts mehr an den Friedhof, keine Erinnerungstafel, nichts. Hätte ich nicht zufällig einen Artikel von Emanuela Florea-Paraipan über die Zerstörung des jüdischen Friedhofs an der Sevastopol-Strasse gefunden, hätte ich wohl nie erfahren, dass kaum 300 Schritte von der heutigen Schweizer Botschaft entfernt ein jüdischer Friedhof war. Auf einem Stadtplan von 1938 finde ich den jüdischen Friedhof dann auch, und immerhin erinnert nun das im Oktober 2009 eingeweihte Holocaust-Monument in Bukarest an den Friedhof an der Sevastopol-Strasse.

Später, im Strudel der Ceausescu-Diktatur, wurden ganze Wohnquartiere dem Erdboden gleich gemacht, auch solche, wo traditionell viele Juden gewohnt hatten. Das (angebliche) „Paris des Ostens“ wurde in ein „Pyöngyang des Westens“ verwandelt. Die Malbim-Synagoge aus der Mitte des 19. Jahrhunderts, der „Grosse Spanische Tempel“ aus dem frühen 19. Jahrhundert, die Synagoge „Baron de Hirsch“, die Zissu- und die Fraterna-Synagoge an der Mamulari-Strasse und der Gaster-Tempel wurden allesamt 1986/87 im Zuge der megalomanen städtebaulichen „Systematisierung“ Ceausescus in der Umgebung des heutigen Unirii-Platzes demoliert. Auch weitere Synagogen wurden in dieser Zeit, kurz vor der so genannten Revolution von 1989, zerstört.
Mit einem alten Stadtplan und zwei neuen Karten Bukarests gleiche ich Strassennamen ab und versuche, die Standorte der Synagogen zu bestimmen. Dann mache ich mich auf die Spurensuche. Dort, wo etliche der zerstörten Synagogen standen, sind nun der Unirii-Boulevard mit seinen eintönigen Wohnhäusern und das Unirii Shopping Center. Nirgends sehe ich eine Gedenktafel. Ich treffe nur auf eine dumpfe Ignoranz, eine kollektive Amnesie, die mich richtiggehend physisch schmerzt. Die „Grosse Synagoge“ steht zwar noch, aber sie ist von drei Seiten „ummauert“ von Wohnblocks. Die Synagoge an der Mosilor-Strasse ist keine Synagoge mehr, sondern ein Lagerhaus.


Abb. u.a. die „Grosse Synagoge“, Bukarest

Die Suche nach Sathmar

Das Sathmar, dem ich nachspüren will, ist das jüdische. Ich bin – ich habe es schon geschrieben – eine Art Archäologe des jüdischen Rumäniens geworden. Alles begann mit meinem „alten“ Interesse für die Geschichte der Juden in Osteuropa und zwei „neuen“ Zufällen. (Falls man an den Zufall glaubt). Der erste Zufall war, dass die Heimat der Bukarester Krähen ein jüdischer Friedhof war, der meine Aufmerksamkeit auf sich zog. Der zweite Zufall war, dass ich bei meiner ersten Reise durch die Bukowina im Herbst 2008 die grossartige Synagoge in Radautz und die einzigartigen jüdischen Friedhöfe von Siret entdeckte. Mich verblüffte, dass diese Zeugnisse einer blühenden jüdischen Vergangenheit nahezu unbekannt sind und dem Reisenden auch nicht näher gebracht werden. Mein Reiseführer beispielsweise enthielt keine einzige Referenz zu einer Synagoge oder einem jüdischen Friedhof in der Bukowina, und auch in anderen Reiseführern, die ich später konsultierte, gab es kaum oder gar keine entsprechenden Hinweise. Dies erstaunte mich auch deshalb, weil die jüdische Geschichte der Bukowina insgesamt relativ gut dokumentiert ist. Nur scheint sich niemand für die jüdischen Friedhöfe zu interessieren. Da entschied ich mich, mein eigenes Buch zu schreiben. „Jüdische Friedhöfe der Bukowina. Ein Bilderbuch für Touristen und gegen das Vergessen“ erschien Ende Juni 2009.

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SPUREN, DIE VERGEHEN

Simon Geissbühler: Spuren, die vergehen – auf der Suche nach dem jüdischen Sathmar/Satu Mare

Der Autor, geboren 1973, ist Historiker und promovierter Politologe, seit 2000 Diplomat und seit 2007 1. Mitarbeiter der Schweizer Botschaft in Bukarest. Er beschäftigt sich vor allem mit dem jüdischen Leben in Rumänien und der Ukraine und hat bereits mehrere Bücher dazu veröffentlicht.